Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen

Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen

24. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Muslimin M arbeitet seit Jahren ohne negative Vorkommnisse als Sachbearbeiterin in der Verwaltung der hessischen Stadt S und tritt dabei nach außen auf. Nach einem Vorgesetztenwechsel beantragt sie, ihr Kopftuch weiterhin im Dienst tragen zu dürfen. Der Antrag wird mit Verweis auf § 45 des Hessischen Beamtengesetzes per Bescheid abgelehnt.

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Einordnung des Falls

Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Dass M ihr Kopftuch sowohl privat als auch am Arbeitsplatz tragen möchte, fällt in den Schutzbereich ihrer Glaubensfreiheit.

Ja!

Teil des forum externum der Glaubensfreiheit sind die Bekenntnis- und Betätigungsfreiheit. Die Bekenntnisfreiheit umfasst die Freiheit des Einzelnen, seinen Glauben im Wege religiös geprägter Meinungsäußerung nach außen kundzutun. Ein solches Bekenntnis kann in Wort, Schrift und symbolisch im öffentlichen sowie privaten Raum erfolgen.Dass M ihren Glauben durch das Befolgen religiöser Kleidungsvorschriften sowohl privat als auch öffentlich nach außen kundtut, fällt in den Schutzbereich ihrer Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG).
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2. Die Ablehnung von Ms Antrag per Bescheid ist ein Realakt und kann daher nur unter den modernen Eingriffsbegriff subsumiert werden.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der klassische Eingriffsbegriff meint jede Beeinträchtigung, die final und unmittelbar, durch einen staatlichen Rechtsakt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt. Dabei sind neben Gesetzen und Verordnungen auch Verwaltungsakte als Rechtsakt zu klassifizieren. Demgegenüber stehen Realakte, welche gerade nicht auf einen Rechtserfolg, sondern vielmehr auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtet sind. (sog. „tatsächliches Verwaltungshandeln“). Diese sind nicht vom klassischen Eingriffsbegriff erfasst. Die Ablehnung von Ms Antrag erfolgt per Bescheid, der gerade kein tatsächliches Verwaltungshandeln darstellt. Vielmehr stellt die behördliche Ablehnung durch den Bescheid einen verbindlichen Rechtsakt dar, der alle Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt.

3. Die Glaubensfreiheit der M ist durch konkurrierendes Verfassungsrecht einschränkbar. Diese Einschränkung muss jedoch auf Grundlage eines formellen Gesetzes erfolgen.

Ja, in der Tat!

Aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes bedarf jeder Grundrechtseingriff einer parlamentsgesetzlichen Rechtsgrundlage. Jede Einschränkung der Glaubensfreiheit, die zwar durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann, muss somit trotzdem auf einem hinreichend bestimmten formellen Gesetz, wie § 45 des Hessischen Beamtengesetzes, basieren.

4. Zur Rechtfertigung des Eingriffs kommen als widerstreitende Schutzgüter die negative Glaubensfreiheit von Ms Kunden sowie das staatliche Neutralitätsgebot in Betracht.

Ja!

Die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lässt sich als vorbehaltloses Grundrecht ausschließlich durch verfassungsimmanente Schranken konkurrierenden Verfassungsrechts einschränken. Hierzu zählen Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang. Die freie Ausübung des eigenen Glaubens in der Öffentlichkeit oder im staatlichen Kontext kollidieren regelmäßig mit dem Grundrecht auf negative Glaubensfreiheit, ebenfalls von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt, und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der staatlichen Neutralität. Diese kommen als widerstreitende Schutzgüter zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Glaubensfreiheit in Betracht.

5. Im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit hat das abstrakt gewichtigere Schutzgut ohne Abwägung im Einzelfall stets Vorrang.

Nein, das ist nicht der Fall!

Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit gilt wie bei allen anderen Grundrechten auch, die widerstreitenden Schutzgüter durch eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall in einen möglichst schonenden und gerechten Ausgleich zu bringen. Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz müssen die widerstreitenden Positionen so in einen Ausgleich gebracht werden, dass beide Positionen jeweils ihre größtmögliche Geltung entfalten. In die Abwägung darf natürlich einfließen, welches Rechtsgut abstrakt die gewichtigere Position innehält. Eine solche ersetzt jedoch niemals die Abwägung im Einzelfall, sondern stellt lediglich einen Aspekt der Abwägung dar!

6. Der Eingriff in Ms Glaubensfreiheit ist nach eingehender Abwägung der Positionen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Ja, in der Tat!

Der Glaubensfreiheit muss bei der Abwägung der widerstreitenden Positionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu größtmöglicher Geltung verholfen werden. Die Rechtsprechung betont, dass die einschränkende Norm (§ 45 HBG) dafür stets einschränkend im Lichte der Glaubensfreiheit ausgelegt werden muss. Dies schreibt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Wird ein Kopftuch im Dienst getragen und besteht dadurch keine konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder die Grundrechte Dritter, ist ein pauschales Verbot nicht zu rechtfertigen. Vielmehr ist dafür eine konkrete Gefahr für widerstreitende Schutzgüter notwendig. Die Interaktion mit Publikumsverkehr allein reicht nicht aus, um eine konkrete Gefahr zu begründen. M arbeitet bereits seit Jahren ohne negative Vorkommnisse als Sachbearbeiterin mit Kundenkontakt nach außen in der Verwaltung. Vom Kopftuchtragen der M im Dienst geht somit keine konkrete Gefahr für widerstreitende Verfassungsgüter aus. Die pauschale Ablehnung des Antrags ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

7. Ein Anspruch auf Erlass eines positiven Bescheids durch die Behörde ergibt sich für M aus ihrer Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG).

Ja!

Die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beinhaltet neben ihrem Charakter als klassisches Abwehrrecht auch eine entsprechende staatliche Schutzpflicht. Diese verpflichtet den Staat, dem Einzelnen einen Betätigungsraum für die Entwicklung seiner Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern und ihn vor Angriffen oder Behinderungen zu schützen. Im Ausnahmefall begründet die Glaubensfreiheit auch Leistungsansprüche, unter anderem bei der Ausgestaltung von Sonderstatusverhältnissen. Da M sich auf ihre Glaubensfreiheit im Rahmen der Ausgestaltung ihres öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisses beruft, begründet Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einen Anspruch auf den Erlass eines positiven Bescheids zum Tragen ihres Kopftuchs.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JURA

Jurasöhnchen

23.9.2024, 11:20:25

Im Erklärungstext wird noch abgelehnt, das es sich bei dem Bescheid der

Behörde

um einen klassischen Eingriff handelt; in der Subsumtion wiederum wird dies bejaht: "Die Ablehnung von Ms Antrag erfolgt per Bescheid, der gerade kein tatsächliches Verwaltungshandeln darstellt. Vielmehr stellt die behördliche Ablehnung durch den Bescheid einen verbindlichen Rechtsakt dar, der alle Merkmale des klassischen

Eingriffsbegriff

s erfüllt." Was ist denn nun richtig?

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

23.9.2024, 15:14:17

Hallo @[Jurasöhnchen](228292), danke für deine Anmerkung. Die Frage war hier zwar fies gestellt, die Aufgabe ist allerdings richtig. Die Aussage: „Die Ablehnung von Ms Antrag per Bescheid stellt als

Realakt

einen klassischen Eingriff in den Schutzbereich von Ms Glaubensfreiheit dar.“ ist falsch, da der Bescheid kein

Realakt

, sondern ein Verwaltungsakt ist. Dieser ist – im Gegensatz zum reinen Realhandeln – unter den klassischen

Eingriffsbegriff

zu subsumieren (so auch der Erklärungstext). Die Subsumtion stellt dann fest, dass es sich nicht um rein tatsächliches Verwaltungshandeln (=

Realakt

) handelt und bejaht entsprechend die klassischen Eingriff. Ich habe die Frage jetzt etwas umformuliert, um zukünftige Verwirrungen zu vermeiden. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

JURA

Jurasöhnchen

24.9.2024, 10:53:56

Ah okay, danke für die Erklärung! Ihr seid super!

AME

Amelie7

19.10.2024, 09:42:20

Würde sich hier also jemand der regelmäßig mit M in Kontakt steht in seiner negativen Glaubensfreiheit verletzt fühlen sähe die Antwort anders aus? Siehe Kruzifix-Fall?

David S.

David S.

5.11.2024, 18:05:54

Ich habe es so verstanden, dass die negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht davor schützt, mit einem fremden Glauben konfrontiert zu werden. Eine Ausnahme würde nur in einer vom Staat geschaffenen Lage gelten, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens ausgesetzt wäre. Angenommen wird diese Ausnahme z.B. bei Gerichtsverhandlungen, da sich der Angeklagte dort der vom Staat geschaffenen Lage nicht entziehen kann. In dem vorliegenden Fall finde ich es sehr schwierig zu dem Schluss zu kommen, dass die Ausnahme einschlägig ist. Sollte ich da etwas falsch verstanden haben, klärt mich gerne auf :)

rubenrubenruben

rubenrubenruben

6.11.2024, 10:09:59

Ist durch den negativen Schutzbereich ausdrücklich nicht vor Konfrontation mit Religion geschützt? Ich kann hier nicht ganz verstehen, warum hier als widerstreitendes Verfassungsrecht, das der Kunden angeführt wird. Ist die Erklärung hier, dass die Konfrontation zwingenden Charakter annimmt?

JUDI

judith

13.11.2024, 18:03:51

Ich weiß nicht so recht, was du genau meinst. Die negative Glaubensfreiheit gewährleistet auf jeden Fall keinen Schutz davor, mit fremden Glaubensbezeugungen konfrontiert zu werden. Sydow hat das in Dreier GG, 4. Aufl. 2023, GG Art. 4 Rn. 142f. ganz gut formuliert: „Grundrechte können in einer pluralistischen Gesellschaft kein Recht darauf gewähren, anderen die Ausübung ihrer Grundrechte zu untersagen. Was der jeweilige Grundrechtsträger für sich selbst für richtig erachtet, kann er nicht – vermittelt über Grundrechtswirkungen in Dreieckskonstellationen – zur Vorgabe für andere machen.“

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

14.11.2024, 13:51:09

Hallo @[rubenrubenruben](244746), ich kann mich @judith nur anschließen: Die Öffentlichkeit ist eben kein religionsfreier Raum und ich kann auch vom Staat nicht verlangen, dass er ihn zu einem macht (Dreier/Sydow, GG, 4. Aufl 2023, Art 4 Rn 143). Und warum sollten wir hier zur Rechtfertigung nicht (auch) auf die Kunden abstellen können? Es geht eben um eine Abwägung der Beteiligten/Betroffenen und ihrer jeweils tangierten Grundrechte. Man wird dabei sicher berücksichtigen können, dass es sich ggü dem Staat regelmäßig um eine "zwangsweise" Konfrontation in dem Sinne handelt, dass es für die Kunden unumgänglich sein kann, mit eben dieser ihnen zugewiesenen Sachbearbeiterin zu kommunizieren (anders als zB in der freien Wirtschaft mit m

ehre

ren Geschäften mit vergleichbaren Angeboten, wobei dort die Grundrechte natürlich nicht unmittelbar gelten). Das VG Kassel stellt in der zugrunde liegenden Entscheidung zB wörtlich auf die fehlenden "Ausweichmöglichkeiten" ab (VG Kassel, Urt v 28.2.2018 - 1 K 2514/17.KS, BeckRS 2018, 7597, Rn 26). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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