Öffentliches Recht
Grundrechte
Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)
Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen
Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Muslimin M arbeitet seit Jahren ohne negative Vorkommnisse als Sachbearbeiterin in der Verwaltung der hessischen Stadt S und tritt dabei nach außen auf. Nach einem Vorgesetztenwechsel beantragt sie, ihr Kopftuch weiterhin im Dienst tragen zu dürfen. Der Antrag wird mit Verweis auf § 45 des Hessischen Beamtengesetzes per Bescheid abgelehnt.
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Einordnung des Falls
Kopftuch 1: Sachbearbeiterin in Behörde mit Auftreten nach Außen
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Dass M ihr Kopftuch sowohl privat als auch am Arbeitsplatz tragen möchte, fällt in den Schutzbereich ihrer Glaubensfreiheit.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Ablehnung von Ms Antrag per Bescheid ist ein Realakt und kann daher nur unter den modernen Eingriffsbegriff subsumiert werden.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Die Glaubensfreiheit der M ist durch konkurrierendes Verfassungsrecht einschränkbar. Diese Einschränkung muss jedoch auf Grundlage eines formellen Gesetzes erfolgen.
Ja, in der Tat!
4. Zur Rechtfertigung des Eingriffs kommen als widerstreitende Schutzgüter die negative Glaubensfreiheit von Ms Kunden sowie das staatliche Neutralitätsgebot in Betracht.
Ja!
5. Im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit hat das abstrakt gewichtigere Schutzgut ohne Abwägung im Einzelfall stets Vorrang.
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Der Eingriff in Ms Glaubensfreiheit ist nach eingehender Abwägung der Positionen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Ja, in der Tat!
7. Ein Anspruch auf Erlass eines positiven Bescheids durch die Behörde ergibt sich für M aus ihrer Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG).
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Jurasöhnchen
23.9.2024, 11:20:25
Im Erklärungstext wird noch abgelehnt, das es sich bei dem Bescheid der
Behördeum einen klassischen Eingriff handelt; in der Subsumtion wiederum wird dies bejaht: "Die Ablehnung von Ms Antrag erfolgt per Bescheid, der gerade kein tatsächliches Verwaltungshandeln darstellt. Vielmehr stellt die behördliche Ablehnung durch den Bescheid einen verbindlichen Rechtsakt dar, der alle Merkmale des klassischen
Eingriffsbegriffs erfüllt." Was ist denn nun richtig?
Linne_Karlotta_
23.9.2024, 15:14:17
Hallo @[Jurasöhnchen](228292), danke für deine Anmerkung. Die Frage war hier zwar fies gestellt, die Aufgabe ist allerdings richtig. Die Aussage: „Die Ablehnung von Ms Antrag per Bescheid stellt als
Realakteinen klassischen Eingriff in den Schutzbereich von Ms Glaubensfreiheit dar.“ ist falsch, da der Bescheid kein
Realakt, sondern ein Verwaltungsakt ist. Dieser ist – im Gegensatz zum reinen Realhandeln – unter den klassischen
Eingriffsbegriffzu subsumieren (so auch der Erklärungstext). Die Subsumtion stellt dann fest, dass es sich nicht um rein tatsächliches Verwaltungshandeln (=
Realakt) handelt und bejaht entsprechend die klassischen Eingriff. Ich habe die Frage jetzt etwas umformuliert, um zukünftige Verwirrungen zu vermeiden. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team
Jurasöhnchen
24.9.2024, 10:53:56
Ah okay, danke für die Erklärung! Ihr seid super!
Amelie7
19.10.2024, 09:42:20
Würde sich hier also jemand der regelmäßig mit M in Kontakt steht in seiner negativen Glaubensfreiheit verletzt fühlen sähe die Antwort anders aus? Siehe Kruzifix-Fall?
David S.
5.11.2024, 18:05:54
Ich habe es so verstanden, dass die negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht davor schützt, mit einem fremden Glauben konfrontiert zu werden. Eine Ausnahme würde nur in einer vom Staat geschaffenen Lage gelten, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens ausgesetzt wäre. Angenommen wird diese Ausnahme z.B. bei Gerichtsverhandlungen, da sich der Angeklagte dort der vom Staat geschaffenen Lage nicht entziehen kann. In dem vorliegenden Fall finde ich es sehr schwierig zu dem Schluss zu kommen, dass die Ausnahme einschlägig ist. Sollte ich da etwas falsch verstanden haben, klärt mich gerne auf :)
rubenrubenruben
6.11.2024, 10:09:59
Ist durch den negativen Schutzbereich ausdrücklich nicht vor Konfrontation mit Religion geschützt? Ich kann hier nicht ganz verstehen, warum hier als widerstreitendes Verfassungsrecht, das der Kunden angeführt wird. Ist die Erklärung hier, dass die Konfrontation zwingenden Charakter annimmt?
judith
13.11.2024, 18:03:51
Ich weiß nicht so recht, was du genau meinst. Die negative Glaubensfreiheit gewährleistet auf jeden Fall keinen Schutz davor, mit fremden Glaubensbezeugungen konfrontiert zu werden. Sydow hat das in Dreier GG, 4. Aufl. 2023, GG Art. 4 Rn. 142f. ganz gut formuliert: „Grundrechte können in einer pluralistischen Gesellschaft kein Recht darauf gewähren, anderen die Ausübung ihrer Grundrechte zu untersagen. Was der jeweilige Grundrechtsträger für sich selbst für richtig erachtet, kann er nicht – vermittelt über Grundrechtswirkungen in Dreieckskonstellationen – zur Vorgabe für andere machen.“
Sebastian Schmitt
14.11.2024, 13:51:09
Hallo @[rubenrubenruben](244746), ich kann mich @judith nur anschließen: Die Öffentlichkeit ist eben kein religionsfreier Raum und ich kann auch vom Staat nicht verlangen, dass er ihn zu einem macht (Dreier/Sydow, GG, 4. Aufl 2023, Art 4 Rn 143). Und warum sollten wir hier zur Rechtfertigung nicht (auch) auf die Kunden abstellen können? Es geht eben um eine Abwägung der Beteiligten/Betroffenen und ihrer jeweils tangierten Grundrechte. Man wird dabei sicher berücksichtigen können, dass es sich ggü dem Staat regelmäßig um eine "zwangsweise" Konfrontation in dem Sinne handelt, dass es für die Kunden unumgänglich sein kann, mit eben dieser ihnen zugewiesenen Sachbearbeiterin zu kommunizieren (anders als zB in der freien Wirtschaft mit m
ehreren Geschäften mit vergleichbaren Angeboten, wobei dort die Grundrechte natürlich nicht unmittelbar gelten). Das VG Kassel stellt in der zugrunde liegenden Entscheidung zB wörtlich auf die fehlenden "Ausweichmöglichkeiten" ab (VG Kassel, Urt v 28.2.2018 - 1 K 2514/17.KS, BeckRS 2018, 7597, Rn 26). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team