Öffentliches Recht

Grundrechte

Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 GG)

Kopftuch 2: Sachbearbeiterin in Behörde ohne Auftritt nach Außen

Kopftuch 2: Sachbearbeiterin in Behörde ohne Auftritt nach Außen

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S gehört der Religionsgemeinschaft der Sikh an und ist der insgeheime Star-Beamte der Behörde B, denn er bearbeitet Akten in Rekordgeschwindigkeit und ist allseits beliebt. Da S seinen religiös verpflichtenden Turban (dastār) trägt, hat Behördenleiter L ihn in ein Kellerbüro verbannt. Schließlich entlässt L den S wegen seines Turbans.

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Einordnung des Falls

Kopftuch 2: Sachbearbeiterin in Behörde ohne Auftritt nach Außen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S kann sich wegen seiner Entlassung nicht auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) berufen, da diese auf Beamte nicht anwendbar ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Grundrechten ist anerkannt, dass diese auch in sogenannten Sonderrechtsverhältnissen gelten, also in Fällen, in denen der Grundrechtsberechtigte in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat steht. S steht als Beamter in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat, wodurch seine Grundrechtsberechtigung jedoch nicht infrage gestellt wird. S kann sich daher wegen seiner Entlassung auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) berufen.
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2. Die Glaubensfreiheit schützt S Freiheit, seinen Glauben durch das Tragen eines Turbans auf der Arbeit nach außen kundzutun.

Ja, in der Tat!

Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) schützt nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben (forum internum), sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (forum externum). Dazu gehört das Recht der Einzelnen, sein Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln und zu leben, etwa durch das Befolgen religiöser Bekleidungsvorschriften. Dies gilt sowohl für den privaten als auch den öffentlichen Bereich. Der eigene Glaube kann durch das Befolgen religiöser Kleidungsvorschriften sowohl privat als öffentlich kundgetan werden. Die Glaubensfreiheit schützt damit S Freiheit, seinen Glauben durch das Tragen eines religiös verpflichtenden Turbans auf der Arbeit auszudrücken.

3. Die Glaubensfreiheit unterliegt ausschließlich verfassungsimmanenten Schranken. Die Entlassung des S als Eingriff in die Glaubensfreiheit bedarf daher keiner einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.

Nein!

Auch der Eingriff in ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht wie der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG setzt stets das Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage voraus. Dies folgt aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes.

4. Im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit des S erfolgt eine Einzelfallabwägung der widerstreitenden Rechtsgüter.

Genau, so ist das!

Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit gilt es, die widerstreitenden Schutzgüter durch eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall in einen möglichst schonenden und gerechten Ausgleich zu bringen. Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz müssen die widerstreitenden Positionen so in Ausgleich gebracht werden, dass beide Positionen jeweils ihre größtmögliche Geltung entfalten. Als widerstreitende Schutzgüter kommen im vorliegenden Fall sowohl die negative Glaubensfreiheit, ebenfalls von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt, als auch der verfassungsrechtliche Grundsatz der staatlichen Neutralität in Frage.

5. Die Entlassung des S kann verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden, da durch das Tragen des Turbans keine konkrete Gefahr für widerstreitende Verfassungsgüter besteht.

Ja, in der Tat!

Der Glaubensfreiheit muss bei der Abwägung der widerstreitenden Positionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz größtmögliche Geltung zukommen. Dabei muss ein Eingriff verhältnismäßig sein, das heißt eine die Glaubensfreiheit einschränkende Maßnahme darf nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen. Wird ein religiöses Kleidungsstück im Dienst getragen und besteht dadurch keine konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder die Grundrechte Dritter, ist eine Entlassung des Grundrechtsträgers unverhältnismäßig und damit ungerechtfertigt. Die Rechtsprechung hat entschieden, dass eine Interaktion mit Publikumsverkehr allein keine konkrete Gefahr begründet. Dies muss daher erst Recht für Mitarbeiter ohne Außenauftritt und deren Entlassung als damit vergleichsweise schwerer wiegendem Eingriff gelten. S ist Star-Beamter der Behörde B und ist nicht nur allseits beliebt, sondern zeichnet sich auch durch besondere Leistung im Dienst aus. Probleme bestehen keine. Vom Turban-Tragen des S, der im Kellerbüro sitzt, geht keine konkrete Gefahr für widerstreitende Verfassungsgüter aus. Die Entlassung des S ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dogu

Dogu

15.6.2024, 18:20:26

Ich tue mich schwer damit, den Arbeitseifer des Beamten in die Subsumtion aufzunehmen. Polemisch gesagt, kann es doch am Ergebnis nichts ändern, wenn ein Beamter wegen seiner religiösen Kopfbedeckung entlassen wird, ob er außerdem faul oder fleißig war. Das tut doch nichts zur Sache. Selbst wenn er faul gewesen wäre, ist dieser Umstand ja nicht auf seine Kopfbedeckung zurückzuführen. Auch eine etwaige Gefährdung Dritter in diesem Falle (Untätigkeit) hätte nichts mit der Kopfbedeckung zu tun.

in persona

in persona

6.7.2024, 23:02:26

da hast natürlich vollkommen Recht mit deiner Argumentation: ich denke es geht lediglich darum klarzustellen,dass kein Kündigungsgrund vorgelegen hat

Tobias Krapp

Tobias Krapp

1.8.2024, 12:02:55

Hallo Dogu, danke für die absolut berechtigte Anmerkung! Wie in persona schon dazu richtig geschrieben hat, geht es hier bei diesem Punkt nur um die nicht gegebene verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Die Leistung des S spielt für eine konkrete Gefahr als solche zwar keine Rolle. Das VG Kassel hat im Originalfall (in dem es lediglich um das Verbot des Tragens der Kopfbedeckung ging, nicht um eine Kündigung) aber noch angemerkt, dass bei Anhaltspunkten für "konkrete Konfliktlagen", in denen eine "Erstbegehunsgefahr" für schädigendes Verhalten durch den Beamten besteht, eine konkrete Gefahr und damit ein Verbot des Tragens in Betracht kommt. Hierfür kann das dienstliche Verhalten eine Rolle spielen. Man müsste aber klar unterscheiden zwischen solchen Punkten in der Arbeitsleistung, die ohnehin keinen Bezug zu einer Gefährdung durch die Kopfbedeckung haben, wie die von dir genannte allgemeine Untätigkeit, und anderem Verhalten. Die Beschreibung in Sachverhalt und Subsumtion ist hier sehr allgemein und kurz und soll lediglich zeigen, dass hier keinerlei auch nur denkbare Anhaltspunkte im Verhalten des S eine im Einzelfall bestehende konkrete Gefahr stützen, da keine Probleme bestehen. Ich hoffe, das hat die Unklarkeit beseitigt! Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias @[Wendelin Neubert](409)

ROBE

Robert

10.8.2024, 15:57:56

Der Sachverhalt ist auch insofern etwas schief, als dass Beamte nicht einfach entlassen werden können. Egal, ob sie Turan tragen oder nicht. 

MAS

Max S.

8.8.2024, 18:06:40

Ist die Verlegung in das Kellerbüro selbst auch schon ein Eingriff?

⚖️ Luca

⚖️ Luca

31.8.2024, 15:39:48

Kann ich mir gut vorstellen. Evtl. wären mehr Informationen im SV hilfreich, aber das „Abschotten“ von den anderen Beamten, eben weil der Beamte gläubig ist und dementsprechende Kleidung trägt, dürfte einen Eingriff darstellen.


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