Zivilrecht

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Entscheidungen von 2023

Mindestlohn auch für Yogis? (BAG, Urt. v. 25.04.2023, Az. 9 AZR 253/22)

Mindestlohn auch für Yogis? (BAG, Urt. v. 25.04.2023, Az. 9 AZR 253/22)

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Juristin J lebt im Yoga-Zentrum des Vidya-Vereins (V), der sich als spirituelle selbstverwaltende Gemeinschaft versteht und die Yogalehre verbreitet. Die Mitglieder sind vertraglich verpflichtet, nach Weisung 42h/Woche sog. Sevadienste zu leisten. Sie kriegen dafür Kost, Logis und monatlich €390 „Taschengeld“.

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Einordnung des Falls

Mindestlohn auch für Yogis? (BAG, Urt. v. 25.04.2023, Az. 9 AZR 253/22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. J könnte gegen Y einen Anspruch auf Mindestlohn gemäß § 1 Abs. 1 MiLoG i.V.m. § 22 Abs. 1 S. 1 MiLoG haben.

Ja!

Nach § 1 Abs. 1 MiLoG sind Arbeitgeber verpflichtet, ihren Arbeitnehmern den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Hat der Arbeitgeber zunächst zu wenig gezahlt, so kann der Arbeitnehmer die Zahlung der Differenz geltend machen. Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn schützt Arbeitnehmer umfassend vor den Folgen einer unangemessen niedrigen Vergütung. Die Normierung eines angemessenen Verhältnisses von Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (RdNr. 128).
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2. Um einen Anspruch auf Mindestlohn zu haben, müsste J zunächst Arbeitnehmerin sein. Ergibt sich aus § 611a Abs. 1 BGB, wer Arbeitnehmer ist?

Genau, so ist das!

Der persönliche Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes erstreckt sich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (§ 22 Abs. 1 S. 1 MiLoG). Die von der Rechtsprechung entwickelte Definition liegt der Regelung des Arbeitsverhältnisses in § 611a Abs. 1 BGB zu Grunde. Arbeitnehmer ist jeder, der sich auf Grundlage eines privatrechtlichen Vertrags verpflichtet, im Dienste eines anderen weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit gegen ein Entgelt zu leisten, vgl. § 611a Abs. 1 S. 1 BGB.

3. In dem Vertrag zwischen V und J steht, dass J keine Arbeitnehmerin ist. Ist allein diese Vereinbarung entscheidend dafür, ob J Arbeitnehmerin ist?

Nein, das trifft nicht zu!

Geht es um erbrachte Arbeitsleistung, so muss regelmäßig ein Arbeitsverhältnis (§ 611a BGB) von einem Dienstleistungsverhältnis (§ 611 BGB) abgegrenzt werden. Nach § 611a Abs. 1 S. 6 BGB entscheidet für die Qualifikation als Arbeitnehmerin die tatsächliche Durchführung des Vertrags, nicht die Bezeichnung. Die Parteien sind also nicht frei darin, den Vertragstyp unabhängig von den vereinbarten Bedingungen und der tatsächlichen Vertragsdurchführung zu bestimmen. Sie sind an die zwingenden Vorgaben des § 611a Abs. 1 BGB gebunden (arbeitsrechtlicher Rechtsformzwang). Ist die Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit materieller Vertragsgegenstand oder leistet der Beschäftigte abweichend von den getroffenen Vereinbarungen tatsächlich solche Arbeit, liegt ein Arbeitsverhältnis i.S.v. § 611a Abs. 1 BGB vor (RdNr. 113ff.).

4. V ist ein eingetragener Verein, in dem J Mitglied war. Kann ein Mitgliedsbeitrag i.S.v. § 58 Nr. 2 BGB in einer Tätigkeit bestehen, die fremdbestimmt, weisungsgebunden und in persönlicher Abhängigkeit erbracht wird?

Ja!

Ein Verein soll in seiner Satzung unter anderem regeln, ob und welche Beiträge die Mitglieder erbringen müssen (§ 58 Nr. 2 BGB). Nach § 25 BGB ist der Verein bei der inhaltlichen Gestaltung der Satzung frei, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergibt (sog. Satzungsautonomie). Danach kann der Verein die Leistung von Diensten in persönlicher Abhängigkeit - insbesondere zur Förderung des Vereinszwecks - als Mitgliedsbeitrag festlegen. Ein Arbeitsverhältnis wird hierdurch grundsätzlich nicht begründet, der Verein muss aber einen Schutz gewährleisten, welcher mit dem arbeitsrechtlichen Schutz vergleichbar ist. Anderenfalls wird ein Arbeitsverhältnis nach § 611a Abs. 1 BGB begründet (RdNr. 125). Die Gewährleistung des arbeitsrechtlichen Schutzes soll nicht durch die Kopplung der zu erbringenden Tätigkeit an eine Vereinsmitgliedschaft umgangen werden können.

5. Obwohl J tatsächlich weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit für V geleistet hat, hat V keinen arbeitsrechtlichen Schutz gewährleistet. Konnte V daher die von J zu leistenden Tätigkeiten abweichend von den Vorgaben des § 611a Abs. 1 BGB als Mitgliedsbeitrag (§ 58 Nr. 2 BGB) regeln?

Nein, das ist nicht der Fall!

Unterliegt der Beschäftigte hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer der Ausführung der versprochenen Arbeit einem umfassenden Weisungsrecht eines anderen, leistet er weisungsgebunden und fremdbestimmt Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Die Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses nur, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen (z.B. eine Vergütungszusage, die den Mindestlohn garantiert) nicht umgangen werden. BAG: V hat J den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn vorenthalten, indem er ihr lediglich das satzungsmäßig vorgesehene Taschengeld zahlte. Die Sachleistungen in Gestalt von Kost und Logis bleiben insoweit unberücksichtigt (RdNr. 129ff.). Laut BAG ist es unschädlich, dass J nicht vorrangig bezweckte, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das LAG nahm an, dass J für V auf vereinsrechtlicher Grundlage als Mitgliedsbeitrag nach § 58 Nr. 2 BGB weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistete, ohne dass V zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen umging.

6. Aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften folgt die Möglichkeit, Personen zu beschäftigen, ohne dass diese Arbeitnehmer sind. Wäre J also keine Arbeitnehmerin, wenn V als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft anzusehen ist?

Ja, in der Tat!

Um dem verfassungsrechtlich garantiertem Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften aus Art. 4 GG i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV Rechnung zu tragen, ist anerkannt, dass diese die Möglichkeit haben, Personen nicht als Arbeitnehmer zu beschäftigen, obwohl sie weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verrichten. Gleiches gilt für Weltanschauungsvereinigungen, die den Religionsgesellschaften gleichgestellt sind (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 7 WRV) (RdNr. 40ff.). Ordensmitglieder der katholischen Kirche oder Diakonissen in evangelischen Einrichtungen werden z.B. aufgrund ihrer mitgliedschaftlichen Bindung in einer religiösen Gemeinschaft beschäftigt, ohne dass diese Personen dem Regelungsregime des Arbeitsrechts unterfallen.

7. Das BAG konnte in der Ausgestaltung des V keine überwiegenden religiösen oder weltanschaulichen Elemente feststellen. Ist der V-Verein als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu klassifizieren?

Nein!

Unter Religion oder Weltanschauung ist eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen. Für die Annahme einer Religions-/Weltanschauungsgemeinschaft bedarf es ein Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Eine reine Lebensweise und die Durchführung spiritueller Praktiken sind für sich gesehen weder Religion noch Weltanschauung. BAG: Es bleibt unklar, auf welchem existentiellen Verständnis der Welt und des Sinnes menschlichen Lebens die Lebensform im Verein beruht, und es lässt sich kein systemisches Gefüge religiöser bzw. weltanschaulicher Elemente erkennen. Es stellt also für sich gesehen weder eine Religion noch eine Weltanschauung dar, in einer spirituell geprägten Gemeinschaft nach bestimmten Verhaltensregeln zusammenzuleben und Yoga zu praktizieren und zu lehren (RdNr. 140ff.).

8. Unterstellt, J hat eine Vereinbarung unterschrieben, nach der sie alle Ansprüche gegen V spätestens 6 Monate nach ihrer Fälligkeit geltend machen muss. Kann J nach über 6 Monaten noch Mindestlohn fordern (vgl. § 3 S. 1 MiLoG)?

Genau, so ist das!

Seit Einführung des Mindestlohngesetzes ist bezüglich der Ausschlussfristen § 3 S. 1 MiLoG zu beachten. Dieser umfasst nicht nur solche Vergütungsvereinbarungen, nach denen der Arbeitnehmer einen Lohn erhalten soll, der unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Es sind auch Vereinbarungen insoweit unwirksam, als dass sie die Geltendmachung des gesetzlichen Mindestlohns beschränken oder ausschließen. Die Ausschlussfrist, die J unterschrieben hat, ist also jedenfalls insoweit unwirksam, als sie die Geltendmachung des Anspruchs auf den gesetzlichen Mindestlohn beschränkt (RdNr. 147). Sie kann auch nach über 6 Monaten noch ihren Anspruch auf Mindestlohn geltend machen.

9. J hat gegen den V-Verein einen Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn (§ 1 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG).

Ja, in der Tat!

Arbeitnehmerinnen haben gegen ihre Arbeitgeber einen Anspruch auf Zahlung eines Entgelts, welches mindestens dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht. Der materielle Inhalt des Vertrags zwischen J und V war auf die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeit in persönlicher Abhängigkeit gerichtet. Bei den vertraglich geschuldeten Seva handelt es sich um Tätigkeiten, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach mit denen eines Arbeitsverhältnisses identisch sind. Damit steht J als Arbeitnehmerin Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG zu. Dem stehen weder die Rechte von Religions-/Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) entgegen. Das LAG hat Js angenommen, dass J keine Arbeitnehmerin i.S.v. § 611a Abs. 1 BGB gewesen sei. Das BAG wies dies als rechtsfehlerhaft zurück. Das BAG konnte allerdings nicht abschließend in der Sache entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO), da das LAG hinsichtlich der Anspruchshöhe noch weitere tatsächliche Feststellungen treffen musste. Das BAG hat die Sache daher ans LAG zurückverwiesen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Eine Verfassungsbeschwerde des V gegen das Urteil des BAG hat das BVerfG erst gar nicht zur Entscheidung angenommen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Daniel B.

Daniel B.

3.9.2024, 00:27:17

Aus welchem Grund wurde die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen?

MALE

malei

11.9.2024, 09:29:57

Das BVerfG hat offen gelassen, ob der Verein eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft ist. Jedenfalls sei weder dargelegt noch ersichtlich, "dass die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens geleisteten Dienste der Aufrechterhaltung des Beherbergungs- und Seminarbetriebs des Vereins und des Vertriebs von Yoga-Produkten, um deren arbeitsrechtliche Beurteilung es hier geht, für sich genommen religiös geprägt waren." (BVerfG, B. v. 02.07.2024 - 1 BvR 2244/23 und 1 BvR 2231/23) Das BVerfG stellt also auf die konkrete Tätigkeit ab, die für eine Berufung des Vereins auf Art. 4 GG notwendigerweise selbst der Weltanschauungs- und Religionsfreiheit hätte zugerechnet werden müssen.


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