Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der Betriebsrat fordert Arbeitgeber Angelo auf, im Betrieb ein elektronisches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. A ist der Auffassung, er wäre hierzu nicht verpflichtet.
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Einordnung des Falls
Das BAG hatte zu entscheiden, ob eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bestehe. Eine Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten könnte sich aus einer (unionsrechtskonformer) Auslegung des § 3 Abs. 1 ArbSchG ergeben. Aus den Gesetzesmaterialien gehe hervor, dass § 3 ArbSchG lediglich der Umsetzung einer europäischen Vorgabe (Art. 6 Abs. 1 Unterabschn. 1 RL 89/391/EGW) diene. Nach Vorstellung des Gesetzgebers sollte ihr insoweit dieselbe Bedeutung wie der unionsrechtlichen Vorgabe zukommen. Der EuGH habe sich zur Begründung der Arbeitszeiterfassungspflicht unter anderem auf Art. 6 Abs. 1 der RL 89/391/EWG gestützt. Daraus ergebe sich, dass eine solche Zeiterfassung auch im Einklang mit dem Gesetzeszweckd des § 3 Abs. 1 ArbSchG stehe (RdNr. 47).
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte der Betriebsrat, sofern ihm ein erzwingbares Initiativrecht zusteht, die Einführung der elektronischen Arbeitszeiterfassung gegebenenfalls auch gegen den Willen von A durchsetzen?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Besteht ein Initiativrecht des Betriebsrates nur, soweit sich die Pflicht zur Einführung der Zeiterfassung nicht bereits aus einer gesetzlicher Regelung ergibt?
Ja, in der Tat!
3. Ergibt sich eine Verpflichtung der Arbeitgeberinnen zur Einführung eines Zeiterfassungssystems aus Art. 31 Abs. 2 GRCh (Charta der Grundrechte der Europäischen Union)?
Nein!
4. Ergibt sich eine Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten dem Wortlaut nach aus § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Ergibt sich eine Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten aber bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG?
Nein, das trifft nicht zu!
6. Ergibt sich eine entsprechende Verpflichtung der Arbeitgeberinnen aber aus § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG analog?
Nein!
7. Ergibt sich eine Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten aber nach Auffassung des BAG aus europarechtskonformer Auslegun des § 17 Abs. 4 ArbZG?
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Eine Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten könnte sich aus einer (unionsrechtskonformer) Auslegung des § 3 Abs. 1 ArbSchG ergeben (RL 2003/88/EG).
Ja, in der Tat!
9. Steht der europarechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 1 ArbSchG aber der hinter der Norm stehende Gesetzeszweck (Telos) entgegen?
Nein!
10. Ist die Arbeitszeit aber abschließend im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) geregelt, sodass zur Begründung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung der Rückgriff auf § 3 ArbSchG ausscheidet (Systematik)?
Nein, das ist nicht der Fall!
11. Muss die Arbeitszeiterfassung zwingend elektronisch erfolgen?
Nein, das trifft nicht zu!
12. Steht dem Betriebsrat denn nun ein Initiativrecht im Hinblick auf die Frage zu, ob ein Arbeitszeiterfassungssystem eingeführt wird?
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Daniel
19.1.2023, 12:17:19
Liebes Jurafuchs-Team, erst einmal Danke für die tolle Aufarbeitung des Falles! Wie Ihr gezeigt habt, bedienen sich die Gerichte regelmäßig der Gesetzgebungsmaterialien, vgl. Vorschlag des Bundesrates oder Richtlinien der EU, EWG etc. Wie aber geht man nun hinsichtlich solcher Fälle, deren Lösung stark auf den genannten Materialien fußt, im Examen vor? Ich vermute mal, man wird diese dort zumeist nicht zur Hand haben? Liebe Grüße, Daniel
Nora Mommsen
20.1.2023, 17:38:05
Hallo Daniel, auf die historische Auslegungsmethode bzw. den aus den Materialien abgeleiteten Telos kommt es nur an, sofern diese in der Klausur angebracht werden. Dies kann durch Abdruck des entsprechenden Materials geschehen. Gerne wird einer der beteiligten Parteien dies auch als Argument in den Mund gelegt. Es gibt sehr wenige Ausnahmen, bei der die Entstehungsgeschichte einer Norm als bekannt vorausgesetzt wird im Examen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Daniel
18.2.2023, 23:26:43
Liebe Nora, herzlichen Dank für Deine Antwort!
Mi. S.
14.8.2024, 06:26:00
@[
Nora Mommsen](178057) Auch von mir noch einmal vielen Dank für diese tolle Aufarbeitung! Kannst du Beispiele für Normen nennen, in denen es vorausgesetzt wird, dass man die Entstehungsgeschichte kennt?
Pilea
29.10.2023, 08:03:30
Gilt diese Entscheidung nur für private Unternehmen, oder zB auch im staatlichen Arbeitgeberumfeld? (zB in Ministerien oder Arbeitskräfte von Abgeordneten)
HarveySpectre
16.2.2024, 17:02:34
Um deine Frage zu beantworten würde ich mich auf den Anwendungsbereich des BetrVG beziehen. Demnach: Das BetrVG gilt für alle Betriebe in privatrechtlicher Organisationsform. Ein Betrieb gehört zur Privatwirtschaft, wenn der Inhaber dem Privatrecht zuzuordnen ist (hA; DKW/Trümner Rn. 10; Fitting Rn. 37; GK-BetrVG/Wiese Einl. Rn. 92 ff.). Ist der Inhaber des Betriebs dem öffentlichen Recht zuzuordnen, findet das Personalvertretungsrecht des Bundes bzw. der Länder Anwendung, sofern die Anwendung des Personalvertretungsrechts nicht durch personalvertretungsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen ist. Handelt es sich bei einem Betrieb um einen Gemeinschaftsbetrieb eines privatrechtlich und eines öffentlich-rechtlich organisierten Inhabers ist das BetrVG anwendbar, da die Betriebsführung der BGB-Gesellschaft obliegt und diese dem Privatrecht zuzuordnen ist (BAG 24.1.1996, NZA 96, 1110; BVerwG 13.6.2001, NZA 03, 115; DKW/Trümner Rn. 10; ErfK/Koch Rn. 13). Beachte bei öff. rechtl. Körperschaften etc. ist das BetrVG schon wegen § 130 BetrVG ausgeschlossen. Bei einem Ministerium bei unmittelbarer Staatsverwaltung würde ich sagen das BetrVG ist schon wegen § 130 BetrVG ausgeschlossen. Bei Arbeitskräften von Abgeordneten würde ich sagen kommt es drauf an ob die als Beliehene eingestellt sind, und mit wem die einen Arbeitsvertrag geschlossen haben (Dem Bund selbst=> BetrVG (-), Bei einer GmbH oder GbR die für einen Abgeordneten Leute anstellt und dann an den ab delegiert sieht die Sache schon anders aus. Da würde ich sagen kommt es auf die oben genannten Kriterien drauf an)