+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
B ist in Belgien geboren, besitzt aber die deutsche Staatsangehörigkeit. Nach einem Gesetz dürfen im Ausland lebende Deutsche nur an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn sie vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben. B war noch nie in Deutschland.
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Einordnung des Falls
Differenzierung des Wahlrechts von „Auslandsdeutschen“ (BVerfG, 04.07.2012)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gebietet eine strenge und formale Gleichheit.
Genau, so ist das!
Die Gleichbehandlung aller Staatsbürger bezüglich der Fähigkeit, zu wählen und gewählt zu werden, ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Nach st.Rspr. des BVerfG ist er im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl des Deutschen Bundestages zu verstehen. Prüfst Du einen Verstoß gegen den speziellen Gleichheitssatz aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, kannst Du Dich an dem Prüfungsaufbau des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) orientieren. Wie man einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG prüft, kannst Du Dir hier anschauen. Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
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2. Das Wahlrecht darf nicht durch einfaches Bundesrecht modifiziert werden. Das Gesetz ist schon aus diesem Grund verfassungswidrig.
Nein, das trifft nicht zu!
Die Allgemeinheit der Wahl garantiert grundsätzlich allen Staatsangehörigen das passive und aktive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Nach § 38 Abs. 3 GG können weitere Regelungen zum Wahlrecht durch ein Bundesgesetz getroffen werden. Diese finden sich im Bundeswahlgesetz (BWahlG). Das hier angeführte Gesetz ist § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG in der Fassung vom 17. März 2008. Diese Regelung war Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde im Jahr 2012.
3. B ist der Meinung, sog. „Sesshaftigkeitserfordernis“ verstößt gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Behandelt das Gesetz alle sog. „Auslandsdeutschen“ gleich?
Nein!
Eine Differenzierung durch ein Gesetz liegt vor, wenn innerhalb einer Vergleichsgruppe wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird. Dadurch, dass das Gesetz als Kriterium für die Ausübung des Wahlrechts eine Sesshaftigkeit in Deutschland von mindestens drei Monaten vorsieht, werden bestimmte Staatsbürgerinnen – wie B – von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen. Innerhalb der Vergleichsgruppe von deutschen Staatsbürgern, die dauerhaft im Ausland leben (= Auslandsdeutsche) wird differenziert danach, ob die Staatsbürger schon einmal drei Monate lang in Deutschland sesshaft waren oder nicht. Diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die schon einmal drei Monate lang in Deutschland sesshaft waren, dürfen wählen und werden damit anders behandelt als diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die noch nie drei Monate lang in Deutschland sesshaft waren. Es liegt eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor.
4. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt einem absoluten Differenzierungsverbot.
Nein, das ist nicht der Fall!
Nach dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (= besonderer Gleichheitsgrundsatz) müssen grundsätzlich alle Deutschen Staatsangehörigen in gleicher Weise Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen können. Allerdings unterliegt dieses Gebot keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus der Systematik von Art. 38 GG ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis aus Art. 38 Abs. 3 GG nicht (weitere) Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen dürfte. Aus dem formalen Charakter des Gleichbehandlungsgrundsatzes folgt allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen bleibt. Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes (st.Rspr. BVerfG).
5. Eine Rechtfertigung der Differenzierung innerhalb der Gruppe der „Auslandsdeutschen“ könnte sich aus den demokratischen Zielsetzungen der Wahlen ergeben.
Ja, in der Tat!
Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Zu diesen Gründen zählen insbesondere die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele: Wahlen sind zentraler Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Die Ausgestaltung der Wahl muss diesen Charakter der Wahl als Integrationsvorgang sichern und dadurch die Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung gewährleisten. Wichtiger Bestandteil ist hierbei die Gewährleistung eines Kommunikationsprozesses zwischen Volk und Staatsorganen. Der für die politische Willensbildung notwendige Kommunikationsprozess könnte eingeschränkt sein, wenn eine Person im Ausland lebt und auch noch nie für eine gewisse Dauer in Deutschland gelebt hat. Es könnte daher gerechtfertigt sein, diese Personengruppe vom aktiven Wahlrecht auszuschließen. Die hier erläuterten Erwägungen zu den Zielen der Wahl verwendet das BVerfG immer wieder, wenn es prüft, ob Beschränkungen eines Wahlrechtsgrundsatzes gerechtfertigt werden können.
6. Der sachliche Grund für die Differenzierung könnte darin bestehen, sicherzustellen, dass die Wählenden ausreichend am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert teilgenommen haben.
Ja!
Der Gesetzgeber hat zur Begründung des Sesshaftigkeitserforderis unter anderem darauf verwiesen, dass als wahlberechtigte Aktivbürger nur Deutsche qualifiziert werden können, bei denen objektive Merkmale vorliegen, die es gewährleistet erscheinen lassen, dass sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken. Nach Einschätzung des Gesetzgebers reichen hierfür die (technischen) Möglichkeiten, sich vom Ausland her über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vorgänge in Deutschland zu informieren, nicht aus. Angesichts der modernden Kommunikationsmittel und der digitalen Vernetzung erscheint ein solches Argument eher schwach, um die Beschränkung des Wahlrechts zu rechtfertigen. Die fehlende innere Verbundenheit von noch nie in Deutschland sesshaften „Auslandsdeutschen“ zum politischen Prozess in Deutschland könnte aber ein weiteres Argument sein, um die Beschränkung zu rechtfertigen.
7. Ist es plausibel, dass das starre Sesshaftigkeitskriterium (drei Monate Aufenthalt) dafür sorgen kann, dass die Wählenden ausreichend am Meinungsbildungsprozess mitwirken?
Nein, das ist nicht der Fall!
Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Sie können insbesondere gerechtfertigt sein, um zu gewährleisten, dass die Wählenden informiert am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess mitwirken.Nach Ansicht des BVerfG steht dem Gesetzgeber zwar die Einschätzung zu, dass dass die technischen Möglichkeiten einen politischen Kommunikationsprozess vor Ort nicht ersetzen können. Allerdings sei es nicht hinreichend plausibel, wie das isolierte Anknüpfen an einen dreimonatigen Aufenthalt in Deutschland dafür sorgen soll, dass der vom Gesetzgeber genannte Zweck erfüllt werden soll. Es sei nicht nachvollziehbar, wie ein früherer dreimonatiger Aufenthalt sicher stellen sollte, dass die Wählenden hinreichend am politischen Kommunikationsprozess teilnehmen. Dies gelte umso mehr, als dass das Gesetz keine Regelung vorsieht, wie lange der Aufenthalt in Deutschland höchstens zurückliegen darf (sog. Fortzugsfrist). Die gesetzliche Regelung überschreite damit die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.
8. Die starre gesetzliche Regelung, die einen vorangegangenen dreimonatigen Aufenthalt in Deutschland zur Voraussetzung für das Wahlrecht erhebt, ist verfassungswidrig.
Ja, in der Tat!
Die Ungleichbehandlung von im wesentlich gleichen Wahlberechtigten verstößt nur dann nicht gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, wenn ein besonderer sachlicher Rechtfertigungsgrund vorliegt. Ein Rechtfertigungsgrund ist die Gewährleistung eines Kommunikationsprozesses zwischen Volk und Staatsorganen. Wegen der Bedeutung der Wahlrechtsgrundsätze hat der Gesetzgeber hierbei einen eingeschränkten Gestaltungsspielraum. Da hier keine nachvollziehbaren sachlichen Gründe vorliegen, für die Ausübung des Wahlrechts zwischen Auslandsdeutschen mit und ohne früherer Sesshaftigkeit in Deutschland zu differenzieren, verstößt das Gesetz gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und ist damit verfassungswidrig. In Reaktion auf das Urteil des BVerfG hat der Gesetzgeber die Regelung geändert. Voraussetzung ist nunmehr ein dreimonatiger Aufenthalt in Deutschland nach Vollendung des 14. Lebensjahres, welcher nicht länger als 25 Jahre zurück liegt oder der Nachweis der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen Deutschlands aus anderen Gründen (siehe § 12 Abs. 2 BWahlG). In dem Originalurteil setzt sich das BVerfG mit einer Hand von weiteren Gründen auseinander, die der Gesetzgeber zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung anführt, und lehnt diese ebenfalls ab. Wir haben uns hier auf den wichtigsten Rechtfertigungsgrund und die Argumentationsstruktur konzentriert. Es kommt hier aber vor allem darauf an, dass Du diese nachvollziehst.