+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T geht mit dem Hund H ihres Vaters V spazieren. T trifft auf Hundehalterin K. Ks Hund und H rennen gemeinsam zu einem Mäuseloch. T ruft H zurück. Der Hund rennt zu T, wodurch K in die Schleppleine gerät, die H lose hinter sich her zieht. K fällt und verletzt sich.
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Einordnung des Falls
Menschliche Leitung des Tieres – Realisierung spezifischer Tiergefahr? (BGH, Urt. v. 11.06.2024 – VI ZR 381/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K verlangt Ersatz der Heilbehandlungskosten von V. Könnte K ein Anspruch aus § 833 S. 1 BGB zustehen?
Genau, so ist das!
§ 833 S. 1 BGB verlangt
(1) einen Personen- oder Sachschaden,
(2) der durch ein Tier verursacht wurde, wobei der
(3) Anspruchsgegner Tierhalter und
(4) das Tier ein Luxustier sein muss. Die Prüfungsreihenfolge ist nicht zwingend, Du kannst z.B. auch die Haltereigenschaft direkt zu Beginn prüfen. § 833 BGB normiert eine verschuldensunabhängige Haftung. Kommt eine Tierhalterhaftung in Betracht, solltest Du diese daher immer vor der allgemeinen, verschuldensabhängigen Haftung (§ 823 Abs. 1 BGB) prüfen. Der Tierhalter haftet nicht für ein vorwerfbares Verhalten, sondern für das Innehaben der Gefahrenquelle. Er kann sich aber nach § 833 S. 2 BGB exkulpieren.
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2. K hat einen Personen- oder Sachschaden erlitten (§ 833 S. 1 BGB).
Ja, in der Tat!
Personen- oder Sachschaden meint die Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum. Hier kannst Du alles übertragen, was Du zu diesen Rechten/Rechtsgütern i.R.v. § 823 Abs. 1 BGB gelernt hast. K ist hingefallen und hat sich verletzt. Mit der Verletzung ihres Körpers und/oder Gesundheit ist ein Personenschaden eingetreten. Gibt Dir der Sachverhalt vor, dass sich eine Person „verletzt“, solltest Du Dich nicht zu lange bei der Subsumtion aufhalten. Hier liegt offensichtlich kein Prüfungsschwerpunkt.
3. Ks Verletzung müsste auf Hs Verhalten zurückzuführen sein. Wären Ks Verletzung auch eingetreten, ohne dass H derart auf T zu gerannt wäre?
Nein!
Die Verletzung muss „durch ein Tier“ verursacht werden (§ 833 S. 1 BGB). Dies setzt voraus, dass (1) das Tierverhalten äquivalent kausal für die Verletzung war und (2) sich in der Verletzung die spezifische Tiergefahr verwirklicht hat. Eine Handlung ist äquivalent kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Rechtsgutsverletzung in ihrer konkreten Form entfällt. Im Rahmen der Kausalität genügt eine mittelbare Verursachung der Verletzung.
Hätte T den Hund nicht zurückgerufen, wäre K nicht in die Hundeleine geraten und gestürzt. Zwar hat der Hund nur mittelbar (durch die Schleppleine) auf K eingewirkt. Bei § 833 S. 1 BGB genügt aber auch eine mittelbare Verursachung. Das Verhalten von H war somit äquivalent kausal für die Körperverletzung der K.
4. Hs Verhalten war äquivalent kausal für Ks Verletzungen. Muss es auch adäquat kausal sein?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Verletzung muss „durch ein Tier“ verursacht werden (§ 833 S. 1 BGB). Dies setzt voraus, dass (1) das Tierverhalten äquivalent kausal für die Verletzung war und (2) sich in der Verletzung die spezifische Tiergefahr verwirklicht hat. Mit dem „Filter“ der adäquaten Kausalität schließt man grundsätzlich die Art von Folgen eines Verhaltens aus, die nach allgemeiner Lebenserfahrung völlig unwahrscheinlich sind. Die Adäquanz wird bei der Gefährdungshaftung nicht geprüft. Denn es geht bei der Gefährdungshaftung nicht darum, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich der Schadenseintritt ist, sondern nur darum, ob er der besonderen Gefahrenquelle zurechenbar ist.
5. Hs Verhalten war äquivalent kausal für Ks Verletzungen. Ist die Prüfung des Tatbestands von § 833 S. 1 BGB damit abgeschlossen?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 BGB setzt voraus, dass sich im Unfall eine „spezifische“ oder „typische“ Tiergefahr desjenigen Tieres verwirklicht hat, dessen Halter in Anspruch genommen wird. Eine solche Tiergefahr hat sich verwirklicht, wenn ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbstständiges Verhalten des betreffenden Tieres für die Entstehung des Schadens adäquat ursächlich geworden ist. Weil auch „normales“ oder „natürliches“ tierisches Verhalten gefährlich sein kann, gehört auch dieses zur spezifischen Tiergefahr.
6. Der Hund folgte dem Ruf der T. Könnte dies dafür sprechen, dass Ks Verletzungen nicht (allein) auf einer spezifischen Tiergefahr beruhen?
Ja!
In den Fällen, in denen das Tier auf eine „menschliche Leitung“ reagiert, nimmt die Rspr. eine Einschränkung der Haftung nach § 833 S. 1 BGB vor.
Die Verletzung ist nach der Rspr. grundsätzlich dann nicht durch die spezifische Tiergefahr verursacht, wenn das Tier ausschließlich dem Willen und der Leitung einer Person folgt. Die (in der Lit. weit verbreitete) a.A. nimmt auch in diesen Fällen die spezifische Tiergefahr an. Wenn H hier ausschließlich Ts Willen und Leitung folgte und K sich nur deswegen verletzt hat, wäre nach Ansicht der Rspr. eine Haftung nach § 833 S. 1 BGB ausgeschlossen. Weiterhin in Betracht käme eine verschuldensabhängige Haftung der T nach § 834 BGB und/oder § 823 Abs. 1 BGB.
7. H reagierte hier zwar auf Ts Ruf, rannte aber eher unkontrolliert. Könnte dies dafür sprechen, dass H nicht ausschließlich Ts Willen und Leitung unterlag?
Genau, so ist das!
Die Verletzung ist dann nicht durch die spezifische Tiergefahr i.S.v. § 833 S. 1 BGB verursacht, wenn das Tier ausschließlich dem Willen und der Leitung einer Person folgt (BGH).
BGH: Man kann eine menschliche Leitung nicht bejahen, wenn ein Tier auf die menschliche Steuerung anders als beabsichtigt reagiert. Denn die Reaktion des Tieres und die daraus resultierende Gefährdung haben ihren Grund in der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens.
Zwar hat der Ruf von T die Bewegung des Hundes ausgelöst. Allerdings stand die Bewegung selbst (Geschwindigkeit, Richtung) nicht unter menschlicher Kontrolle. Zudem hat der Hund nicht angehalten, als K in die Schleppleine geraten ist, sondern rannte weiter. Somit hat sich die spezifische Tiergefahr verwirklicht.
Die Vorinstanzen hatten eine spezifische Tiergefahr verneint, da der Hund nicht unberechenbar gewesen sei, sondern auf das Kommando der T reagiert habe.
8. Damit betont der BGH die Selbsttätigkeit von Tieren als entscheidendes Merkmal der Tiergefahr.
Ja, in der Tat!
Die Tiergefahr beruht nach der Rspr. auf der Unberechenbarkeit und der Selbsttätigkeit von Tieren. In der Literatur wird dagegen seit längerem die Ansicht vertreten, dass die Tiergefahr allein in dem selbsttätigen Verhalten des Tieres zu sehen sei: Die Unberechenbarkeit schränke den Anwendungsbereich von § 833 S. 1 BGB zu sehr ein. Der BGH nähert sich mit diesem Urteil der Literaturansicht an. Danach ist die Selbsttätigkeit von Tieren das entscheidende Merkmal der Tiergefahr.
BGH: Es könne wegen der Zielrichtung der Gefährdungshaftung keine Bedeutung für das umgerissene Opfer haben, ob der Hund sich losgerissen hat oder der Aufforderung des Halters gefolgt ist.
9. V ist Halter des Hundes H. Entfällt Vs Haltereigenschaft im konkreten Fall, weil V zu Hause war?
Nein!
Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB richtet sich gegen den Halter. Die Haltereigenschaft definiert sich – unabhängig vom Eigentum – nach der Sachherrschaft über das Tier und einem eigenen Interesse an der Verwendung oder der Gesellschaft des Tieres. Es kommt nicht darauf an, zu welchem Zweck und in wessen Interesse das Tier gerade zur Zeit des Schadensfalles verwendet wird oder wessen Verfügungsgewalt es unterliegt. Ausschlaggebend ist vielmehr, wessen Wirtschafts- oder Haushaltsbetrieb das Tier generell zuzurechnen ist.
Der Hund ist dem Vs Haushaltsbetrieb zuzurechnen. V ist Halter. Es kommt gerade nicht darauf an, dass V nicht vor Ort und daher – vorübergehend – nicht die tatsächliche Verfügungsgewalt über H hatte.
Somit ist V Anspruchsgegner des Anspruchs der K aus § 833 S. 1 BGB. Die Prüfungsreihenfolge ist nicht zwingend, Du kannst die Haltereigenschaft auch direkt zu Beginn prüfen.
10. V hält den Hund als Haustier aus reinem persönlichen Vergnügen. Ist H ein Nutztier i.S.v. § 833 S. 2 BGB?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Halterhaftung kann nach § 833 S. 2 BGB ausgeschlossen sein. Danach haftet der Halter nicht, wenn das Tier (1) ein Haustier ist und (2) dieses dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist (= Nutztier) und (3) der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde. § 833 S. 2 BGB greift nicht bei sog. Luxustieren. Das sind solche, die kein Haustier oder zwar ein Haustier sind, aber nicht dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt sind.
Der Hund dient nicht Vs Beruf, Erwerbstätigkeit oder Unterhalt. Somit ist er ein Luxustier und V kann sich nicht nach § 833 S. 2 BGB exkulpieren. Enthält der Sachverhalt keinerlei Angaben, die darauf hinweisen, dass es sich um ein Nutztier handelt, musst Du annehmen, dass das Haustier ein Luxustier ist.
11. K verlangt Ersatz der Behandlungskosten. Hat sie einen kausalen, ersatzfähigen Schaden erlitten (§ 249 BGB)?
Ja, in der Tat!
Ein Schaden ist eine unfreiwillige Einbuße, die jemand infolge eines bestimmten Ereignisses an seinen immateriellen Lebensgütern oder an seinem Vermögen erlitten hat. Schäden sind so ersetzen, dass der Zustand wiederhergestellt wird, der ohne den zum Ersatz verpflichtenden Umstand bestehen würde (=Naturalrestitution, § 249 Abs. 1 BGB). Bei Verletzungen von Personen oder Beschädigungen von Sachen kann der Gläubiger statt der Naturalrestitution den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB).
K ist durch die Schleppleine gestürzt und hat sich dabei verletzt. Somit liegt eine Verletzung einer Person vor. Die Gläubigerin K kann den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB).
12. K trifft kein Mitverschulden i.S.v. § 254 BGB. Hat K einen Anspruch auf Ersatz der kompletten Heilbehandlungskosten gegen V aus 833 S. 1 BGB?
Ja!
§ 833 S. 1 BGB verlangt
(1) einen Personen- oder Sachschaden, der
(2) durch ein Tier verursacht wurde, wobei der
(3) Anspruchsgegner Tierhalter und
(4) das Tier ein Luxustier sein muss. Für die Art und Umfang des Schadensersatzes gelten die §§ 249ff. BGB. Ein Mitverschulden (§ 254 BGB) könnte hier vorliegen, wenn K besonders unvorsichtig in die Schleppleine gelaufen wäre. Dafür bietet der Sachverhalt jedoch nicht genug Anhaltspunkte. K hat somit gegen V einen Anspruch auf vollumfänglichen Ersatz der Heilbehandlungskosten aus § 833 S. 1 BGB. In einem Gutachten prüfst Du zur Vollständigkeit noch Ks Anspruch aus § 834 BGB und § 823 Abs. 1 BGB gegen T. Im Originalfall klagte nicht die verletzte selbst, sondern ihre Versicherung (Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X). Anspruchsgegner war der Erbe des mittlerweile verstorbenen Anspruchsgegners (§ 1922 Abs. 1 BGB).