Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Anfechtung der Willenserklärung

Grundfall: § 122 Abs. 1 BGB (Aufwendungen bei Vertragserfüllung)

Grundfall: § 122 Abs. 1 BGB (Aufwendungen bei Vertragserfüllung)

23. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K kauft von V einen Sessel für €800 in der Erwartung, er sei antik. V verpflichtet sich, den Sessel unentgeltlich an K zu übersenden. Als K dort merkt, dass es sich um einen neuen Sessel handelt, erklärt er gegenüber V den „Rücktritt“. V fordert Schadensersatz.

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Einordnung des Falls

Grundfall: § 122 Abs. 1 BGB (Aufwendungen bei Vertragserfüllung)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K und V haben einen Kaufvertrag über den neuen Sessel geschlossen (§ 433 BGB).

Ja, in der Tat!

Ein Vertrag kommt zustande durch zwei inhaltlich übereinstimmende WE, Angebot und Annahme (§§ 145, 147 BGB).Die von K gegenüber V abgegebene Erklärung, er möchte den Sessel kaufen, kann in Verbindung mit dem Zeigen auf den Sessel nach dem objektiven Empfängerhorizont (§ 157 BGB) nur so verstanden werden, dass er genau den Sessel kaufen möchte, auf den er zeigt. Dass er nach seinem subjektiven Willen (§ 133 BGB) davon ausging, der Sessel sei antik, führt aus Verkehrsschutzgründen nicht zur Unwirksamkeit der Erklärung. V hat das Angebot auch angenommen (§ 147 BGB), sodass ein Kaufvertrag zustande kam.
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2. Steht K ein Anfechtungsrecht zu (§§ 119 ff. BGB)?

Ja!

Ein Anfechtungsrecht besteht, wenn einer der Anfechtungsgründe der §§ 119 ff. BGB vorliegt. Ein Eigenschaftsirrtum nach § 119 Abs. 2 BGB liegt dabei vor, wenn der Erklärende sich über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Sache geirrt hat. Eigenschaft einer Sache sind alle wertbildenden Faktoren. Sie sind verkehrswesentlich, wenn sie von der Verkehrsanschauung oder der Parteienabrede als wesentlich anzusehen sind.Das Alter eines Möbels hat bedeutende Auswirkungen auf dessen Wert und stellt somit eine solche verkehrswesentliche Eigenschaft dar. Da K hierüber irrte, ist er gem. § 119 Abs. 2 BGB zur Anfechtung berechtigt.

3. K hat die Anfechtung gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner und innerhalb der Frist erklärt (§§ 143, 121 BGB).

Genau, so ist das!

Die Anfechtung muss bei einem Inhalts-, Erklärungs-, Eigenschafts- oder Übermittlungsirrtum ohne schuldhaftes Zögern (unverzüglich) erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat (§ 121 BGB). Die Anfechtung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Anfechtungsgegner. Bei einem Vertrag ist das der andere Teil. Dabei muss das Wort „Anfechtung“ nicht benutzt werden, solange sich aus den Umständen der eindeutige Wille des Erklärenden ergibt, an den Vertrag nicht mehr gebunden sein zu wollen (§§ 133, 157 BGB).Zwar erklärte K den „Rücktritt“. Bei Auslegung der Erklärung wird jedoch ersichtlich, dass es ihm nicht um den spezifischen Rechtsbegriff geht, sondern er sich primär von dem Vertrag lösen möchte. Die Erklärung erfolgte unmittelbar, nachdem er seinen Irrtum erkannt hatte und damit rechtzeitig. Ausschlussgründe liegen nicht vor.Ein gesetzliches Rücktrittsrecht (§§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 1 BGB) stünde K mangels Sachmangel nicht zu.

4. War V sich bewusst, dass K einen antiken Sessel kaufen wollte (§ 122 Abs. 2 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Ein Schadensersatzanspruch des Anfechtungsgegners scheidet aus, wenn er den Anfechtungsgrund kannte oder infolge von Fahrlässigkeit nicht kannte (kennen musste), § 122 Abs. 2 BGB.Dass K subjektiv beabsichtigte, ein Möbelstück zu erwerben und nicht nur einen auf antik getrimmten neuen Sessel, war für V nicht ersichtlich. Somit hatte er weder positive Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis von Ks Anfechtungsgrund.

5. Bei den aufgewendeten Versandkosten handelt es sich um einen Vertrauensschaden (§ 122 Abs. 1 BGB)?

Ja!

Sofern der Erklärungsgegner auf den Bestand der Erklärung vertrauen durfte, hat er einen Anspruch auf den Ersatz des hierdurch erlittenen Schadens (=Vertrauensschaden/negatives Interesse). Dazu zählt in erster Linie der Ersatz der Aufwendungen anlässlich des Vertragsschlusses oder der Vertragsausführung.Im Vertrauen auf den abgeschlossenen Vertrag hat V den Sessel an K übersandt. Bei den hierfür entstandenen Kosten handelt es sich somit um einen Vertrauensschaden.

6. V hätte durch den Verkauf an K €300 verdient. Liegt diesbezüglich ein Vertrauensschaden vor (§ 122 Abs. 1 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Vertrauensschaden kann auch ein entgangener Gewinn (§ 252 BGB) sein, wenn der Erklärungsgegner im Vertrauen auf die Gültigkeit des Vertrags ein anderweitiges Angebot ausgeschlagen hat. Nicht geschützt ist dagegen das Interesse an der Durchführung des Vertrages (=Erfüllungsinteresse/positives Interesse). Ein Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns aus dem angefochtenen Geschäft besteht also nicht.V hat kein anderes Angebot ausgeschlagen. Der entgangene Gewinn beruht allein darauf, dass der Verkauf an K nicht zustande gekommen ist. Insoweit ist hier lediglich Vs Erfüllungsinteresse betroffen, das über § 122 BGB nicht geschützt wird.Merkhilfe: Beim Ersatz des postiven Interesse ist der Betroffene so zu stellen, wie er stünde, wenn die Pflicht erfüllt worden wäre (z.B. § 249 Abs. 1 BGB, Grundsatz der Totalreparation). Beim Ersatz des negativen Interesses ist er so zu stellen, als ob er nie vom Vertrag gehört hat (z.B. § 122 BGB)!

7. Die Versandkosten i.H.V. €30 übersteigen nicht Vs Erfüllungsinteresse und können von V deshalb nach § 122 Abs. 1 BGB geltend gemacht werden.

Ja, in der Tat!

Der Anfechtungsgegner darf durch den Ersatz des Vertrauensschadens nicht besser stehen, als er bei der erfolgreichen Vertragsdurchführung stünde. Die Schadensersatzpflicht des Anfechtenden ist deshalb durch das Erfüllungsinteresse (=positives Interesse) des Anfechtungsgegners begrenzt (§ 122 Abs. 1 a.E.).Wäre der Vertrag wie geplant zustande gekommen, hätte V daran €300 verdient. Dies bildet die obere Grenze für den Ersatz seines Vertrauensschadens. Da die Versandkosten darunter liegen, kann er sie in vollem Umfang geltend machen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAN

Daniel

29.3.2024, 11:47:19

Die kaufrechtlichen Gewährleistungsvorschriften sind nicht vorrangig, da sie mangels Vorliegens eines Sachmangels gar nicht einschlägig sind, richtig? Wäre das Thema dann in der Klausur einfach zu übergehen oder sollte dazu knapp was geschrieben werden? Wenn letzteres der Fall ist, dann wäre es cool, wenn es auch in dem Fall Berücksichtigung finden würde.

Gruttmann

Gruttmann

29.3.2024, 12:43:51

Ich verstehe deinen Punkt. In der zweiten Frage (glaube ich) wird in der Vertiefung erwähnt, dass es kein "Sachmangel" ist. Ich denke, dass man in einer Klausur dazu kurz etwas schreiben sollte. Zum Beispiel eine kurze Begründung, warum man § 119 || BGB überhaupt anwenden kann. Jedoch denke ich, dass in einer BGB AT Klausur so etwas noch nicht erwartet wird. Trotzdem könnte es Bonuspunkte dafür geben, weshalb das Hinzufügen einer Fallfrage hier tatsächlich sinnvoll wäre :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.3.2024, 13:03:09

Hallo Daniel, genau so ist es. Das Anfechtungsrecht nach § 119 Abs. 2 BGB besteht nur insoweit, wie dadurch nicht die vorrangigen Kaufmängelgewährleistungsrechte umgangen werden. Eine Anfechtung des Kaufvertrags wegen eines "Irrtums über die Mangelfreiheit" der Kaufsache, ist also nicht möglich. Eine solche Umgehung liegt im vorliegenden Fall nicht vor, da - wie Du zutreffend ausführst - hier kein Sachmangel besteht. Ob und in welchem Umfang Ausführungen dazu erwartet werden, lässt sich pauschal nur schwer beantworten. Auf der sicheren Seite bist Du jedenfalls, wenn Du dies kurz erwähnst. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

STE

Stella2244

3.11.2024, 18:47:46

Warum liegt hier kein Sachmangel vor? Wie würde man das begründen?

nullumcrimen

nullumcrimen

2.6.2024, 16:01:04

Würde hier ein Sachmangel bestehen, wenn der Verkäufer den Sessel als “antik” verkauft hätte? Und was wäre, wenn zB die Versandkosten den eigentlichen Gewinn (hier 300€) überschreiten würden?

LELEE

Leo Lee

3.6.2024, 10:52:12

Hallo nullumcrimen, vielen Dank für die sehr gute Frage! Du hast völlig recht: Wenn der Verkäufer die Sache explizit als „antik“ verkauft hätte und sich die Parteien hierauf geeinigt hätten, wäre die „antike“ Natur eine

Beschaffenheit

, die vereinbart würde, weshalb diesbzgl. ein Mangel vorliegen würde. Bzgl. deiner zweiten Frage: Wenn die Versandkosten höher wären als die eig. 300 Euro, würde 122 I a.E. greifen, weshalb hier die Obergrenze. Von 300 Euro gelten würde! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Armbrüster § 119 Rn. 19 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Johannes Nebe

Johannes Nebe

22.6.2024, 14:55:16

Ich weiß nicht, ob es hilfreich ist, darauf hinzuweisen. Der eigentliche Gewinn muss der Gewinn nach Abzug der Versandkosten (oder anderer Transaktionskosten) sein. Andernfalls wären Konstellationen schwer denkbar, bei denen die Versandkosten den eigentlichen Gewinn überschreiten.

Dogu

Dogu

4.6.2024, 18:59:35

Muss der Anfechtungsgrund genannt werden?

TI

Timurso

5.6.2024, 12:06:48

Nein, es reicht aus, wenn aus der Erklärung hervorgeht (im Zweifel durch Auslegung), dass der Vertrag angefochten werden soll. Dafür spricht u.a., dass der Laie diesen nur schwer richtig begründen kann, sondern sich ja oft bereits über die Wahl des richtigen Rechtsgeschäfts irren. Natürlich geht damit ein Risiko für den Erklärungsempfänger einher, der u.U. nicht einschätzen kann, ob das Rechtsgeschäft wirksam ist oder nicht.

Dogu

Dogu

5.6.2024, 12:11:45

Danke

Johanna K

Johanna K

3.7.2024, 14:28:38

Was wäre, wenn K entsprechend die Versandkosten übernommen hätte? Dann wäre folglich der Anspruch aus

§ 122 BGB

nicht durchgegangen oder?

STE

Stella2244

3.11.2024, 18:49:40

Dann hätte V keinen Schaden, folglich auch keinen Anspruch

AN

Antonia

6.9.2024, 11:17:32

Ist der vorliegende Fall ein Fall des

Identitätsirrtum

s (error vel objecto) mit der Folge, dass sowohl ein Inhalts- wie auch

Eigenschaftsirrtum

vorliegt?


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