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Allgemeine Grundrechtslehren
GR-Bindung beim Vollzug europäischen Rechts
GR-Bindung beim Vollzug europäischen Rechts
7. März 2025
13 Kommentare
4,7 ★ (10.636 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Der Bundestag erlässt zwei Gesetze als Reaktion auf jüngste EU-Gesetzgebung. Gesetz A ist unionsrechtlich vollständig vorgegeben (determiniert), Gesetz B füllt den bestehenden unionsrechtlichen Umsetzungsspielraum aus. Die C-Fraktion hält beide Gesetze für grundrechtswidrig und klagt vor dem BVerfG.
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Einordnung des Falls
GR-Bindung beim Vollzug europäischen Rechts
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Deutsches Recht steht über dem EU-Recht und ist daher alleiniger Maßstab für die Rechtmäßigkeit von deutschen Gesetzen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die EU-Grundrechtscharta genießt immer Anwendungsvorrang.
Nein, das trifft nicht zu!
3. Gesetze A und B müssen aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts vom BVerfG beide ausschließlich am Maßstab der EU-Grundrechtscharta gemessen werden.
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Viooola
2.12.2024, 22:54:46
Ist das nicht umstritten, ob EU-Recht Anwendungsvorrang hat oder nicht?
as.mzkw
1.1.2025, 15:59:39
Nein, nicht dass ich wüsste. Hast du eine Fundstelle?
Magnum
10.1.2025, 12:40:19
Ich kann mich nur @[as.mzkw](244917) anschließen. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts ist absolut gesicherte EuGH-Rechtsprechung (s.
UrteilCosta/ENEL). Er wird nur von rechtspopulistischen Regierung wie der von Orban in Ungarn in Frage gestellt, was aber für Klausuren hierzulande keine Bewandnis hat.
Trowa Barton
10.2.2025, 15:53:44
@[Viooola](278844) Umstritten ist nicht der Anwendungsvorang als solches sondern die Frage, ob das EU-Recht über dem Verfassungsrecht steht oder nicht. Die Frage, ob Fragen der Grundrechte das BVerfG oder der EUGH das letzte Wort hat ist in den
Urteilen [EUGH: Costa Vs ENEL; BVerfG "Solange I" (BVerfGE 37, 271 ff.), BVerfG "Solange II" (BVerfGE 73, 339), BVerfG "Honeywell Sondervotum" (BVerfGE 126, 286), BVerfG "PSPP Ultra-Vires" (BVerfGE 154, 17) ] zu teilen unterschiedlich entschieden Worden. Grund für die unterschiedlichen Auffassungen sind die unterschiedlichen Startpunkte. Das BVerfG sieht den Staat als Ursprung der EU, womit das Parlament nicht mehr Kompetenz an die EU überschreiben kann als das GG dem Parlament überhaupt an Dispositionsrecht verschafft. Der EUGH auf der anderen Seite sieht die EU als einen Supranationalen Verbund, der durch seine Organe anstelle der Mitgliedstaaten deren Befugnisse im Rahmen des überschriebenen ausübt. Persönliche Meinung: Offensichtlich hat der EuGH ein Interesse daran das Unionsrecht weit auszulegen, damit er einerseits zuständig bleibt und andererseits die Staaten sich an ihre Vereinbarungen halten. Weiter in der Sache: Das BVerfG hatte bereits mit Solange I entschieden, dass es bei bestehen einer Rechtsstaatskontrolle der EG (heute EU) am Maßstab des GG und sicherer Gewährleistung mindestens gleichwertigen Grundrechtsschutzes, dazu bereit ist dem EUGH die Grundrechtskontrolle für volldeterminierte Akte (Verordnungen der EU) zu
überlassen. Diesem Beschluss folgend kam es mit Solange II zum Ergenis, dass dieser Standard inzwischen erreicht sei (das war bereits 1986). In den Verfahren Honeywell und PSPP ging es um die Frage, ob der EUGH und die EU im Zweifel nicht das letzte Wort behalten würden, sofern das Prinzip der Einzelermächtigung (Art. 5 I S. 1 EUV) überschritten wird (sog. ausbrechender Rechtsakt) oder die für die Union verordnete Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I S. 2 und IV EUV) nicht eingehalten wird (sog. Ultra-Vires-Akt). Bei Honeywell kam die Mehrheit der BVerfG Richter zu dem Ergebnis es sei noch verhältnismäßig gewesen. Im Rahmen des PSPP Verfahren war der EUGH für sein
Urteilbereits mit der Antwort der EZB, ohne weitere Überprüfung derselben, zufrieden was dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht genügte (so das BVerfG). Der Statusquo ist damit eigentlich seit 1986 (Solange II) gleich, wobei der Maßstab eigentlich sogar schon 1976 (Solange I) bereitgelget wurde. Ich persönlich empfinde das Verständnis des BVerfG zum Unions- (vormals Gemeinschafts-) Recht als sinnvoller. Ich kann die Lektüre der
Urteile nur empfehlen (ich weiß hört man oft, aber die kann man in einer Lerngruppe sehr gut vorstellen und besprechen). Im Übrigen kann ich zu dem Thema auch Sauer: Staatsrecht III empfehlen.
Viooola
11.2.2025, 22:32:16
@[Trowa Barton](136059) danke für deine tolle Antwort! Dann werde ich mir die Entscheidungen nochmal angucken :)
Jimmy105
30.12.2024, 12:03:20
gibt es bestimmte Worte oder andere Anzeichen die auf eine volldeterminierte Norm hindeuten? Oder anders gefragt: Woran erkennt man dies?
as.mzkw
1.1.2025, 15:51:25
Ein Beispiel sind sog. vollharmonisierende Richtlinien. Diese lassen den Mitgliedstaaten bei deren Umsetzung keinerlei Gestaltungsspielraum, sodass es sich hi
erbei dann im vollständig determiniertes EU-Recht handelt. Im Übrigen dürfte in einer Klausur in jedem Fall darauf hingewiesen werden.
Jimmy105
5.1.2025, 09:35:18
Und im echten Leben?
SM2206
5.2.2025, 06:40:59
Bei einer Richtlinie würdest du das an den Erwägungsgründen erkennen. Dort ist angegeben, ob die Richtlinie vollharmonisierend sein soll, d.h. ob die Mitgliedstaaten im Anwendungsbreich bei der Umsetzung in nationales Recht abweichen dürfen oder nicht. Dürfen sie es nicht, liegt volldeterminiertes Recht vor. Da Verordnungen gem. Art. 288 II AEUV unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gelten, wäre jeder Rechtsakt, der auf Grundlage der Verordnung ergeht (sofern nicht die Verordnung selbst Spielräume eröffnet), also insbes. jeder VA, volldeterminiertes Recht. Die Idee ist letztlich, dass das BVerfG kein EU-Recht kontrolliert. EU-Recht liegt aber eben auch dann vor, wenn der nationale Rechtsakt genau so ergehen muss, wie das EU-Recht es vorsieht, die Mitgliedstaaten also keine Spielräume haben.
Magnum
10.1.2025, 12:44:09
Bei Rechtsakten, bei denen der deutsche Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum hat, gibt es ja Teile des Rechtsakts, die vorgeschrieben sind, und Teile, die determiniert sind. Muss man also innerhalb eines Rechtsaktes danach differenzieren, ob dieser Teil voll determiniert und damit vom EU-Gesetzgeber "kam" und somit die GRCh anwendbar ist oder der deutsche Gesetzgeber den Umsetzungsspielraum genutzt hat und somit die Grundrechte anzuwenden sind? Oder werden pauschal Grundrechte angewandt? Vielen Dank!

Cosmonaut
16.2.2025, 11:21:01
Hallo JF, in diesem Kontext wäre ein Hinweis auf die Recht auf Vergessen-Rspr.(Entwicklung) sinnvoll, oder? Anbei eine Zusammenfassung aus meiner persönlichen Examensvorbereitung: Karteikarte: Europäische Integration auf Ebene der Rspr. (in-a-nutshell): Verlauf der europ. Integration musste auch auf Ebene der Rspr. vollzogen werden. Während der EuGH mit Costa/Enel das Gemeinschaftsrecht und damit die europ. Integration uneingeschränkt in den Vordergrund rückte, negierte er zugleich auch die nationalstaatlichen Verfassungen. Das BVerfG zeigte dem EuGH mit dem Solange-I Beschluss deutliche Grenzen auf, ohne jedoch den Weg zu mehr Integration vollständig zu versperren („Solange…“ (I)). Der EuGH nahm den Auftrag des BVerfG an und trug maßgeblich zur Etablierung europäischer Grundrechtsstandards bei. Dies wurde mit dem Solange-II Beschluss vom BVerfG anerkannt, indem es seine Prüfungskompetenz hins. der nationalen GR aussetzte und sich auf eine bloße Auffangverantwortung zurückzog: Mit Ausnahme der Ultra-vires- und Identitätskontrolle nimmt das BVerfG somit zurzeit grds. keine Überprüfung von europäischen Recht anhand deutschen Verfassungsrechtes mehr vor. In den „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen ging es dann vielmehr um die Frage, welche Prüfungskompetenz dem BVerfG im Bereich NICHT vollständig determinierten Unionrechts zukommt (RaV I; Stichwort: „Medienprivileg“) sowie später im Bereich vollständig determinierter Rechtsakte der Union (RaV II); mittlerweile war der Art. 6 I EUV aktiviert, welcher die GRCh zu verbindlichem Primärrecht der MS erklärte (Solange-Rspr. damit ad acta). Während das BVerfG in RaV I feststellte, dass nationale (—> deutsche) Grundrechte gerade in dem von der EU gewährleisteten nicht determinierten Einfallbereich für das deutsche Recht innerhalb der Unionsakte wohl zu prüfen sind, mithin vielmehr eine Grundrechtsvielfalt als ein Grundrechteimperialismus verfolgt wird, liegt die Sache im Angesicht von voll determiniertem EU-Recht anders: In RaV II entschied das BVerfG, dass das deutsche BVerfG – angesichts einer grundgesetzlichen „europäischen Integrationsverantwortung“ (RaV II, Art. 23 I 1 GG) – seinen institutionellen Prüfungsmaßstab auch auf europäische
Unionsgrundrechteausweiten kann – sich dann allerdings auf die Prüfung der insoweit Schutzniveau-gleichen GRCh beschränkt.