+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
B Bürger der Stadt S beantragt Überlassung des Bürgersaals für eine Veranstaltung der israelkritischen BDS-Kampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“) mit dem Titel „Wie sehr schränkt S die Meinungsfreiheit ein?“. Der Bürgersaal wird von einer städtischen Eigengesellschaft (G) verwaltet. S lehnt die Überlassung des Bürgersaals an B ab.
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Einordnung des Falls
Zugangsbeschränkung für öffentliche Einrichtung wegen Beschränkung des Widmungszwecks (BVerwG, Urt. v. 20.01.2022 - 8 C 35.20)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. B hält die Ablehnung für rechtswidrig und erhebt Klage zum Verwaltungsgericht. Er verlangt, S solle ihm den Bürgersaal vermieten. Ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet?
Ja!
Der Verwaltungsrechtsweg ist mangels Sonderzuweisungen dann nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt. Bei Streitigkeiten um den Zugang zu und die Benutzung von öffentlichen Einrichtungen wird der Rechtsweg nach der Zweistufentheorie bestimmt: Verlangt der Kläger Zulassung zur Einrichtung (1. Stufe), geht es um das „ob“ der Benutzung, also um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch. Ist Klagegegenstand das Benutzungsverhältnis, also das „wie“ der Benutzung (2. Stufe), kommt es darauf an, ob die Behörde das Benutzungsverhältnis öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ausgestaltet.
B verlangt Zulassung zum Bürgersaal. Dies richtet sich nach der Gemeindeordnung des Bundeslandes, in dem S liegt. Die Streitigkeit liegt daher auf 1. Stufe und ist öffentlich-rechtlich. Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet.
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2. Die statthafte Klageart ist eine Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO).
Nein, das ist nicht der Fall!
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (vgl. § 88 VwGO). Die Verpflichtungsklage ist statthaft, wenn der Kläger den Erlass eines Verwaltungsakts begehrt. Dagegen ist die allgemeine Leistungsklage statthaft, wenn der Kläger eine Leistung begehrt, die nicht Erlass oder Aufhebung eines Verwaltungsakts ist.
B verlangt Zulassung zum Bürgersaal. S selbst betreibt diesen aber nicht, sondern G. B erlangt den Zugang zum Bürgersaal also nicht durch einen rechtsgewährenden Verwaltungsakt der S. Vielmehr verlangt B von S, so auf ihre städtische Eigengesellschaft G einzuwirken, dass G dem B die Nutzung gewährt (sog. Einwirkungs- oder Verschaffungsanspruch, RdNr. 14). Die Einwirkung stellt keinen begünstigenden Verwaltungsakt dar. Folglich ist die allgemeine Leistungsklage die statthafte Klageart.
3. Auch bei der allgemeinen Leistungsklage ist eine Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) erforderlich, die für B daraus folgt, dass er möglicherweise einen Anspruch auf Überlassung des Bürgersaals hat.
Ja, in der Tat!
Eine Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) ist ausdrücklich nur für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen erforderlich. Sie setzt voraus, dass der Kläger zumindest die Möglichkeit geltend macht, in seinen subjektiven Rechten verletzt zu sein. Die Rechtsprechung verlangt eine Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO auch für die anderen Klagearten, um Popularklagen zu verhindern. B müsste also auch für die allgemeine Leistungsklage klagebefugt sein.
B kann geltend machen, zumindest möglicherweise einen Anspruch auf Zugang zur Bürgerhalle aus der Gemeindeordnung seines Bundeslandes oder aus Art. 3 Abs. 1 GG zu haben. B ist klagebefugt.
Der Fall spielte im Original in Bayern. Hier ergibt sich der Anspruch auf Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung aus § 21 Abs. 1 BayGO. Entsprechende Anspruchsgrundlagen existieren in nahezu allen Bundesländern, z.B. § 20 HessGO oder § 14 ThürKO.
4. Nach Verweigerung der Überlassung des Saals an B haben mit Bs geplanter Veranstaltung thematisch vergleichbare Veranstaltungen in privaten Räumen stattgefunden. Fehlt B daher das Rechtsschutzbedürfnis?
Nein!
Eine Klage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis hat. Das Rechtsschutzbedürfnis ist das berechtigte Interesse des Klägers, zur Erreichung seines Rechtsschutzes ein Gericht in Anspruch zu nehmen. Es fehlt, (1) wenn der Kläger sein Ziel auf andere Weise einfacher oder schneller erreichen kann, (2) wenn ein stattgebendes Urteil die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern würde oder (3) wenn hierzu bereits ein Verfahren anhängig oder ein Urteil gefallen ist.
Bs Rechtsschutzbedürfnis könnte fehlen, weil bereits auf privaten Veranstaltungen über Bs geplantes Veranstaltungsthema diskutiert werden konnte. Bs Klagebegehren ist aber erkennbar darauf gerichtet, die Diskussion über Meinungsfreiheit in S in einem Raum der S stattfinden zu lassen (RdNr. 10). Die durchgeführten Veranstaltungen fanden in privaten Räumen statt. B hat daher ein berechtigtes Interesse an einem gerichtlichen Urteil.
Alle sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klage ist zulässig.
5. Die Klage ist begründet, soweit B einen Anspruch auf Überlassung des Bürgersaals hat. Kann sich dieser Anspruch grundsätzlich aus der Gemeindeordnung von Bs Bundesland ergeben (hier: § 21 Abs. 1 S. 1 BayGO)?
Genau, so ist das!
Der Anspruch auf Überlassung einer öffentlichen gemeindlichen Einrichtung ergibt sich aus der Gemeindeordnung in Verbindung mit dem geltenden Recht, das heißt mit dem Widmungszweck der Einrichtung, der Nutzungssatzung und dem sonstigen materiellen Recht. Als formelle Voraussetzung für die Überlassung der öffentlichen Einrichtung muss der Kläger – wie hier erfolgt – einen Antrag auf Überlassung an die zuständige Stelle gestellt haben. Materiell ist erforderlich, dass (1) es sich bei dem Bürgersaal um eine
öffentliche Einrichtung handelt, (2) B zum nutzungsberechtigten Personenkreis gehört und (3) die Benutzung im Rahmen des geltenden Rechts erfolgt.
6. Obwohl der Bürgersaal in S von der Gesellschaft G und nicht von der Stadt selbst betrieben und verwaltet wird, handelt es sich um eine öffentliche Einrichtung.
Ja, in der Tat!
Eine öffentliche Einrichtung ist jeder Gegenstand, den die Gemeinde im öffentlichen Interesse unterhält und durch Widmung der Benutzung der Allgemeinheit zugänglich macht. Der Begriff der gemeindlichen Einrichtung ist dabei weit zu verstehen: Die Gemeinde unterhält die Einrichtung, wenn sie die wesentlichen Entscheidungen über die Benutzung treffen kann. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn die Gemeinde Eigentümerin ist, sondern auch dann, wenn sie die Sachherrschaft hat, zum Beispiel über den beherrschenden Einfluss über einer städtische Eigengesellschaft, die die Einrichtung nach außen betreibt.
Der Bürgersaal ist ein benutzbarer Gegenstand, der für die Allgemeinheit zur Benutzung gewidmet ist. G ist städtische Eigengesellschaft der S, sodass S beherrschenden Einfluss ausüben kann. Der Bürgersaal ist also gemeindlich.
Darüber hinaus gehört B als Bürger der S auch zum Kreis der Nutzungsberechtigten: dies sind primär die Gemeindeangehörige bzw. Bürger der Gemeinde (vgl. § 21 Abs. 1 S. 1 BayGO). 7. Da der Bürgersaal eine öffentliche Einrichtung ist und B zum nutzungsberechtigten Personenkreis zählt, kann er ohne weitere Voraussetzungen Zugang zum Bürgersaal verlangen.
Nein!
Der Benutzungsanspruch besteht nur dann, wenn seine formellen und materiellen Voraussetzungen vorliegen. Über die bereits geprüften materiellen Voraussetzungen hinaus ist auch erforderlich, dass die begehrte Nutzung sich im Rahmen des Widmungszwecks und des geltenden Rechts bewegt. Dazu gehören alle materiellen Rechtsnormen. Bewegt sich eine begehrte Nutzung außerhalb des Widmungszwecks, besteht der Zulassungsanspruch nicht – vorausgesetzt, die Beschränkung der zulässigen Nutzung ist wirksam.
8. Der Stadtrat von S hat die Nutzung des Bürgersaals für BDS-Veranstaltungen durch eine Widmungsbeschränkung ausgeschlossen. Greift dies in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein?
Genau, so ist das!
Meinungen sind Werturteile jeder Art, unabhängig von ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit. Die Meinungsfreiheit schützt das Haben, Äußern und Verbreiten einer Meinung. Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit ist jede staatliche Verkürzung des Schutzbereiches und liegt bereits dann vor, wenn an eine bestimmte Meinung negative Konsequenzen geknüpft werden (RdNr. 18).
Auf BDS-Veranstaltungen werden Meinungen über Israel gebildet und geäußert, die unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG fallen. Das ist auch der Fall bei (mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbaren) israelfeindlichen und antisemitischen Meinungen. Aus dem Schutzbereich ausgeschlossen sind nur Äußerungen von Schmähkritik und Formalbeleidigungen. Laut Stadtratsbeschluss können Personen eine Veranstaltung, die sich mit der BDS-Kampagne beschäftigt, nicht in städtischen Einrichtungen durchführen. Die Rechtsfolge – eine bestimmte Meinungsbekundung zu verhindern – stellt einen zielgerichtet regulativen Grundrechtseingriff dar. Es werden negative Konsequenzen an eine bestimmte Meinungskundgabe geknüpft und damit mittelbar in die Meinungsfreiheit eingegriffen (RdNr. 19).
9. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit ist aber gerechtfertigt und der Stadtratsbeschluss daher wirksam, sodass der Stadtratsbeschluss den Widmungszweck des Bürgersaals nachträglich beschränken kann.
Nein, das trifft nicht zu!
Der Stadtratsbeschluss ist wirksam, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Dafür müsste das Grundrecht zunächst überhaupt einschränkbar sein („Schranke“) und der Eingriff den Voraussetzungen der Schranke genügen („Schranken-Schranke“).
Die Meinungsfreiheit ist nur durch allgemeine Gesetze einschränkbar (Art. 5 Abs. 2 GG), die nicht eine bestimmte Meinung als solche verbieten. Der Stadtratsbeschluss ist nicht meinungsneutral, sondern verbietet die Auseinandersetzung mit der BDS-Kampagne. Auch verfassungswidrige, antisemitische Meinungen können nicht von vornherein untersagt werden, denn die Meinungsfreiheit gilt unabhängig von der Richtigkeit oder Wertigkeit der Meinung. Anderes gilt erst, wenn die Meinungen erkennbar den öffentlichen Frieden gefährden oder strafbar sind. Es bestehen aber keine Anhaltspunkte, dass BDS-Veranstaltungen regelmäßig mit strafbaren Handlungen (z.B. §§ 130, 185 StGB) oder Aufstacheln zum Judenhass einhergehen (RdNr. 21). Der Eingriff ist also nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt: es ist einer Gemeinde nicht erlaubt, Veranstaltungen allein wegen unerwünschten Meinungen zu verbieten.
Außerdem muss die Schranke ein allgemeines „Gesetz“ sein. Der Stadtratsbeschluss besitzt aber keine Rechtsnormqualität, kann also keine hinreichende Schranke sein (RdNr. 21).
10. Außerdem verstößt der Stadtratsbeschluss gegen die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und kann daher keine wirksame nachträgliche Widmungsbeschränkung darstellen.
Nein!
In der Revision hatte B auch eine Verletzung seiner Versammlungsfreiheit gerügt. Dieses Grundrecht tritt aber hinter das im Einzelfall speziellere Grundrecht der Meinungsfreiheit zurück, da nicht die Versammlung als solche, sondern eine bestimmte Meinungsbildung und -äußerung auf der Versammlung unterbunden werden sollte (RdNr. 22). Eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 GG liegt daher nicht vor.
11. Darüber hinaus verstößt der Stadtratsbeschluss auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und kann daher keine wirksame nachträgliche Widmungsbeschränkung darstellen.
Genau, so ist das!
Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liegt vor, wenn zwei wesentlich gleiche Sachverhalte ohne sachlichen Grund ungleich behandelt werden.
(1) Veranstaltungen, die sich mit den Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen und (2) alle sonstigen politischen Veranstaltungen (Vergleichsgruppe) werden ungleich behandelt, da nur letztere in öffentlichen Einrichtungen stattfinden können. Hierfür fehlt aber jeder sachliche Grund, da eine Widmungsbestimmung kein Druckmittel sein darf, bestimmte Meinungen durchzusetzen oder zu verbieten. Eine Differenzierung, die gegen die Meinungsfreiheit verstößt, kann keinen sachlichen Grund haben. Der Stadtratsbeschluss verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG tritt aber hinter Art. 5 Abs. 1 GG zurück, da sich die Differenzierung in der Meinungsäußerung erschöpft (RdNr. 23).
Im Ergebnis kann der verfassungswidrige Stadtratsbeschluss die Widmung des Bürgersaals nicht nachträglich beschränken. B hat daher einen Einwirkungsanspruch auf Überlassung des Bürgersaals im Rahmen seiner Kapazitäten. Die Klage ist erfolgreich.
12. S legte Berufung ein. Der VGH ging ohne weitere Sachaufklärung davon aus, S wolle Bs Meinungsfreiheit zielgerichtet beschränken. Dagegen geht S vor und rügt vor dem BVerwG einen Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO. Zu Recht?
Nein, das trifft nicht zu!
Gemäß § 86 Abs. 1 VwGO muss das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufklären (Untersuchungsgrundsatz). Das gilt unabhängig von dem Vorbringen und den Beweisanträgen der Parteien. Ein Verstoß stellt einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und damit einen Revisionsgrund dar. Die Verfahrensrüge bei fehlerhafter Amtsermittlung setzt aber voraus, dass der Beteiligte im Verfahren substantiierte Beweisanträge gestellt oder auf die Notwendigkeit weiterer Sachverhaltsaufklärung gedrängt hat.
Der VGH hat das Ergebnis des VG-Urteils, S wolle Bs Meinungsfreiheit gezielt einschränken, ohne weiteres zugrunde gelegt und nicht selbst den Sachverhalt ermittelt. S hat diesen Verstoß aber nicht ordnungsgemäß gerügt, da sie nicht dargelegt hat, welche Aufklärungsmaßnahmen sich dem VGH hätten aufdrängen müssen und wie dies zu einer anderen Entscheidung geführt hätte (RdNr. 11). Die Revision ist erfolglos.