Heimtücke bei Kleinstkindern
12. April 2025
23 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M und V sind Eltern eines Schreikindes. Sie wechseln sich mit der Nachtwache am Bett ihres Säuglings O ab. Als M die Nachtwache übernimmt und V im Nebenzimmer eingeschlafen ist, fängt O an zu schreien. M nutzt die Situation, dass V schläft, aus und erwürgt O.
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Einordnung des Falls
Heimtücke bei Kleinstkindern
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. O war im Zeitpunkt der Tötung "arglos".
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. M hat O heimtückisch (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB) getötet, wenn sie die Arg- und Wehrlosigkeit des V ausgenutzt hat.
Genau, so ist das!
3. V war zum Zeitpunkt der Tötung "arg- und wehrlos".
Ja, in der Tat!
4. M hatte Vorsatz bezüglich der heimtückischen Ausführung der Tötung (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB).
Genau, so ist das!
5. Die M hat die Arglosigkeit des schlafenden V bewusst ausgenutzt.
Ja, in der Tat!
6. M handelte in "feindseliger Willensrichtung".
Ja, in der Tat!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
bibu knows best
17.7.2022, 16:22:57
Wir hatten den Fall einmal in der F AG in ähnlicher Konstellation. Dort wurde dem Säugling ein bitteres Gift in die Flasche gefüllt und mit süßen Tee vermischt. Wir hatten dort genannt, dass auch ein Baby arglos sein kann, weil es natürliche Abwehr Mechanismen hat. Zb durch das Ausspucken von Essen oder Trinken, was nicht schmeckt.

Lukas_Mengestu
18.7.2022, 15:36:20
Hallo Bibu knows best, sehr guter Hinweis! Der BGH hat diese Differenzierung in einem Fall gemacht, in dem es um die Verabreichung eines Schlafmittels ging, welches in die Nahrung eines Säuglings untergemischt wurde (vgl. BGH, Urt. v. 07.06.1955 - 5 StR 104/55 = NJW 1955, 1524, 1525). Wir haben den Hinweistext entsprechend präzisiert :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-team
Marius
8.9.2022, 19:25:23
Frage zur allerersten Frage (ob Säugling O arglos ist): Ist jemand, der keinen
Argwohnbilden kann, nicht immer arglos? Wenn ich jemandem nicht misstrauen kann, traue ich ihm also immer. Ich bin also immer arglos. Richtig? Die Ausführungen der folgenden Fragen sind unstrittig. Ich finde nur die Fragestellung/vorgegebene Antwort der ersten Frage unlogisch. Diese suggeriert nach meinem Verständnis nämlich folgendes: ich kann keinen
Argwohnbilden und bin daher immer argwöhnisch. Eigentlich müsste die Schlussfolgerung aber genau umgekehrt sein. Ich habe auch die Subsumtion und Vertiefung nochmal genau gelesen und denke, dass sich hier ein Fehler eingeschlichen hat („stimmt“ und „stimmt nicht“ vertauscht).
Marius
8.9.2022, 19:30:06
Hat sich erledigt. Mir ist mein Denkfehler aufgefallen: Kann ich keinen
Argwohnbilden, bin ich auch nicht arglos, sondern quasi „nichts“.
InDubioProsecco
2.6.2023, 15:49:23
In dem anderen Fall mit dem angezündeten Haus wird geschrieben, dass schlafende Eltern nicht schutzbereit sind, weil sie zum Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens schlafen und somit zur Verteidigung außerstande sind. Hier ist es anders, V schläft und trotzdem wird die Ausnutzung schutzbereiter Dritter bejaht. Was ist der Unterschied?
/qwas
22.1.2024, 17:44:12
Ist mir auch nicht ganz klar.

marimo
22.5.2024, 17:35:03
Ich denke der Unterschied liegt darin, dass in diesem Fall V seine Schutzfunktion ausüben könnte aber deshalb nicht ausgeübt hat, weil er das Kind der M anvertraut hat (und sich dabei keines Angriffs der M auf O versehen hat). Bei dem brennenden Haus hatten die Eltern keine Möglichkeit ihre Schutzfunktion auszuüben, weil sie eben zum Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens ohnehin nicht dazu in der Lage gewesen sind (eben weil sie geschlafen haben).
Lilyphant
18.7.2024, 16:59:03
Das heißt, wenn ich mein Kind bewusst in die Situation gebe, in der am Ende die Tötung geschieht, war ich arglos, wenn ich nur normal mein Leben lebe und der Täter tätig wird, dann nicht?
Lalalu
15.8.2024, 13:52:48
Laut BGH ist schützender Dritter nur, wer den Schutz tatsächlich ausübt oder dies nicht tut, weil er dem Täter vertraut. Nach Vorstellung des Täters sollten jedoch im Fall des brennenden Hauses alle Bewohner im Schlaf sterben.

Sophiechen.2002
7.7.2023, 16:54:21
Ich habe gelernt, dass man bei Schlafen gar nicht in der Lage ist
Argwohnzu bilden und somit auch nicht arglos sein kann. Gibt es dazu verschiedene Ansichten? Die Frage, die bereits oben unbeantwortet blieb, warum in dem Fall mit dem brennenden Haus anders entschieden wird, stellt sich mir auch und ich würde mich diesbezüglich auch sehr über eine Antwort freuen.

Skra8
15.7.2023, 15:39:31
Strittig ist sofern ich richtig informiert bin, nur die Behandlung von B
esinnungslosen in vorliegender Sache. Bei Schlafenden gibt es mit großer Sicherheit eine Meinung, die vertritt, dass Schlafende grundsätzlich nicht heimtückisch ermordert werden können. Allerdings ist mir eine solche Meinung weder bekannt, noch würde daraus keine Baustelle machen, denn der Bundesgerichtshof hat klargestellt; „Der Schlafende nimmt die
Arglosigkeitmit in den Schlaf“. Auf gut Deutsch: Würdest Du bei dem Betroffenen kurz vor dem Schlaf die Heimtücke bejahen, dann mach dies auch bei der schlafenden Person.
Haughty Onion
25.10.2023, 10:34:37
wenn kein schutzbereiter Dritter vorhanden ist liegt also keine Heimtücke vor. Das bedeutet, wenn beide Elternteile zsm wirken liegt "nur" Totschlag vor? Ist das nicht eine unangemessene Privilegierung im Hinblick auf die erhöhte kriminelle Energie? so stehen die Täter ja letztlich besser als wenn einer arglos wäre
Leo Lee
29.10.2023, 10:45:54
Hallo Haughty Onion, in der Tat läge dann keine Heimtücke vor, weil gerade keine
Arglosigkeitvorhanden war, die ausgenutzt werden konnte. Allerdings ist dies auch konsequent, da die Heimtücke allen voran denjenigen bestrafen soll, der die Verteidigungsmöglichkeit kennt, jedoch bewusst um diese „drumrumsteuert“, um sodann auf besonders perfider Weise das Opfer zu töten. Ein Wertungswiderspruch wird dann aber dadurch vermieden, dass Eltern, die ihre Kinder töten, meistens wegen niedriger Beweggründe verurteilt würden. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Fischer StGB 69. Auflage § 211 Rn. 38c empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

antoniasophie
14.12.2023, 05:31:07
„in feindseliger Willensrichtung“ prüfe ich also im objektiven Tatbestand im Rahmen des Mordmerkmals?

Lukas_Mengestu
15.12.2023, 10:20:51
Hallo Antonia, das Merkmal der feindlichen Willensrichtung bezieht sich auf die innere Vorstellung des Täters. Die Rechtsprechung hat früher in Ausnahmefällen damit also den subjektiven Tatbestand beschränkt und gehört damit zum subjektiven Tatbestand. Wir haben das im Hinweistext noch einmal präzisiert. Allerdings hat sich der BGH zunehmend von einer Verengung des Tatbestandes verabschiedet und versucht Ausnahmekonstellationen primär auf Rechtsfolgenseite zu lösen, also in Ausnahmefällen keine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen. Mehr zur feindlichen Willensrichtung findest Du auch bei MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl. 2021, StGB § 211 Rn. 197. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Snips Argent
8.5.2024, 16:15:47
Ich habe jetzt verschiedene Fälle gesehen, bei der das
Ausnutzender
Arglosigkeiteines schlafenden dritten abgelehnt wird, weil sich diese zu diesem Zeitpunkt nicht in der Ausübung ihrer Schutzfunktion befindet. M würde somit nicht die Arglosikeit von
ausnutzen, weil dieser in dem schlafenden Zustand nicht seine Schutzfunktion ausübt die Heimtücke würde abgelehnt werden. Somit ist es eine weitere Vorraussetzung die im bewussten
Ausnutzender Situation geprüft werden muss, ob die dritte Person sich in der Ausübung der Schutzfunktion befindet oder nicht. Muss man nochmal unterscheiden zu dem Fall wir er hier vorliegt oder wann würde sowas wichtig werden? ich habe da ein wenig Klärungsbedarf😅

Maximilian Puschmann
10.5.2024, 14:57:25
Hallo Snips Argent, hier war das Vertrauen des V auf die M ausschlaggebend, weswegen er sich schlafen legte und dadurch noch in der notwendigen räumlichen Nähe war. Eine sehr detaillierte Übersicht findest du in MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl. 2021, StGB § 211 Rn. 177. Beste Grüße Max - für das Jurafuchs-Team


Charles "Chuck" McGill
13.3.2025, 17:13:15
Ich weiß, es ist h. M.. Aber das ist meiner (wahrscheinlich kontroversen) Meinung nach purer Unsinn.
Arglosigkeitist richtiger Weise die Abwesenheit von
Argwohn. Wer nicht argwöhnisch sein kann, ist damit per Definition arglos. Dieser Umkehrschluss, nur wer argwöhnisch sein will könne auch arglos sein, ergibt schlicht keinen Sinn.
Arglosigkeitist schließlich kein aktiver Zustand. Wir gehen nicht durch die Welt und denken uns jede Sekunde: "Ich bin in Sicherheit, es ist keine Gefahr hier". Wir gehen durch die Welt, und solange wir uns nicht aktiv denken "Ich bin Gefahr" (=
Argwohn) sind wir (passiv) arglos. Die Tatsache, dass Babys keinen
Argwohnbilden können, führt nicht dazu, dass sie nicht arglos sein können. Im Gegenteil, sie sind es durchgängig. Wenn ich mich recht entsinne, sieht Fischer das ähnlich und wahrscheinlich noch einige andere in der Literatur. Ich meine, dass Fischer schrieb, der BGH griff auf diesen "Kunstgriff" wohl vor allem deshalb zurück, weil er alleinstehende Mütter die (ggf. aus Verzweiflung) ihre Babys töten, nicht zwingend wegen Mordes bestrafen wollte und will. Das mag nachvollziehbar sein. Dogmatisch ist das meiner Auffassung nach aber purer Unsinn und ich finde es schade, dass dieser Unsinn so weitgehend völlig unkritisch Akzeptanz findet. Das soll keine Kritik an der Aufgabe sein, ich weiß es wird einfach so gehandhabt. Ich wollte nur mal ungefragt meinen Senf dazu geben.