Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Beschlussfähigkeit mit widerleglicher Fiktion (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Beschlussfähigkeit mit widerleglicher Fiktion (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Nach Diskussionen bis spät in die Nacht will der Bundestag ein Gesetz beschließen (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG). Zu später Stunde nehmen nur noch 50 Abgeordnete an der Abstimmung im Plenum teil.

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Einordnung des Falls

Beschlussfähigkeit mit widerleglicher Fiktion (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Bundestag ist nach § 45 Abs. 1 GO-BT beschlussfähig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT). Die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl von 630 (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) sind 315 Abgeordnete. 50 Abgeordnete sind weniger als die geforderten 299 Abgeordnete.Zum 14.6.2023 wurde die (Regel-) Mitgliederzahl von 598 auf 630 Abgeordnete angehoben. Im Gegenzug wurden Überhangmandate abgeschafft, die dazu geführt hatten, dass der Bundestag faktisch deutlich mehr Mitglieder hatte (zuletzt 736).
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2. Die Beschlussfähigkeit des Bundestages wird aber nach § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT widerleglich vermutet.

Ja, in der Tat!

Sind weniger als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages im Sitzungssaal anwesend, (§ 45 Abs. 1 GO-BT) kann die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT greifen. Danach wird die Beschlussfähigkeit widerleglich vermutet, wenn die Beschlussunfähigkeit (1) von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder (2) vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt wird. Einfacher gesagt: Der Bundestag ist nach § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT beschlussfähig, wenn die Beschlussunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt wurde. Die Beschlussfähigkeit wurde von niemandem angezweifelt. Wird die Beschlussunfähigkeit festgestellt, hebt der Bundestagspräsident die Sitzung sofort auf (§ 45 Abs. 3 S. 1 GO-BT). Ein vom Bundestag gefasster Beschluss ist unwirksam, wenn der Bundestag beschlussunfähig ist. Auch wenn dieser Fall durch die Gesetzessystematik eigentlich als Ausnahme gekennzeichnet ist, stellt die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 2 S. 1 GG in der (Klausur-)Praxis eher den Regelfall dar.

3. Die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit des Bundestages nach § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT verstößt gegen das Demokratieprinzip, weil bei einem niedrigeren Anwesenheitserfordernis der Wille des Volkes nicht mehr repräsentiert wird (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG).

Nein!

Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Die Hauptarbeit findet in den parlamentarischen Gremien, insbesondere in den Ausschüssen (§§ 54-74 GO-BT), statt. Der Beschluss von Gesetzen im Plenum ist demgegenüber nachrangig. Die Rückbindung an den Volkswillen ist gewährleistet, weil in der Praxis darauf geachtet wird, dass beim Gesetzesbeschluss der anwesenden Abgeordneten der Fraktionsproporz gewahrt wird.
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