Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

12. Februar 2025

12 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Jurastudentin J und Schnösel S sitzen nach der Staatsorganisationsrechts-Vorlesung im Juri§hop des Bonner Juridicums. S behauptet kühn, es sei möglich, dass im Bundestag nur drei Personen einfache Gesetze beschließen könnten. J kann sich das nicht vorstellen und pöbelt S an. Wer hat Recht?

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Einordnung des Falls

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Frage der Beschlussfähigkeit des Bundestags ist ausdrücklich im Grundgesetz geregelt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Vereinzelt setzen Normen des Grundgesetzes die Beschlussfähigkeit zwar implizit voraus (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Die Beschlussfähigkeit unterliegt aber der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags, die in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG geregelt ist. Mangels einer anknüpfungsfähigen Norm, stellt § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT keine verfassungsrechtliche Konkretisierung dar. Die Vorgängerverfassungen des Grundgesetzes regelten die Beschlussfähigkeit noch selber (§ 98 Abs. 1 Paulskirchenverfassung; Art. 28 Abs. 1 S. 2 Bismarck'sche Reichsverfassung) oder überließen diese Frage ausdrücklich der Geschäftsordnung des Reichstags (Art. 32 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung).
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2. Der Bundestag kann die Beschlussfähigkeit kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) völlig frei ausgestalten.

Nein, das trifft nicht zu!

Diese Ausgestaltung muss sich wegen des Vorrangs der Verfassung im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen halten. Hierbei sind die Grenzen (1) des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG), (2) der Rechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2); sowie (3) der Vorschriften über die Beschlüsse des Bundestages (insbesondere Art. 42 Abs. 2 S. 1; 77 Abs. 1 S. 1 GG) zu beachten. Dieser Aufgabe liegt die Rechtslage vor der Wahlrechtsreform aus dem Jahr 2023 zu Grunde. Aufgaben, die wir nach dem neuen Wahlrecht gelöst haben, haben wir mit einem entsprechenden Tag versehen.

3. Der Bundestag ist grundsätzlich beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT).

Ja!

Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT). Die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl von 598 (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) sind 299 Abgeordnete. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG sieht die Möglichkeit einer Erhöhung der Mitgliederzahl vor. Diese entstanden nach dem vor 2023 gültigen Wahlrecht durch Überhang- und Ausgleichsmandate.

4. Wenn (entgegen § 45 Abs. 1 GO-BT) weniger als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist, ist der Bundestag automatisch beschlussunfähig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Bundestag ist nur beschlussunfähig, wenn (1) die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder anwesenden fünf Prozent der Mitglieder des Bundestags bezweifelt wird und (2) der Sitzungsvorstand sie nicht einmütig bejaht (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT). Die Beschlussfähigkeit wird also widerleglich vermutet, wenn die Beschlussunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt wurde. Wird ein Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gestellt, kommt es zum „Hammelsprung“.

5. Die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT) ist verfassungsgemäß.

Ja, in der Tat!

In erster Linie muss der Zurückhaltung der Verfassung bei der Regelung der Beschlussfähigkeit zugunsten der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) gebührend Rechnung getragen werden. Darüber hinaus überwiegen aber nach überwiegender Ansicht die praktischen Bedürfnisse eines arbeitsteiligen Parlaments die Beeinträchtigung des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG) durch das geringe Anwesenheitserfordernis beim Gesetzesbeschluss. § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT ist also grundsätzlich verfassungskonform, weil die Schlussabstimmung für die parlamentarische Willensbildung nur eine untergeordnete Bedeutung habe. Die eigentliche politische Beratung und Entscheidung finde in den Ausschuss- und Fraktionssitzungen statt. In diese Räume wird das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation also gewissermaßen „vorverlagert“. Die Annahme, dass die Schlussabstimmung eine „bloße Formalie“ sei, wird von Teilen der Literatur mit guten Gründen kritisiert. Sie sehen den Eigenwert der Schlussabstimmung in der Wahrung der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG; Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und des Öffentlichkeitsgrundsatzes (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG).

6. Auch wenn weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages (vgl. Art. 121 GG) beim Gesetzesbeschluss anwesend sind, ist der Bundestag beschlussfähig, wenn die Beschlussfähigkeit nicht bezweifelt wird (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT).

Nein!

Die absolute Untergrenze der Beschlussfähigkeit für die Anzahl der anwesenden Mitglieder sollte spätestens (!) bei einer Anwesenheit von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten gezogen werden. Es wäre in teleologischer Hinsicht absurd, wenn die Abgeordneten aufgrund ihrer geringen Zahl die Feststellung der Beschlussunfähigkeit nicht beantragen können (§ 45 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GO-BT), aber dennoch wirksam ein Gesetz beschließen könnten. Auch eine Untergrenze von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages wird diskutiert und kann vertreten werden. Dabei sollte aber eine Sensibilität für die aus der Arbeitsteilung resultierenden praktischen Bedürfnisse des Bundestages demonstriert werden.

7. S liegt richtig: Der Bundestag ist auch beschlussfähig, wenn nur drei Abgeordnete anwesend sind.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach Maßgabe des Geschäftsordnungsrechts wird widerleglich vermutet, dass der Bundestag mit nur drei Anwesenden beschlussfähig ist (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO BT). Die verfassungsrechtlich gebotene absolute Untergrenze der Beschlussfähigkeit sollte aber spätestens (!) bei einer Anwesenheit von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten gezogen werden. Fünf Prozent von 598 (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) Mitgliedern des Bundestages (vgl. Art. 121 GG) sind 30 Abgeordnete. Drei Abgeordnete sind weniger als 30 Abgeordnete. Somit sind weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestags anwesend. Wieviel Raum die Beschlussfähigkeit in der Fallbearbeitung einnehmen sollte, hängt vom Sachverhalt ab: (1) Sind mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend oder fehlen Angaben zur Anwesenheit, kann sollte die Beschlussfähigkeit in einem Satz mit § 45 Abs. 1 GO-BT bejaht werden. (2) Sind weniger als die Hälfte der Abgeordneten, aber mehr als 50 Abgeordnete anwesend, sollte die Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 1 GO-BT abgelehnt werden, um sie dann unter Hinweis auf die widerlegliche Vermutung des § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT doch noch zu „retten“. (3) Sind weniger als 50 Abgeordnete anwesend, handelt es sich regelmäßig um einen Schwerpunkt der formellen Verfassungsmäßigkeit. Hier solltest Du dich von der Regelung in der GO-BT lösen und versuchen, eine verfassungsrechtliche Untergrenze für die Beschlussfähigkeit festzulegen und unter Abwägung der praktischen Bedürfnisse des Parlaments (vgl. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) und den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG; Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) zu begründen.
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