Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

25. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Jurastudentin J und Schnösel S sitzen nach der Staatsorganisationsrechts-Vorlesung im Juri§hop des Bonner Juridicums. S behauptet kühn, es sei möglich, dass im Bundestag nur drei Personen einfache Gesetze beschließen könnten. J kann sich das nicht vorstellen und pöbelt S an. Wer hat Recht?

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Einordnung des Falls

Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Frage der Beschlussfähigkeit des Bundestags ist ausdrücklich im Grundgesetz geregelt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Vereinzelt setzen Normen des Grundgesetzes die Beschlussfähigkeit zwar implizit voraus (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Die Beschlussfähigkeit unterliegt aber der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags, die in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG geregelt ist. Mangels einer anknüpfungsfähigen Norm, stellt § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT keine verfassungsrechtliche Konkretisierung dar. Die Vorgängerverfassungen des Grundgesetzes regelten die Beschlussfähigkeit noch selber (§ 98 Abs. 1 Paulskirchenverfassung; Art. 28 Abs. 1 S. 2 Bismarck'sche Reichsverfassung) oder überließen diese Frage ausdrücklich der Geschäftsordnung des Reichstags (Art. 32 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung).
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2. Der Bundestag kann die Beschlussfähigkeit kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) völlig frei ausgestalten.

Nein, das trifft nicht zu!

Diese Ausgestaltung muss sich wegen des Vorrangs der Verfassung im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen halten. Hierbei sind die Grenzen (1) des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG), (2) der Rechte der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2); sowie (3) der Vorschriften über die Beschlüsse des Bundestages (insbesondere Art. 42 Abs. 2 S. 1; 77 Abs. 1 S. 1 GG) zu beachten. Dieser Aufgabe liegt die Rechtslage vor der Wahlrechtsreform aus dem Jahr 2023 zu Grunde. Aufgaben, die wir nach dem neuen Wahlrecht gelöst haben, haben wir mit einem entsprechenden Tag versehen.

3. Der Bundestag ist grundsätzlich beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT).

Ja!

Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT). Die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl von 598 (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) sind 299 Abgeordnete. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG sieht die Möglichkeit einer Erhöhung der Mitgliederzahl vor. Diese entstanden nach dem vor 2023 gültigen Wahlrecht durch Überhang- und Ausgleichsmandate.

4. Wenn (entgegen § 45 Abs. 1 GO-BT) weniger als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist, ist der Bundestag automatisch beschlussunfähig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Bundestag ist nur beschlussunfähig, wenn (1) die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder anwesenden fünf Prozent der Mitglieder des Bundestags bezweifelt wird und (2) der Sitzungsvorstand sie nicht einmütig bejaht (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT). Die Beschlussfähigkeit wird also widerleglich vermutet, wenn die Beschlussunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt wurde. Wird ein Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gestellt, kommt es zum „Hammelsprung“.

5. Die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT) ist verfassungsgemäß.

Ja, in der Tat!

In erster Linie muss der Zurückhaltung der Verfassung bei der Regelung der Beschlussfähigkeit zugunsten der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) gebührend Rechnung getragen werden. Darüber hinaus überwiegen aber nach überwiegender Ansicht die praktischen Bedürfnisse eines arbeitsteiligen Parlaments die Beeinträchtigung des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG) durch das geringe Anwesenheitserfordernis beim Gesetzesbeschluss. § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT ist also grundsätzlich verfassungskonform, weil die Schlussabstimmung für die parlamentarische Willensbildung nur eine untergeordnete Bedeutung habe. Die eigentliche politische Beratung und Entscheidung finde in den Ausschuss- und Fraktionssitzungen statt. In diese Räume wird das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation also gewissermaßen „vorverlagert“. Die Annahme, dass die Schlussabstimmung eine „bloße Formalie“ sei, wird von Teilen der Literatur mit guten Gründen kritisiert. Sie sehen den Eigenwert der Schlussabstimmung in der Wahrung der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG; Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und des Öffentlichkeitsgrundsatzes (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG).

6. Auch wenn weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages (vgl. Art. 121 GG) beim Gesetzesbeschluss anwesend sind, ist der Bundestag beschlussfähig, wenn die Beschlussfähigkeit nicht bezweifelt wird (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT).

Nein!

Die absolute Untergrenze der Beschlussfähigkeit für die Anzahl der anwesenden Mitglieder sollte spätestens (!) bei einer Anwesenheit von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten gezogen werden. Es wäre in teleologischer Hinsicht absurd, wenn die Abgeordneten aufgrund ihrer geringen Zahl die Feststellung der Beschlussunfähigkeit nicht beantragen können (§ 45 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GO-BT), aber dennoch wirksam ein Gesetz beschließen könnten. Auch eine Untergrenze von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages wird diskutiert und kann vertreten werden. Dabei sollte aber eine Sensibilität für die aus der Arbeitsteilung resultierenden praktischen Bedürfnisse des Bundestages demonstriert werden.

7. S liegt richtig: Der Bundestag ist auch beschlussfähig, wenn nur drei Abgeordnete anwesend sind.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach Maßgabe des Geschäftsordnungsrechts wird widerleglich vermutet, dass der Bundestag mit nur drei Anwesenden beschlussfähig ist (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO BT). Die verfassungsrechtlich gebotene absolute Untergrenze der Beschlussfähigkeit sollte aber spätestens (!) bei einer Anwesenheit von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten gezogen werden. Fünf Prozent von 598 (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) Mitgliedern des Bundestages (vgl. Art. 121 GG) sind 30 Abgeordnete. Drei Abgeordnete sind weniger als 30 Abgeordnete. Somit sind weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestags anwesend. Wieviel Raum die Beschlussfähigkeit in der Fallbearbeitung einnehmen sollte, hängt vom Sachverhalt ab: (1) Sind mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend oder fehlen Angaben zur Anwesenheit, kann sollte die Beschlussfähigkeit in einem Satz mit § 45 Abs. 1 GO-BT bejaht werden. (2) Sind weniger als die Hälfte der Abgeordneten, aber mehr als 50 Abgeordnete anwesend, sollte die Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 1 GO-BT abgelehnt werden, um sie dann unter Hinweis auf die widerlegliche Vermutung des § 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT doch noch zu „retten“. (3) Sind weniger als 50 Abgeordnete anwesend, handelt es sich regelmäßig um einen Schwerpunkt der formellen Verfassungsmäßigkeit. Hier solltest Du dich von der Regelung in der GO-BT lösen und versuchen, eine verfassungsrechtliche Untergrenze für die Beschlussfähigkeit festzulegen und unter Abwägung der praktischen Bedürfnisse des Parlaments (vgl. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) und den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 GG; Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) zu begründen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BAL

Balthasar

31.1.2023, 17:34:32

Meine Professorin für Staatsorganisationsrecht hatte in ihrer Musterlösung eines AG-Falls, in dem ein Gesetz mit etwas weniger als 30 Abgeordneten beschlossen wurde, vermerkt, dass auch in einem solchen Fall, ohne ein Monieren der Beschlussunfähigkeit, grundsätzlich die

formelle Verfassungsmäßigkeit

zu bejahen ist, aber im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip auch eine andere Ansicht vertretbar wäre. Ist diese hier benannte Untergrenze ein rechtliches Faktum oder bedürfte es dafür einer Entscheidung des BVerfG?

Paul

Paul

31.1.2023, 18:36:30

Hallo Balthasar, wie sich aus dem letzten Klausurhinweis ergibt, stellt die Grenze kein rechtliches Faktum da. Wie auch deine Professorin gesagt hat, kann man hier mit entsprechender Argumentation einiges vertreten und es ist letztlich eine Wertungsfrage. Jedoch halte ich das hier vertreten Argument, nach welchem eine Untergrenze jedenfalls bei 5% anzunehmen ist (Argument: nach §45 II 1 GOBT braucht es min. 5% der Abgeordneten, um die Beschlussunfähigkeit feststellen zu lassen), doch für sehr einleuchtend. Darüber kann man einiges vertreten. Auch eine Grenze von 25% wird vertreten. (Siehe Vertiefungshinweis)

PAULA

Paula_

4.8.2023, 10:42:03

Auch hier muss die Anzahl der Mitglieder des BT noch angepasst werden :)

DIAA

Diaa

5.10.2023, 20:42:56

Also für die Annahme einer wuderleglichen Vermutung müssen mindestens 50 Abgeordnete anwesend sein. Verstehe ich das richtig?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

6.10.2023, 11:58:16

Hallo Diaa, vielleicht hast du dich vertippt. Die entsprechende Zahl ist 30 Abgeordnete. Aber dann stimmt es. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

JUL

Julian

23.1.2024, 14:23:42

Wären es nicht schon 31? 5% von 630 wären 31,5 Abgeordnete. Rundet man in dem Fall auf oder ab? Würde man auf 32 aufrunden, wären schon 31 < 5%. Würde man abrunden auf 31 würde 30 stimmen.

AN

Anne

31.5.2024, 09:12:29

Einmal gebt ihr in der Lösung die aktuelle Fassung des BWahlG, der besagt, dass es 630 Abgeordnete gibt. Daran bemisst ihr auch die Hälfte der Abgeordnetenzahl (315). Bei der letzten Frage rekurriert ihr wieder auf die alte Fassung des BWahlG, der 598 Abgeordnete vorsah und bemisst daran die 5% der Abgeordneten. Ich finde das sehr verwirrend und würde mir wünschen, dass ihr das vereinheitlicht.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

13.6.2024, 09:09:41

Hallo @[Anne ](37596), danke für den Hinweis. Wir haben die Aufgabe jetzt vereinheitlicht, sie richtet sich nun vollständig nach der Rechtslage vor der

Wahlrechtsreform

2023. Wir sind aktuell noch dabei, die bereits veröffentlichten Aufgaben an die neue Rechtslage anzupassen. Das braucht leider einen Moment, wir hoffen hier auf Eure Geduld. Aufgaben, denen bereits das Wahlrecht nach 2023 zu Grunde liegt, haben wir mit einem entsprechenden Tag („

Neues Wahlrecht

2023“) versehen. Ich hoffe, Dir damit weitergeholfen zu haben. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team

G0D0FM

G0d0fMischief

28.10.2024, 14:52:05

Das Argument mit den 5% der Mitglieder des Bundestages ist für mich zwar vom Gedanken des Demokratieprinzips nachvollziehbar, jedoch lässt es sich für mich nicht aus dem Wortlaut der Norm rauslesen. So wie ich § 45 II 1 Var. 2 GO-BT verstehe beziehen sich die 5% auf die anwesenden Personen im Bundestag. Sind nun 20 Abgeordnete im Bundestag würde ein Abgeordneter 5% der anwesenden Abgeordneten ausmachen. Insofern wäre es ja sogar so, dass mit sinkender Zahl der anwesenden Abgeordneten die Anforderungen (5% der Anwesenden) sinken. Dennoch muss man gerade im Hinblick auf das Demokratieprinzip natürlich eine Grenze ziehen und die ist mit 5% auch schon weit unten angesetzt. Ich bin nur unsicher, ob das Wortlautargument denn wirklich wasserdicht ist.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

31.10.2024, 11:06:38

Hallo @[G0d0fMischief](217996), dein zuerst genanntes Wortlautargument hat definitiv etwas für sich, keine Frage. Man kann über das Ergebnis auf jeden Fall diskutieren. Inhaltlich haben wir das in einer anderen Aufgabe näher beleuchtet und dort bewusst einen zurückhaltenderen Argumentationsstandpunkt eingenommen: https://applink.jurafuchs.de/CZQmDxCF8Nb. Zur Berechnung des 5 %-Quorums möchte ich Dich insbesondere auf die Diskussion im dazugehörigen Forumsthread hinweisen. Das ist gar keine leichte Frage und vor allem eine, auf die auch ich mir die Antwort mühsam erarbeiten musste, wie Du dort feststellen wirst. Es sieht aber wohl danach aus, als müssten es nach § 45 II 1 GO-BT anwesende 5 % der gesetzlichen (!) Mitglieder sein, nicht 5 % der anwesenden Mitglieder - was logischerweise einen wesentlichen Unterschied machen kann. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

G0D0FM

G0d0fMischief

1.11.2024, 08:05:01

Hallo @[Sebastian Schmitt](263562) vielen Dank, für die ausführliche Antwort! :) Dann habe ich die Norm wohl falsch gelesen, jetzt macht es aber auch Sinn :)


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