Öffentliches Recht
Staatsorganisations-Recht
Gesetzgebungsverfahren
Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)
Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)
11. Juli 2025
14 Kommentare
4,9 ★ (24.054 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Jurastudentin J und Schnösel S sitzen nach der Staatsorganisationsrechts-Vorlesung im Juri§hop des Bonner Juridicums. S behauptet kühn, es sei möglich, dass im Bundestag nur drei Personen einfache Gesetze beschließen könnten. J kann sich das nicht vorstellen und pöbelt S an. Wer hat Recht?
Diesen Fall lösen 81,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Untergrenze der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Frage der Beschlussfähigkeit des Bundestags ist ausdrücklich im Grundgesetz geregelt.
Nein, das ist nicht der Fall!
2. Der Bundestag kann die Beschlussfähigkeit kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) völlig frei ausgestalten.
Nein, das trifft nicht zu!
3. Der Bundestag ist grundsätzlich beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT).
Ja!
4. Wenn (entgegen § 45 Abs. 1 GO-BT) weniger als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist, ist der Bundestag automatisch beschlussunfähig.
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Die widerlegliche Vermutung der Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT) ist verfassungsgemäß.
Ja, in der Tat!
6. Auch wenn weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages (vgl. Art. 121 GG) beim Gesetzesbeschluss anwesend sind, ist der Bundestag beschlussfähig, wenn die Beschlussfähigkeit nicht bezweifelt wird (§ 45 Abs. 2 S. 1 GO-BT).
Nein!
7. S liegt richtig: Der Bundestag ist auch beschlussfähig, wenn nur drei Abgeordnete anwesend sind.
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Balthasar
31.1.2023, 17:34:32
Meine Professorin für Staatsorganisationsrecht hatte in ihrer Musterlösung eines AG-Falls, in dem ein Gesetz mit etwas weniger als 30 Abgeordneten beschlossen wurde, vermerkt, dass auch in einem solchen Fall, ohne ein Monieren der Beschlussunfähigkeit, grundsätzlich die
formelle Verfassungsmäßigkeitzu bejahen ist, aber im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip auch eine andere Ansicht vertretbar wäre. Ist diese hier benannte Untergrenze ein rechtliches Faktum oder bedürfte es dafür einer Entscheidung des BVerfG?
Paul
31.1.2023, 18:36:30
Hallo Balthasar, wie sich aus dem letzten Klausurhinweis ergibt, stellt die Grenze kein rechtliches Faktum da. Wie auch deine Professorin gesagt hat, kann man hier mit entsprechender Argumentation einiges vertreten und es ist letztlich eine Wertungsfrage. Jedoch halte ich das hier vertreten Argument, nach welchem eine Untergrenze jedenfalls bei 5% anzunehmen ist (Argument: nach §45 II 1 GOBT braucht es min. 5% der Abgeordneten, um die Beschlussunfähigkeit feststellen zu lassen), doch für sehr einleuchtend. Darüber kann man einiges vertreten. Auch eine Grenze von 25% wird vertreten. (Siehe Vertiefungshinweis)
Paula_
4.8.2023, 10:42:03
Auch hier muss die Anzahl der Mitglieder des BT noch angepasst werden :)
Diaa
5.10.2023, 20:42:56
Also für die Annahme einer wuderleglichen Vermutung müssen mindestens 50 Abgeordnete anwesend sein. Verstehe ich das richtig?

Nora Mommsen
6.10.2023, 11:58:16
Hallo Diaa, vielleicht hast du dich vertippt. Die entsprechende Zahl ist 30 Abgeordnete. Aber dann stimmt es. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Julian
23.1.2024, 14:23:42
Wären es nicht schon 31? 5% von 630 wären 31,5 Abgeordnete. Rundet man in dem Fall auf oder ab? Würde man auf 32 aufrunden, wären schon 31 < 5%. Würde man abrunden auf 31 würde 30 stimmen.
Anne
31.5.2024, 09:12:29
Einmal gebt ihr in der Lösung die aktuelle Fassung des BWahlG, der besagt, dass es 630 Abgeordnete gibt. Daran bemisst ihr auch die Hälfte der Abgeordnetenzahl (315). Bei der letzten Frage rekurriert ihr wieder auf die alte Fassung des BWahlG, der 598 Abgeordnete vorsah und bemisst daran die 5% der Abgeordneten. Ich finde das sehr verwirrend und würde mir wünschen, dass ihr das vereinheitlicht.

Linne Hempel
13.6.2024, 09:09:41
Hallo @[Anne ](37596), danke für den Hinweis. Wir haben die Aufgabe jetzt vereinheitlicht, sie richtet sich nun vollständig nach der Rechtslage vor der Wahlrechtsreform 2023. Wir sind aktuell noch dabei, die bereits veröffentlichten Aufgaben an die neue Rechtslage anzupassen. Das braucht leider einen Moment, wir hoffen hier auf Eure Geduld. Aufgaben, denen bereits das Wahlrecht nach 2023 zu Grunde liegt, haben wir mit einem entsprechenden Tag („Neues Wahlrecht 2023“) versehen. Ich hoffe, Dir damit weitergeholfen zu haben. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team

G0d0fMischief
28.10.2024, 14:52:05
Das Argument mit den 5% der Mitglieder des Bundestages ist für mich zwar vom Gedanken des Demokratieprinzips nachvollziehbar, jedoch lässt es sich für mich nicht aus dem Wortlaut der Norm rauslesen. So wie ich § 45 II 1 Var. 2 GO-BT verstehe beziehen sich die 5% auf die anwesenden Personen im Bundestag. Sind nun 20 Abgeordnete im Bundestag würde ein Abgeordneter 5% der anwesenden Abgeordneten ausmachen. Insofern wäre es ja sogar so, dass mit sinkender Zahl der anwesenden Abgeordneten die Anforderungen (5% der Anwesenden) sinken. Dennoch muss man gerade im Hinblick auf das Demokratieprinzip natürlich eine Grenze ziehen und die ist mit 5% auch schon weit unten angesetzt. Ich bin nur unsicher, ob das Wortlautargument denn wirklich wasserdicht ist.

Sebastian Schmitt
31.10.2024, 11:06:38
Hallo @[G0d0fMischief](217996), dein zuerst genanntes Wortlautargument hat definitiv etwas für sich, keine Frage. Man kann über das Ergebnis auf jeden Fall diskutieren. Inhaltlich haben wir das in einer anderen Aufgabe näher beleuchtet und dort bewusst einen zurückhaltenderen Argumentationsstandpunkt eingenommen: https://applink.jurafuchs.de/CZQmDxCF8Nb. Zur Berechnung des 5 %-Quorums möchte ich Dich insbesondere auf die Diskussion im dazugehörigen Forumsthread hinweisen. Das ist gar keine leichte Frage und vor allem eine, auf die auch ich mir die Antwort mühsam erarbeiten musste, wie Du dort feststellen wirst. Es sieht aber wohl danach aus, als müssten es nach § 45 II 1 GO-BT anwesende 5 % der gesetzlichen (!) Mitglieder sein, nicht 5 % der anwesenden Mitglieder - was logischerweise einen wesentlichen Unterschied machen kann. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

G0d0fMischief
1.11.2024, 08:05:01
Hallo @[Sebastian Schmitt](263562) vielen Dank, für die ausführliche Antwort! :) Dann habe ich die Norm wohl falsch gelesen, jetzt macht es aber auch Sinn :)
Megx
3.12.2024, 20:40:22
🥳🥳

Juraganter
3.7.2025, 16:07:56
Interessant in diesem Zusammenhang war die Abstimmung bzgl. des "Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens", das am 28. Juni 2012 während eines Fußball-EM-Spiels von Deutschland mit 26 von 622 anwesenden Mitgliedern des Bundestages (also 4,18 %) in weniger als einer Minute (zwei "Beratungen" inkl. Abstimmung) beschlossen wurde. Das sorgte im Anschluss für großen Unmut, sodass der Bundesrat später dagegen stimmte.
Paul Hendewerk
5.7.2025, 15:43:06
Die Problematik bzgl. der Beschlussfähigkeit des BT würde ich, orientiert an eine Klausur, wie folgt zusammenfassen:
Formelle Verfassungsmäßigkeitdes Gesetzes 1. Zuständiger Gesetzgeber 2. Verfassungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren P.: Hat BT das Bundesgesetz nach Art. 77 I 1 GG verfassungsgemäß beschlossen? Ein wirksamer Beschluss setzt die Beschlussfähigkeit des BT voraus; die Beschlussfähigkeit des BT ist im GG nicht geregelt; sofern BT nach Maßgabe des § 45 GO-BT (vgl. Geschäftsordnungsautonomie des BT nach Art. 40 I 2 GG) beschlussfähig und § 45 GO-BT verfassungsgemäß, ist Beschlussfähigkeit des BT anzunehmen a) Voraussetzungen des § 45 GO-BT, insbesondere widerlegliche Vermutung nach § 45 II GO-BT b)
Verfassungsmäßigkeitdes § 45 GO-BT? verfassungswidrig, wenn Verstoß gegen Demokratieprinzip nach Art. 20 I, II GG; jedoch: auf der einen Seite ist es Ziel der Gesetzgebung, Gesetze zu erlassen, die materielle demokratische Legitimation zu vermitteln vermögen; insofern: Beteiligung einer großen Anzahl von Abgeordneten an den (Gesetzes-)Beschlüssen unter Berücksichtigung des Demokratieprinzips anzustreben; andererseits: Funktionsfähigkeit des BT als Hauptgesetzgebungsorgan: Die wesentliche Arbeit des Parlaments vollzieht sich in den Fraktionen und Ausschüssen; d.h.: Es würde die Parlamentsarbeit erheblich behindern, wenn die Mehrheit der Abgeordneten stets im Plenarsaal anwesend sein müsste, ergänzend: Parlamentsarbeit auf Arbeitsteilung angelegt; § 45 GO-BT bringt diese beiden verfassungsrechtlichen Belangen nun zu einem schonenden Ausgleich und ist daher von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden Sonderproblem: Anwesende Abgeordnete = weniger als fünf Prozent: Hier § 45 II 1 GO-BT nicht anwendbar, denn Regelungskonzept des § 45 GO-BT: Beschlussfähigkeit wird nach Abs. 1 vermutet, kann aber nach Abs. 2 widerlegt werden; wird jedoch schon das Quorum für einen entsprechenden Antrag nach Abs. 2 unterschritten, ergibt das Regelungskonzept keinen Sinn; iÜ: Gesetze, die von weniger als 5 Prozent beschlossen werden, vermögen offensichtlich keine materielle demokratische Legitimation zu vermitteln