„Görgülü“ – Wirkung der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland


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Görgülü G führt einen langen Sorgerechtsstreit. Vor dem EGMR rügt er Art. 8 EMRK und erwirkt ein Urteil, das ihm den Umgang mit seinem Kind gestattet. Das OLG ignoriert jedoch in einer Folgeentscheidung das Urteil des EGMR und verwehrt G weiterhin den Umgang.

Einordnung des Falls

„Görgülü“ – Wirkung der Rechtsprechung des EGMR in Deutschland

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G erhebt Verfassungsbeschwerde. Dieses ist zulässig.

Ja, in der Tat!

Das BVerfG ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig. Das Urteil des OLG ist als Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu qualifizieren. Darüber hinaus ist G durch die Versagung des Umgangsrechts auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Vorliegend ist ferner der Rechtsweg erschöpft. Der äußerst wegweisende Gorgölü-Beschluss des BVerfG enthält zwei inhaltliche Schwerpunkte: zum einen wird das verfassungsrechtliche Verhältnis zur EMRK konkretisiert, zum anderen stellte das BVerfG fest, inwieweit Entscheidungen des EGMR von deutschen Gerichten berücksichtigt werden müssen.

2. Die EMRK hat den Rang eines einfachen Gesetzes.

Ja!

Die Europäische Menschenrechts Konvention und ihre Zusatzprotokolle (EMRK) wurden als völkerrechtliche Verträge geschlossen. Zur Umsetzung der völkerrechtlichen Pflichten bedarf es nach Art. 59 Abs. 2 GG eines Zustimmungsgesetzes. Die EMRK wurde am 7.8.1952 in deutsches Recht als Bundesgesetz transformiert. Auf der Normhierarchie steht die EMRK daher unter den verfassungsrechtlichen Bestimmungen des GG. Der EMRK kommt daher der Rang eines einfachen Gesetzes zu.

3. Die EMRK ist unmittelbar verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das BVerfG stellt in der Gorgülü-Entscheidung ausdrücklich fest, dass die EMRK kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist. Dies folgt direkt aus der Rangzuweisung als einfaches Gesetz. Vielmehr muss die EMRK wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung beachtet und angewendet werden.

4. Die verfassungsrechtliche Ordnung des GG ist auf Völkerrechtsfreundlichkeit ausgelegt.

Ja, in der Tat!

Anknüpfungspunkte für die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG finden sich bereits in der Präambel des GG. Ausdrücklich ist durch das GG die deutsche öffentliche Gewalt auf internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) angelegt. Ferner drückt Art. 23 GG, der die europäische Integration regelt, die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes aus. Zudem hat das GG den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 S. 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in das System der Gewaltenteilung eingeordnet“ (RdNr. 33). Diese Normen zeigen neben anderen Normen, wie Art. 24, 26 GG, dass die deutsche Verfassung die BRD in die Völkerrechtsordnung einfügen möchte. Daraus resultiert das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG ist auch eine historische Lehre aus den Gräueltaten des Dritten Reiches.

5. Grundrechte müssten im Lichte der EMRK ausgelegt werden.

Ja!

Die EMRK dient auf Ebene des Verfassungsrechts "als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten" (RdNr. 32). Diese Bedeutung der EMRK ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Daraus folgt, dass die Grundrechte nach Möglichkeit so auszulegen sind, dass ein "Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der BRD nicht entsteht" (RdNr. 33). Das BVerfG stellte jedoch auch die Grenzen der verfassungsrechtlichen Völkerrechtsfreundlichkeit dar. So steht jede supranationale Integration unter dem aus Art. 23 Abs. 1 GG resultierenden Souveränitätsvorbehalt. Deshalb gilt "Völkervertragsrecht nur dann, wenn es in die nationale Rechtsordnung formgerecht und in Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrecht inkorporiert worden ist" (RdNr. 36). Dies ist bei der EMRK der Fall.

6. Der EGMR erlässt ein Feststellungsurteil.

Genau, so ist das!

Der EGMR stellt in seinen Urteilen die Konventionsverletzung fest (Feststellungsurteil). Dieses Feststellungsurteil legt den Konventionsstaaten (wie Deutschland) die Pflicht auf, den ohne die Konventionsverletzung bestehenden Zustand wiederherzustellen und andauernden Verletzungen abzuhelfen. Die Entscheidungen des EGMR entfalten daher für das innerstaatliche Verfahren keine kassatorische Wirkung. Vielmehr kommt ihnen in völkerrechtlicher Hinsicht eine Orientierungs- und Leitfunktion zu. In der jüngeren Rechtsprechung des EGMR schlug dieser auch konkrete Abhilfemaßnahmen vor, um den Konventionsverstoß zu beenden. So stellte der EGMR im Gorgülü explizit fest, dass dem Vater ein Umgangsrecht eingeräumt werden muss.

7. Deutsche Gerichte müssen die Entscheidungen des EGMR berücksichtigen.

Ja, in der Tat!

Deutsche Gerichte sind bei ihrer Entscheidungsfindung durch Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden. Zu dieser Bindung gehört auch die EMRK. Das BVerfG führt begründend ferner an, dass den Entscheidungen des EGMR eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht innewohnt, weil sie den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln. Die Berücksichtigungspflicht deutscher Gerichte umfasst, dass sich dies mit der Entscheidung des EGMR "erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung nicht folgen"(RdNr. 51). Die Berücksichtigung der EMRK und der Entscheidungen des EGMR muss sich dabei im Rahmen der methodisch vertretbaren Auslegung bewegen.

8. Aus der Berücksichtigungspflicht von Urteilen des EGMR folgt, dass deutsche Gerichte die Urteile schematisch umsetzen müssen.

Nein!

Deutsche Gerichte sind an Entscheidungen des EGMR nicht direkt gebunden. Der EMRK fehlt gerade eine dem § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des BVerfG gebunden sind. Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass sich Gerichte nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) lösen können. Deshalb müssen Entscheidungen des EGMR durch deutsche Gerichte nicht schematisch umgesetzt werden.

9. Das OLG muss bei seiner Entscheidung das Urteil des EGMR berücksichtigen.

Genau, so ist das!

Deutsche Gericht müssen bei ihrer Entscheidungsfindung die EMRK und Entscheidungen des EGMR berücksichtigen. Die Berücksichtigungspflicht umfasst, dass sich das Gericht mit Urteilen des EGMR in methodisch vertretbarer Weise auseinandersetzt. Das OLG ist ein unabhängiger deutscher Spruchkörper, der die EMRK und Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung berücksichtigen muss.

10. Der Prüfungsmaßstab des BVerfG erstreckt sich auch auf die materielle Anwendung und Auslegung der EMRK durch die Fachgerichte.

Ja, in der Tat!

Nach dem herkömmlichen Prüfungsmaßstab prüft das BVerfG im Fall der Urteilsverfassungsbeschwerde lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Die Prüfung des BVerfG umfasst jedoch auch, die fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung der EMRK durch deutsche Gerichte zu überprüfen. Denn das BVerfG steht mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und wirkt darauf hin, das Risiko der Nichtbefolgung, zu minimieren. Durch den Gorgülü-Beschluss nahm das BVerfG eine grundsätzliche Neubestimmung seines Verhältnisses zum EGMR vor. Das BVerfG sichert sich so eine gewisse Deutungshoheit.

11. Verletzungen der EMRK können durch Verfassungsbeschwerde gerügt werden, indem sie auf das jeweils einschlägige Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gestützt werden.

Ja!

Aus der Berücksichtigungspflicht von Entscheidungen es EGMR für deutsche Fachgerichte folgt, dass die Möglichkeit bestehen muss, in einem "Verfahren vor dem BVerfG zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt" (RdNr. 63). Begründend hierfür führt das BVerfG den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vorrang des Gesetzes an. Das jeweils betroffene Grundrecht steht mit diesem in engem Zusammenhang. Deshalb kann eine durch den EGMR festgestellte Verletzung der EGMR durch Verfassungsbeschwerde gerügt werden, indem sie auf das jeweils einschlägige Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gestützt wird.

12. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, da das Urteil des OLG gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstößt.

Genau, so ist das!

Das Urteil des OLG verstößt gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, wenn es die entgegengesetzte Entscheidung des EGMR nicht ausreichend berücksichtigt hat. Vorliegend ignoriert das OLG die gegenläufige Entscheidung des EGMR. Das OLG Naumburg fühlte sich nämlich nicht an die Entscheidung des EGMR gebunden, weshalb es sich nicht näher mit der Entscheidung auseinandersetzte. Eine Abweichung von der Auffassung des EGMR wurde zudem nicht begründet.

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