Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Gesetzgebungsverfahren

Beschlussmehrheit mit Enthaltungen (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG)

Beschlussmehrheit mit Enthaltungen (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bei einem Gesetzesbeschluss sind insgesamt 400 Abgeordnete anwesend. Für das Gesetz stimmen 70 Abgeordnete. 30 Abgeordnete stimmen mit Nein. 20 offensichtlich verwirrte Abgeordnete wählen ungültig. Der Rest enthält sich.

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Einordnung des Falls

Beschlussmehrheit mit Enthaltungen (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Bundestag ist beschlussfähig (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT).

Genau, so ist das!

Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GO-BT). Die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl von 630 (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG) sind 315 Abgeordnete.Mit 400 Abgeordnete sind mehr als die geforderten 315 Abgeordneten anwesend.
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2. Der Bundestag muss das Gesetz mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschließen (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG).

Ja, in der Tat!

Zur Wirksamkeit des Beschlusses ist grundsätzlich die Mehrheit der abgegeben Stimmen erforderlich (Art. 42 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 GG). Anderslautende Regelungen für diesen Fall gibt es im Grundgesetz nicht (Art. 42 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 GG). Diese Mehrheit der abgegeben Stimmen wird „Stimmenmehrheit“ genannt. Von den insgesamt 100 abgegebenen Stimmen haben 70 für das Gesetz und 30 dagegen gestimmt. Damit ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen für das Gesetz erreicht worden. Neben der Stimmenmehrheit ist auch die„Mitgliedermehrheit“ relevant. Diese bezeichnet die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags (Art. 121 GG). Die Mitgliedermehrheit richtet sich also nach der generellen Gesamtzahl der Mitglieder, nicht nach der Zahl der im konkreten Fall abgegeben Stimmen. Die Mitgliedermehrheit muss nach dem GG nur in bedeutenden Ausnahmefällen erreicht werden. Dazu zählt vor allem (1) die Wahl zum Bundeskanzler (Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG), (2) die Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates (Art. 77 Abs. 4 S. 1, S. 2 GG) und (3) die Änderung des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 2 GG).

3. Die 280 Enthaltungen und 20 ungültigen Stimmen sind als „abgegebene Stimmen“ zu werten. Daher wurde mit nur 70 Ja-Stimmen bei 400 abgegeben Stimmen die erforderliche Mehrheit verfehlt.

Nein!

Bei einer solchen Zählung bekämen die Enthaltungen ein negatives Stimmgewicht. Das heißt, sie würden praktisch als Nein-Stimmen gewertet. Das widerspricht dem Wesen der Enthaltung als „Nicht-Entscheidung“. Auch ungültige Stimmen zählen dementsprechend nicht zu den „abgegeben Stimmen“ im Sinne des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG. Ungeachtet der 280 Enthaltungen und 20 ungültigen Stimmen ist mit 70 Ja Stimmen zu 30 Nein-Stimmen die Mehrheit der abgegeben Stimmen im Sinne des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG erreicht.

4. Wirkt sich die Anzahl der anwesenden Abgeordneten auf die Beschlussmehrheit bei Gesetzen nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG aus?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anzahl der anwesenden Abgeordneten ist beim Gesetzesbeschluss ausschließlich für die Beschlussfähigkeit (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GO-BT) relevant. Allerdings sieht die GO-BT in § 80 Abs. 2 S. 1, § 81 Abs. 1 S. 2 Hs. 1, § 84 S. 1 lit. b, § 126 GO-BT die Anwesendenmehrheit vor. Davon ist nur der letzte Fall (§ 126 GO-BT) klausurrelevant.

5. Das Gesetz muss anschließend durch den Bundestagspräsidenten unverzüglich dem Bundesrat zugeleitet werden (Art. 77 Abs. 1 S. 2 GG).

Ja!

Nachdem ein Gesetz vom Bundestag beschlossen wurde (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) muss der Bundestagspräsident das Gesetz unverzüglich (= ohne schuldhaftes Zögern, vgl. § 121 Abs. 1 S. 1 BGB) dem Bundesrat zuleiten (Art. 77 Abs. 1 S. 2 GG). Ein häufiger Fehler in Klausuren ist die flüchtige Verwechslung von Bundespräsident (vgl. Art. 54-61 GG) und Bundestagspräsident (vgl. insbesondere Art. 40 GG; § 7 GO-BT). Dabei hilft eine genaue Lektüre und Zitierung des Normtextes!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PAULA

Paula_

4.8.2023, 10:44:43

Die BT-Mitgliederzahl muss noch angepasst werden

Juraddicted

Juraddicted

11.9.2024, 17:30:23

Angenommen, der Bundestagspräsident "möchte das Gesetz nicht" und unterschlägt es wissentlich, also leitet es nicht weiter. Was wären die Rechtsfolgen? Wo im Gutachten prüfe ich das? Vielen Dank :)


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