Öffentliches Recht

Grundrechte

Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)

Virtuelle Zusammenkünfte als grundrechtlich geschützte Versammlung?

Virtuelle Zusammenkünfte als grundrechtlich geschützte Versammlung?

25. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bei dem von A organisierten virtuellen Protest gegen Abschiebungen legen Gleichgesinnte die Webseite der Fluggesellschaft F mit Distributed-Denial-of-Service-Anfragen (DDoS) lahm. Das AG verurteilt A wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§ 111 Abs. 1 StGB). A beruft sich auf Art. 8 Abs. 1 GG.

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Einordnung des Falls

Virtuelle Zusammenkünfte als grundrechtlich geschützte Versammlung?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Teilnehmer einer Versammlung müssen sich mündlich äußern, damit der sachliche Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet ist.

Nein!

Der gemeinsame Zweck der Versammlung muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG in der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung liegen und sich in irgendeiner Weise nach außen manifestieren. Die auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung ist aber nicht auf verbale Äußerungen angewiesen. Es ist für die Art der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsäußerung unerheblich, dass hier die Gleichgesinnten ihren Protest gegen Abschiebungen durch DDoS-Attacken und nicht durch verbale Äußerungen zum Ausdruck gebracht haben.
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2. Die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG setzt das Vorliegen einer Versammlung voraus.

Genau, so ist das!

Nach dem Versammlungsbegriff ist eine Versammlung (1) eine örtliche Zusammenkunft (2) mehrerer Personen (3) zu einem gemeinsamen Zweck.

3. Eine Internet-Demonstration stellt eine örtliche Zusammenkunft im Sinne des Versammlungsbegriffs dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Merkmal der örtlichen Zusammenkunft setzt die körperliche Präsenz mehrerer Personen an einem Ort voraus. Dafür spricht der Wortlaut "sich versammeln" und das besondere Schutzbedürfnis der Versammlungsteilnehmer, die durch das Einstehen mit dem eigenen Körper in erhöhtem Maße verwundbar sind. Bei virtuellen Demonstrationen im Internet, auf Social-Media-Plattformen, in Chatrooms oder Telefon- oder Videokonferenzen sind die Teilnehmer gerade nicht körperlich anwesend. Sie sind hinreichend durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Mangels örtlicher Zusammenkunft ist der Versammlungsbegriff nicht erfüllt. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist nicht eröffnet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MO93

Mo93

20.3.2021, 10:07:58

Liebes Team, die zitierten Fundstellen sind über 15 Jahre alt, lässt sich das so noch aufrecht erhalten? In JuS 2021, 153 wird die Online-Versammlung mit Verweis auf neuere Rspr. grundlegend anders bewertet und mit einer Präsenzversammlung nahezu gleichgestellt. Beste Grüße M.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.12.2021, 13:37:42

Hallo Mo, vielen Dank für Deinen Hinweis auf die Klausurlösung von Mast/Gafus, Die Online-Versammlung, JuS 2021, 153. Um ehrlich zu sein, ist diese in meinen Augen leider etwas irreführend, wenn sie die „traditionelle“ Ansicht, die die Körperlichkeit zur Eröffnung des Schutzbereiches voraussetzt, und die „aA“, die diese verneint, in einem Atemzug nennt. Als Vertreter der anderen Ansicht wird in der Klausurlösung vor allem auf Jens Kersten verwiesen (Kersten, Anonymität in der liberalen Demokratie, JuS 2017, 193 (198)). Er selbst räumt in seinem Aufsatz ein, dass es nach wie vor der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden L

ehre

entspricht, virtuelle Versammlungen nicht dem Schutz der Versammlungsfreiheit zu unterwerfen. Denn nach der herrschenden Auffassung bestehe bei Online-Veranstaltungen die typische Gefährdungslage einer Versammlung (einerseits das in der körperlichen Präsenz angelegte Eskalationspotential und andererseits die besondere Verwundbarkeit der Teilnehmer) gerade nicht. Sicher kann man zwar mit guten Argumenten darüber nachdenken, ob man den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nicht erweitert – die herrschende L

ehre

ist davon aber noch nicht überzeugt und setzt nach wie vor Körperlichkeit voraus (vgl. BVerfG, 22.02.2011 - 1 BvR 699/06 = BVerfGE 128, 226; OVG Münster, NVwZ 2017, 648; Sinder, Versammlungsfreiheit unter Pandemiebedingungen - Zeit, Zahl und Zurechnung als Schlüsselkategorien praktischer Konkordanz, NVwZ 2021, 103 mwN; Gröpl/Leinenbach, Examensschwerpunkte des Versammlungsrechts, JA 2018, 8; Jarass/Pieroth, 16. Aufl. 2020, GG Art. 8 RdNr. 3; Sachs/Höfling, 9. Aufl. 2021, GG Art. 8 RdNr. 13.) Insofern gilt auch 15 Jahre nach der DDOS-Entscheidung des AG Frankfurt, dass eine Online-Versammlung nach der herrschenden Meinung nicht dem Schutz von Art. 8 GG unterfällt. Für die Klausur von Mast/Gafus hat das freilich die etwas unschöne Folge, dass man hier mit der herrschenden Meinung ins Hilfsgutachten gerät, wenn man den Schutzbereich des Art. 8 GG bereits nicht für eröffnet ansieht. Beste Grüße Lukas – für das Jurafuchs-Team

PR

Prokurist

5.10.2022, 15:11:06

Ich stimme Lukas zu, dass trotz Corona, Zoom & Co weiterhin die hM aufrechterhalten wurde. Nur zur Ergänzung aber der Hinweis zum Aufsatz von Welzel in MMR 2021, 220, der sich darin ebenfalls (mit guten Argumenten, wie ich finde) für eine „virtuelle Versammlungsfreiheit“ ausspricht.

Pilea

Pilea

16.10.2023, 08:34:24

Hier verdecken die Buttons noch die Schrift.


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