+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Klassisches Klausurproblem
Arbeitnehmerin Anke (A) hat verschlafen. Obwohl es das erste Mal war, wird sie von ihrer cholerischen Chefin Christiane (C) direkt am 1.6 außerordentlich gekündigt. A geht nicht mehr zur Arbeit, legt aber Kündigungsschutzklage ein. Diese gewinnt sie am 30.7. Ab 1.8. kehrt A zurück zur Arbeit. Hat A für den Zeitraum 1.6.-30.7. einen Anspruch auf Lohn?
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Einordnung des Falls
Annahmeverzugslohn (§ 615 S. 1 BGB) bei gewonnenem Kündigungsschutzprozess (Klausurlösung)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A könnte für den Zeitraum einen Lohnanspruch aus § 611a Abs. 2 BGB zustehen.
Ja!
Der Lohnanspruch aus § 611a Abs. 2 BGB setzt einen bestehenden Arbeitsvertrag voraus.A wird im Sachverhalt explizit als Arbeitnehmerin der C bezeichnet, sodass jedenfalls bis zur Kündigung ein Arbeitsverhältnis bestand. § 611a Abs. 2 BGB ist die zentrale Anspruchsgrundlage im Hinblick auf Lohnansprüche des Arbeitnehmers. Nur in bestimmten Sonderfällen wie der Fortzahlung während des Urlaubs (§ 11 BUrlG) oder bei Feiertagen (§ 2 EFZG) musst Du gesonderte Anspruchsgrundlagen prüfen.
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2. Aufgrund der wirksamen Kündigungsschutzklage hat Cs außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Es bestand durchgehend ein wirksames Arbeitsverhältnis.
Genau, so ist das!
Beide Parteien können ein unbefristetes Arbeitsverhältnis durch einseitige Kündigung beenden. Dies setzt aber eine wirksame Kündigung voraus. Im Wege der Kündigungsschutzklage kann die Arbeitnehmerin prüfen lassen, ob die Kündigung der Arbeitgeberin wirksam war.A hat die Kündigungsschutzklage gewonnen. Cs außerordentliche Kündigung war folglich unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet.Zum Schutz der Arbeitnehmerin muss eine Kündigung der Arbeitgeberin eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Insbesondere muss das letzte zur Verfügung stehende Mittel (=ultima ratio) darstellen und das Auflösungsinteresse der Arbeitgeberin muss das Bestandsinteresse der Arbeitnehmerin überwiegen (Interessenabwägung). Näheres hierzu erfährst Du im Kapitel „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“.
3. Muss die Arbeitgeberin grundsätzlich Lohn zahlen, wenn die Arbeitnehmerin ihre Arbeitsleistung nicht erbringt?
Nein, das trifft nicht zu!
Der Arbeitsvertrag ist ein gegenseitiger Vertrag. Sofern die Leistungspflicht der Arbeitnehmerin aufgrund von Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit erlischt (§ 275 BGB), so entfällt nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB auch ihr Anspruch auf die Gegenleistung, sofern keine Ausnahmevorschrift greift. Bei der Arbeitspflicht der Arbeitnehmerin handelt es sich um eine absolute Fixschuld. Die geschuldete Arbeitsleistung kann also nur innerhalb der geschuldeten Zeit erbracht und nicht nachgeholt werden. Wird die Leistung nicht erbracht, so wird sie objektiv unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB).A hat in der Zeit vom 1.6.-30.7. nicht gearbeitet. Da ihre Arbeitspflicht durch Zeitablauf unmöglich geworden ist (§ 275 Abs. 1 BGB), entfiele damit grundsätzlich auch ihr Gegenleistungsanspruch, also der vereinbarte Lohn.Es gilt der Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“.
4. As Lohnanspruch könnte aber wegen Annahmeverzuges der C nach § 615 S. 1 BGB aufrechterhalten worden sein.
Ja!
Befindet sich der Dienstberechtigte im Annahmeverzug, so kann der Dienstverpflichtete die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein (§ 615 S. 1 BGB). Annahmeverzug setzt nach §§ 293ff. BGB voraus, dass
(1) ein erfüllbarer Anspruch besteht,
(2) der Schuldner seine Leistung anbietet bzw. das Angebot entbehrlich ist,
(3) der Gläubiger das Angebot nicht angenommen hat und
(4) kein Ausschlussgrund vorliegt. An dieser Stelle müssen also inzident die Voraussetzungen des Annahmeverzuges geprüft werden. Diese schuldrechtliche Verknüpfung macht diese Thematik bei den Prüfungsämtern überaus beliebt!Ersparte Aufwendungen oder anderweitige Einnahmemöglichkeiten muss sich der Dienstverpflichtete allerdings anrechnen lassen (§ 615 S. 2 BGB). 5. Ist § 615 BGB überhaupt auf Arbeitsverhältnisse anwendbar?
Genau, so ist das!
Ob und wie § 615 BGB auf das Arbeitsverhältnis anwendbar ist, ist umstritten. Denn Annahmeverzug kommt grundsätzlich nur bei nachholbaren Leistungen in Betracht. Da bei versäumter Arbeitsleistung direkt Unmöglichkeit eintritt, könnte lediglich § 326 Abs. 2 BGB in Betracht kommen. Das BAG wendet beide Normen parallel an. (1) Befindet sich der Arbeitgeber bei Eintritt der Unmöglichkeit im Annahmeverzug (§§ 293ff. BGB), so sei § 615 S. 1 BGB vorrangig. (2) Im Übrigen könne der Vergütungsanspruch nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 326 Abs. 2 BGB aufrechterhalten werden (NZA 2016, 293).In der Literatur wird der Begriff des „Annahmeverzuges“ iSd § 615 BGB dahingehend ausgelegt, dass er schon begrifflich auch Fälle der Unmöglichkeit umfasst. § 615 BGB verdränge insoweit als speziellere Norm § 326 BGB gänzlich.Da bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 615 BGB dieser nach allen Ansichten Vorrang genießt, kannst Du diesen prüfen, ohne näher auf diesen dogmatischen Streit einzugehen.
6. As Arbeitsleistung war während des laufenden Kündigungsschutzprozesses möglich und erfüllbar.
Ja, in der Tat!
Solange die Leistungspflicht nicht wegen Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit nach § 275 BGB ausgeschlossen ist, ist die Leistung möglich. Erfüllbar ist sie, sobald der Schuldner berechtigt ist, die Leistung zu erbringen.A hätte ihre Arbeitsleistung während der Dauer des Kündigungsschutzprozesses erbringen können. Die Leistungspflicht ist erst nachträglich durch Zeitablauf unmöglich geworden (§ 275 Abs. 1 BGB). A war aufgrund des bestehenden Arbeitsverhältnisses zur Leistung ihrer Tätigkeit in dem entsprechenden Zeitraum berechtigt, sodass ihre Pflicht auch erfüllbar war.
7. Hat A ihre Arbeitsleistung angeboten (§§ 294, 295 BGB)?
Nein!
Grundsätzlich bedarf es für den Annahmeverzug eines tatsächlichen Angebotes. Dieses liegt vor, wenn der Schuldner die Leistung so, wie sie zu bewirken ist, dem Gläubiger tatsächlich anbietet (§ 294 BGB). Der Arbeitnehmer muss hierfür seine Arbeitsleistung (1) in Person, (2) zur rechten Zeit, (3) am rechten Ort und (4) in der rechten Weise am Arbeitsplatz anbieten. Ausnahmsweise genügt für den Annahmeverzug ein wörtliches Angebot des Schuldners, wenn der Gläubiger ihm erklärt hat, dass er die Leistung nicht annehmen werde (§ 295 BGB). A hat ihre Arbeit weder tatsächlich noch wörtlich angeboten. Vielmehr ist sie einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen.
8. Da A ihre Arbeitsleistung nicht angeboten hat, scheidet ein Annahmeverzug der C aus (§§ 293 ff. BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Gläubiger kommt auch ohne tatsächliches (§ 294 BGB) oder wörtliches (§ 295 BGB) Angebot in Verzug, wenn ein Angebot entbehrlich (§ 296 BGB) ist. Dies ist nach § 296 S. 1 BGB der Fall, wenn der Gläubiger eine kalendarisch bestimmte Mitwirkungshandlung unterlässt. Nach der Rechtsprechung des BAG verletzt die Arbeitgeberin durch eine unwirksame Kündigung ihre Pflicht, der Arbeitnehmerin einen funktionsfähigen Arbeitsplatz einzurichten und Arbeit zuzuweisen. Entsprechend sei bei einer unwirksamen Kündigung ein Angebot der Arbeitnehmerin entbehrlich (BAG NZA 1985, 119).Aufgrund der ausgesprochenen fristlosen Kündigung musste A ihre Arbeit nicht anbieten, um C in Annahmeverzug zu setzen. Ausschlussgründe sind nicht ersichtlich.Ist der Arbeitnehmer in der fraglichen Zeit außerstande die Arbeitsleistung zu erbringen (zB wegen Krankheit), so ist der Annahmeverzug ausgeschlossen (§ 297 BGB).
9. Hat A gegenüber C einen Anspruch auf Lohnzahlung für den Zeitraum vom 1.6.-30.7. aus §§ 611a Abs. 2, 615 S. 1 BGB?
Ja, in der Tat!
Das Arbeitsverhältnis zwischen A und C bestand auch während des Zeitraums vom 1.6.-30.7. und wurde insbesondere nicht durch die unwirksame, außerordentliche Kündigung der C beendet. Zwar ist As Pflicht zur Arbeitsleistung nach § 275 Abs. 1 BGB erloschen. Da sich C aber im Annahmeverzug befand, ist As Gegenleistungsanspruch auf Lohnzahlung nicht nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB untergegangen (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB), sondern besteht nach § 615 S. 1 BGB weiterhin.Liegen die Voraussetzungen des § 615 S. 1 BGB vor, so bedarf es keiner weiteren Prüfung des § 326 Abs. 2 BGB. Denn nach allen Ansichten ist § 615 S. 1 BGB in diesem Fall vorrangig.