+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Die Bundesregierung will eine bundesweite Volkszählung durchführen. Nach dem Volkszählungsgesetz (VolksZG) soll hierbei eine umfassende Erhebung der persönlichen Daten jedes einzelnen Bürgers stattfinden. Bürgerin B rügt die Verletzung ihrer Grundrechte durch das Gesetz vor dem BVerfG.

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Einordnung des Falls

Volkszählungsurteil

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Erhoben werden sollen auch Daten zur (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft. Verstößt dies gegen die Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG)?

Nein!

Zur Bekenntnisfreiheit gehört auch die sog. negative Bekenntnisfreiheit, wonach der Betroffene das Recht hat, über seine religiöse Überzeugung zu schweigen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV). Diese negative Bekenntnisfreiheit wird aber durch Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV eingeschränkt, der es Behörden gestattet, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, wenn davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Vorliegend wird durch das VolksZG eine statistische Erhebung angeordnet. Die Erhebung verstößt somit nicht gegen die Bekenntnisfreiheit.
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2. Erhoben werden sollen auch Daten zu den privaten Wohnverhältnissen. Dies verstößt gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 Abs. 1 GG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Wohnung im Sinne des Art. 13 GG ist allein die räumliche Privatsphäre. Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers. Die Auskunftspflicht über wohnungsstatistische Fragen ist mit einem zwangsweisen Eindringen oder Verweilen in der Wohnung der Auskunftspflichtigen nicht verbunden. Ein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 GG liegt somit nicht vor.

3. Die Erhebung persönlicher Informationen durch die Volkszählung verstößt gegen die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 GG.

Nein, das trifft nicht zu!

Konstitutiv für eine "Meinung" im Sinne von Art. 5 Abs. 1 GG ist d, ist das Element der Stellungnahme. Eine reine Tatsache ist dagegen keine Meinung, da ihr das Element der Stellungnahme fehlt.Geschützt ist sie nur, soweit sie die Voraussetzung für die Bildung einer Meinung ist. Bei den persönlichen Informationen handelt es sich um reine Tatsachenmitteilungen, die mit Meinungsbildung nichts zu tun haben. Sie sind damit nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit liegt mithin nicht vor.

4. Gerügt wird auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Dessen Gewährleistungsgehalte sind abschließend definiert.

Nein!

Die Rechtsprechung hat im Rahmen des Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterschiedliche Fallgruppen anerkannt. Das BVerfG betont aber die grundsätzliche Entwicklungsoffenheit des Schutzbereichs. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann so gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit weiterentwickelt werden.

5. Nach dem VolksZG soll automatische Datenverarbeitung eingesetzt werden. Automatische Datenverarbeitung gefährdet das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Einzelnen in besonderem Maße.

Genau, so ist das!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Dies setzt voraus, dass der Einzelne mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen seiner sozialen Umwelt bekannt sind. Die automatische Datenverarbeitung funktioniert für den Einzelnen gerade nicht in überschaubarer Weise, sondern gerade automatisch und so nicht einsehbar. Die Entscheidungsbefugnis über die Offenbarung persönlicher Informationen aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist hierdurch in besonderem Maße gefährdet.

6. Die Datenerhebung durch die Volkszählung fällt in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

Ja, in der Tat!

Freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe der persönlichen Daten voraus. Das sog. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet insoweit die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Durch die umfassende Datenerhebung wird der Einzelne in seiner Befugnis, frei über die Preisgabe seiner Daten zu entscheiden, beeinträchtigt. Sie fällt somit in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.

7. Das VolksZG ist verfassungswidrig, weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wegen seiner Nähe zur Menschenwürde absolut geschützt ist und Eingriffe stets unzulässig sind.

Nein!

Der Einzelne hat keine absolute Herrschaft über seine Daten. Er entfaltet sich innerhalb des Sozialgefüges und ist auf Kommunikation angewiesen. Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind daher im Allgemeininteresse zulässig. In der Originalentscheidung zog das BVerfG für die Anforderungen an die Rechtfertigung noch die sog. Sphärentheorie heran. Hiernach war entscheidend, ob der Inhalt der Daten der Intim-, Privat- oder Sozialsphäre zu messen war. Hiervon ist das BVerfG mittlerweile abgerückt: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird unabhängig von der Qualität der erhobenen Daten gewährleistet.

8. Das VolksZG ist verfassungsgemäß, weil die Volkszählung im Interesse der Allgemeinheit erfolgen soll.

Nein, das ist nicht der Fall!

Auch wenn eine Maßnahme im Interesse der Allgemeinheit erfolgt, hat der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Im Rahmen der automatischen Datenverarbeitung muss der Gesetzgeber Gefährdungen der Persönlichkeit insbesondere durch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen verhindern. Die Verfassungsmäßigkeit des VolksZG hängt damit davon ab, ob es ausreichend organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zum Schutz der Persönlichkeit trifft. In der Originalentscheidung hielt das BVerfG die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen nicht für ausreichend. Das Gesetz musste nachgebessert werden.
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