Öffentliches Recht
Staatsorganisations-Recht
Politische Parteien
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die A-Partei kritisiert, dass Bundespräsident F öffentlich ein Konzert gegen Rechts unterstützt. In einem Interview, das auf der Internetseite des BMI veröffentlicht wird, verurteilt Innenminister S dies und bezeichnet die A-Partei als „hochgefährlich“ und „staatszersetzend“.
Diesen Fall lösen 86,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die A-Partei will sich gegen die Veröffentlichung des Interviews des S auf der Internetseite des BMI wehren. Statthafter Rechtsbehelf vor dem BVerfG ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die A-Partei ist als politische Partei im Organstreit parteifähig (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG).
Ja!
3. S ist als Bundesinnenminister nicht parteifähig; die A-Partei muss sich stattdessen gegen die Bundesregierung als oberstes Verfassungsorgan wenden.
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Die A-Partei hat gemäß Art. 21 Abs. 1 GG das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb.
Ja, in der Tat!
5. Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien beinhaltet als Kehrseite, dass sich Staatsorgane parteipolitisch neutral verhalten müssen (Neutralitätsgebot).
Ja!
6. Das Gebot parteipolitischer Neutralität von Staatsorganen gilt nur in Wahlkampfzeiten.
Nein, das ist nicht der Fall!
7. S ist nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn er sich in amtlicher Funktion als Bundesminister geäußert hat.
Ja, in der Tat!
8. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen.
Ja!
9. S hat die Äußerungen im Interview in amtlicher Funktion als Bundesminister getätigt.
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Allerdings weist die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI einen Amtsbezug auf und stellt somit einen Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG dar.
Ja, in der Tat!
11. S steht als Bundesminister eine generelle politische Äußerungsbefugnis zu (Art. 65 GG).
Ja!
12. Die Befugnis des S zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist grundsätzlich geeignet, den Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.
Genau, so ist das!
13. Die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI verstößt gegen das Sachlichkeitsgebot.
Ja, in der Tat!
14. Der Antrag der A-Partei ist begründet. Durch die Veröffentlichung des Interviews hat S die A-Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt.
Ja!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
antoniasophie
22.3.2022, 18:30:19
Würde man wie im Wahl-O-Mat-Fall Art. 21 I iVm Art. 3 I GG prüfen? Und wenn nein, warum hier nicht?
Lukas_Mengestu
23.3.2022, 15:57:42
Hallo Antonia, die dogmatische Verankerung des Anspruchs der Parteien auf Gleichbehandlung ist im Einzelnen umstritten, auch wenn es im Ergebnis anerkannt ist (vgl. Kluth, in BeckOK, GG, 50.Ed. 15.02.2022, Art. 21 RdNr. 133 ff). Auch das BVerfG verfährt im Hinblick auf die Verankerung des Rechts auf Chancengleichheit nicht immer einheitlich. Während es in dieser Entscheidung lediglich Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich benannt hat, so hat es in anderen Entscheidungen hierfür auch Art. 3 I GG noch mitzitiert (vgl. BVerfG NJW 2005, 126). Du kannst Dich insoweit frei entscheiden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Cecilie
2.6.2022, 16:47:37
Warum ist hier ein Organstreitverfahren s
tatthaft und bei der Twittermeldung des BMI über die AfD als Prüffall der Verwaltungsrechtsweg eröffnet? Läge es anders wenn die Meldung nicht auf Twitter sondern auf der BMI Internet Seite veröffentlicht worden wäre?
Lukas_Mengestu
7.6.2022, 12:09:25
Hallo Cecilie, der Unterschied besteht hier darin, dass einmal gegen Seehofer als Mitglied des Staatsorgans "Bundesregierung" geklagt wird und die Klage sich das andere Mal gegen das BMI als oberste Bundes
behörderichtete. Somit liegt nur im ersten Fall "
doppelte Verfassungsunmittelbarkeit" vor, weswegen hier der Verwaltungsrechtsweg nicht s
tatthaft ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
asanzseg
21.2.2023, 17:06:00
@[Jurafuchs](137809) ich bin auch ehrlich gesagt von dem Augangsfall sehr verwirrt gewesen. Der Text ist m.E.n. viel zu kurz gefasst man versteht zwar beim bloßen lesen des Textes dass es sich um zwei verschiedene "Handlungen" der Staatsorgane handelt aber man fragt sich ob da ein innerer Zusammenhang ist.
asanzseg
21.2.2023, 17:15:52
Ich muss eine Anschlussfrage stellen: Es handelt sich hier um ein Organstreit, d.h. ein kontradiktorisches Verfahren. Antragsegner ist hier der Minister der die Äußerung getätigt hat. Die Äußerung verletzt an und für sich nicht das Neutralitätsgebot weil man sagt, dass der Minister in seinem Interview nicht als Organ der Bundesregierung sondern als Politiker gesprochen hat. Erst durch das reinstellen in die BMI Seite gewinnt es an Organqualität und ist somit dem Neutralitätsgebot unterlegen. Ich verstehe nicht ganz, inwieweit das Reinstellen des Interviews der BMI dem Minister zugerechnet wird ? oder ist es Andersrum? dass man sagt, Antragegner ist die Bundesregierung als ganzes und dann guckt ob das Organ der Bundesregierung hier der Minister in dem Konkreten Fall Organqualität hat und wenn ja ob er die Kompetenzen überschreitet ?
Arturio
19.11.2023, 20:27:51
Seehofer war Bundesminister für Inneres und Heimat („BMI“). Beantwortet das deine Frage?
Im🍑nderabilie
20.1.2023, 17:10:20
Frage mich hier nach wie vor, warum begrifflich ausschließlich auf die Veröffentlichung abgestellt wird. Die Veröffentlichung als solches kann ja noch gar nicht gegen das Sachlichkeitsgebot verstoßen weil es für sich gesehen eine neutrale Handlung ist, vielmehr die Kombination aus Veröffentlichung und Inhalt stellt den Verstoß dar, oder?
Nora Mommsen
25.1.2023, 15:22:43
Hallo Imponderabilie, man darf nicht außer Acht lassen, dass immer ein bestimmter Inhalt veröffentlicht wird. Eine Veröffentlichung ohne Inhalt ist quasi ein nullum. Von daher stellt die Unterscheidung zwischen Veröffentlichung und Inhalt eine künstliche Trennung dar, die nicht zielführend ist. Es kann schadlos auf die Veröffentlichung (des Inhalts) als solche abgestellt werden. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Diaa
22.8.2023, 13:48:53
Ich habe drei Fragen: Was ist ein Gesinnungsverbot? Was bedeutet ein
Binnenrechtvorschrift? Inwiefern ist das Sachlichkeitsgebot hier verletzt?
mwally
13.1.2024, 20:03:56
Zur 1. Frage Ein Gesinnungsverbot ist ein Verbot bestimmter Gesinnungen. Das Verbot einer Partei bezieht sich nicht darauf, dass die
vertretenenAnsichten verboten werden, sondern lediglich die Betätigung als Partei. Jeder Mensch darf rassistische oder staatsfeindliche Ansichten haben, wie er möchte. Er darf sich nur nicht in einer Partei organisieren um diese Ansichten in die Realität umzusetzen. Zur 2. Frage Eine
Binnenrechtsvorschrift ist eine Rechtsvorschrift, die sich nicht auf den Bürger, sondern auf das Innenverhältnis des Staates und seiner Organe zueinander bezieht. Zur 3. Frage Damit beschäftigt sich der Fall. Die Antwort steht in den Antworten auf die in dieser Aufgabe gestellten Fragen.
Wirst12
9.2.2024, 15:09:09
Hallo liebes Jurafuchs-Team, wie verhält es sich mit der kürzlich getätigten Aussage des Bundespräsidenten Steinmeier über die AfD? Würde diese nicht auch gegen das Neutralitätsgebot verstoßen, zumal er die Ansprache in seiner öffentlichen Stellung als Bundespräsident vornahm? Mit freundlichen Grüßen
Leo Lee
10.2.2024, 19:33:30
Hallo Wirst12, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der
Tatist das Äußerungsrecht des Bundespräsidenten ein sehr spannendes Thema, das sich von dem hiesigen Fall unterscheidet (hierzu sehr lesenwert die Entscheidung zu Joachim Gauck, der die NPD als „Spinner“ bezeichnete). Der Bundespräsident hat einen „weiteren“ Spielraum und somit auch eher das Recht, sich kritisch zu äußern, da er nicht im den politischen Parteien im direkten Wettbewerb steht (im Gegensatz zu Minister der Regierung, die gerade durch eine Fraktion gestellt werden und zumeist auch aktive Parteipolitiker sind). Somit darf der Bundespräsident „mehr“ sagen, da bei ihm ein gerineres Risiko besteht, dass er zugunsten seiner Partei/seiner Fraktion die Chacnengleichheit der Parteien beeinträchtigt. In diesem Sinne bleibt natürlich abzuwarten, ob das BVerfG über diesen Fall entscheiden wird oder nicht. Allerdings spricht grundsätzlich eher der obige Grundsatz dafür, dass Steinmeier noch von einem Einschätzungsspielraum bzgl. der Äußerung Gebrauch gemacht hat und diese Aussage auch so tätigen durfte (bei Gauck wurde z.B. keine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien festgestellt, hierzu kann ich die Rdnr. 22 und 27 der Entscheidung empfehlen: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2014/06/es20140610_2bve000413.html). Bei der Aussage von Merkel zu der Wahl in Thüringen hingegen („ein schlechter Tag für die Demokratie“ und „unverzeihlich“), wurde hingegen sehr wohl eine Verletzung der AfD festgestellt, da Merkel als Kanzlerin und Kopf der Bundesregierung sehr wohl in einem Wettbewerb steht (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-053.html) :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Sempex2
14.3.2024, 13:45:56
Leider leuchtet mir das mit dem geringeren Risiko bzgl. der Äußerungen und ihrer möglichen Beeinträchtigung zu Gunsten der eigenen Partei nicht ein. Wieso sollte der Bundespräsident nicht im selben Maße dazu neigen wie ein Kanzler? Ebenso sind Äußerungen außerhalb seines Amtes kaum denkbar. MMn. wäre das Sachlichkeits- und das Neutralitätsgebot hier genau so scharf anzuwenden wie bei einem Kanzler. Hab ich da irgendwo einen Denkfehler?
Gigachad1
4.4.2024, 17:36:55
Naja die Rolle des Bundespräsidenten ist von Grund auf überparteilich und quasi außerhalb des politischen Wettbewerbs. Durch seine Repräsen
tative Funktion und die Art der Wahl ist er nicht in selber Art am Wahlkampf beteiligt wie "echte" Regierungs- und Bundestagmitglieder.
Stella2244
20.11.2024, 16:13:14
Warum ist die Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen durch politische Parteien ausgeschlossen?
Rintaro Okabe
4.12.2024, 12:57:50
Politische Parteien haben eine Doppelstellung inne. Sie sind einerseits privatrechtliche Vereine („Bürgerebene“), andererseits wirken sie in den Staat hinein und überbringen den Willen des Volkes in die Staatsebene. Deshalb ist zu unterscheiden, in welcher Stellung die Parteien betroffen sind. Die sind auf „Bürgerebene“ betroffen, können sie sich ausschließlich auf Grundrechte im Rahmen der Verfassungs
beschwerde berufen. Sind sie als Organ der Verfassung betroffen, können sie sich lediglich auf organschaftliche Rechte berufen.