+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
O lebt allein in München. Sie erleidet einen Herzinfarkt und stirbt. Schwester S, die dabei ist, nimmt O nach ihrem Tod die Perlenkette vom Hals, um sie zu behalten. Alleinige Erbin der O ist Tochter T, die in Münster lebt.
Einordnung des Falls
Erben beim Tod einer Frau
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Im Zeitpunkt des Todes der O geht ihr Besitz an der Perlenkette im Wege der Universalsukzession auf T über (§ 1922 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
Nach § 1922 BGB geht mit dem Tode einer Person deren Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf den/die Erben über. Die Erbschaft ist das Vermögen des Erblassers und umfasst grundsätzlich alle Rechte, Forderungen und Verbindlichkeiten, wie etwa das Eigentum, nicht jedoch den Besitz.
2. Im Zeitpunkt des Todes der O geht ihr Besitz an der Perlenkette nach der gesetzlichen Fiktion des § 857 BGB auf T über.
Ja, in der Tat!
Besitz (§ 854 Abs. 1 BGB) ist die (1) von einem Besitzwillen getragene (2) tatsächliche Sachherrschaft einer Person über eine Sache. Anders als das Strafrecht kennt das BGB jedoch auch einen Besitz ohne tatsächliche Herrschaft. Obwohl T in Münster ist und von dem Tod der O noch nichts weiß, und die tatsächliche Sachherrschaft gar nicht ausüben kann und will, erwirbt sie im Zeitpunkt des Todeseintritts kraft gesetzlicher Fiktion (§ 857 BGB) den unmittelbaren Besitz an der Halskette. Ratio: (1) Da der Besitz von § 1922 BGB nicht erfasst ist, bedurfte es eines zusätzlichen Schutzes in § 857 BGB, um den Erben vor verbotener Eigenmacht (§ 858 BGB) zu schützen. (2) §§ 935 Abs. 1, 857 BGB verhindern zudem, dass ein Nichtberechtigter über eine bewegliche Sache aus dem Nachlass verfügt (es sei denn: gutgläubiger Erwerb, § 2366 BGB).