Öffentliches Recht

Völkerrecht

Umweltvölkerrecht

Schädigungsverbot IV: Trail Smelter

Schädigungsverbot IV: Trail Smelter

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Aus einer privaten Zink- und Bleischmelze in Kanada entweichen täglich Unmengen an Schwefeldioxid. Diese gelangen als Niederschlag ins benachbarte Gebiet der USA und verursachen dort an der Landwirtschaft erhebliche Schäden. Die USA verlangen Einstellung.

Diesen Fall lösen 85,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Schädigungsverbot IV: Trail Smelter

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ein Anspruch der USA scheidet aus, weil der Schmelzbetrieb eine rein innerstaatliche Angelegenheit Kanadas ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Rein innerstaatlich sind solche Angelegenheiten, die nicht auch Regelungsgegenstand des Völkerrechts sind. Zwar hat ein Staat im Grundsatz kraft seiner territorialen Souveränität Verfügungsgewalt über sein Staatsgebiet - unabhängig vom Völkerrecht. Jedoch verletzen Handlungen eines Staates, die in die Gebietshoheit eines anderen Staates ohne dessen Einwilligung und ohne Vorliegen eines völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrundes eingreifen, die territoriale Integrität des betroffenen Staates. Das völkerrechtliche Nachbarrecht will diese Kollision auflösen und unterstellt diese damit dem Völkerrecht.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Ein Anspruch auf Einstellung des Schmelzbetriebs setzt die zurechenbare Verletzung einer völkerrechtlichen Primärnorm voraus.

Ja, in der Tat!

Nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit besteht ein Anspruch auf Einstellung eines Verhaltens (cessation), wenn ein anderer Staat durch dieses Verhalten zurechenbar und ungerechtfertigt eine Völkerrechtsnorm verletzt hat (vgl. Art. 30 ILC-Entwurf über die Staatenverantwortlichkeit). Die Grundsätze zur Staatenverantwortlichkeit liefern den haftungsausfüllenden Tatbestand zu einer Haftung, die durch die Verletzung einer völkerrechtlichen Primärnorm begründet wird.

3. Die Schmelze wird von einem privaten Akteur betreiben. Sein Verhalten ist Kanada zurechenbar.

Nein!

Auch das Verhalten Privater kann einem Staat zurechenbar sein. Nach den Grundsätzen zur Staatenverantwortlichkeit besteht dieser Zurechnungszusammenhang etwa, wenn Private öffentliche Aufgaben kraft expliziter Ermächtigung durch den Staat wahrnehmen (vgl. Art. 5 ILC-Entwurf über die Staatenverantwortlichkeit). Eine Zurechnung kann auch aus rein tatsächlichen Beziehungen folgen, etwa weil ein Privater nach Anweisungen bzw. unter effektiver Kontrolle des Staates handelt (Art. 8). Relevant ist hier allein letztere Fallgruppe. Allerdings erteilt Kanada den Privaten, die die Schmelze betreiben, keine Anweisungen. Die bloße Gebietshoheit begründet keine effektive Kontrolle. Eine Zurechnung des Verhaltens scheidet hier aus. Die genauen Anforderungen an die vom Staat ausgeübte Kontrolle über das Verhalten Privater sind umstritten: Während der IGH effektive Kontrolle fordert, ließ der ICTY in seinem Tadić-Urteil Gesamtkontrolle ausreichen.

4. Eine Haftung Kanadas könnte jedoch aus der Verletzung eigener Pflichten folgen.

Genau, so ist das!

Das Schädigungsverbot hat negative und positive Dimensionen: In seiner negativen Dimension verbietet es erhebliche grenzüberschreitende Umweltschädigungen. In seiner positiven Dimension beinhaltet das Schädigungsverbot ein Verhinderungsgebot. Danach darf ein Staat auf seinem Gebiet ein Verhalten Privater nicht gestatten und muss es unterbrinden, das auf dem Gebiet eines anderen Staates erhebliche Umweltschäden verursacht. Zwar betreibt Kanada die Schmelze nicht selbst, und deren Betrieb ist Kanada auch nicht zurechenbar. Folglich scheidet eine Verletzung der negativen Dimension des Schädigungsverbots durch Kanada aus. Allerdings kommt die Verletzung einer positiven Dimension des Schädigungsverbots (Verhinderungsgebot) in Betracht.

5. Das Schädigungsverbot - also das Verbot, die Umwelt eines anderen Staates erheblich zu schädigen, - ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.

Ja, in der Tat!

Völkergewohnheitsrecht entsteht, wenn eine Vielzahl von Staaten eine einheitliche Rechtspraxis getragen von entsprechender Rechtsüberzeugung teilt. Relevante Staatenpraxis getragen von entsprechender Rechtsüberzeugung kommt zum Ausdruck in Prinzip 21 der Stockholm-Deklaration oder Grundsatz 2 der Rio-Deklaration. Als Geburtsstunde gilt der Trail-Smelter-Schiedsspruch von 1941, der angesichts seiner bloßen inter-partes-Wirkung kein Völkergewohnheitsrecht begründen kann. Die Völkerrechtspraxis hat das Schädigungsverbot mittlerweile aber als Völkergewohnheitsrecht bestätigt (z.B. der IGH im Corfu-Channel-Urteil oder im Nuklearwaffen-Gutachten).

6. Aus dem Schädigungsverbot ergibt sich ein Verhinderungsgebot.

Ja!

Im Trail-Smelter-Fall resümiert das Schiedsgericht, dass kein Staat das Recht habe, sein Territorium in einer Weise zu gebrauchen oder eine solche Nutzung zu gestatten, dass dadurch Schädigung durch Rauch im Territorium eines anderen Staates (...) verursacht wird. Allerdings müsse es sich um ernsthafte Folgen handeln und die Beweislage müsse eindeutig sein (Trail Smelter Case, RIAA, Vol. III, S. 1965 f.). Auch die Völkerrechtspraxis anerkennt diese Pflicht der Staaten, kein Verhalten Privater zu gestatten, das auf dem Gebiet eines anderen Staates erhebliche Schäden verursacht. Strukturell verhalten sich Schädigungsverbot und Verhinderungsgebot als zwei Seiten einer Medaille ähnlich wie die abwehrrechtliche Dimension und die Schutzpflichtendimension der Grundrechte.

7. Kanada hat das aus dem Schädigungsverbot abgeleitete Verhinderungsgebot verletzt.

Genau, so ist das!

Das Verhinderungsgebot ist verletzt, wenn ein Staat Verhalten Privater auf seinem Gebiet gestattet bzw. nicht unterbindet, das auf dem Gebiet eines anderen Staates erhebliche Umweltschäden verursacht. Der Ausstoß von Schwefeldioxiden durch die Schmelzanlage verursacht schwere Schäden an der Landwirtschaft in den USA und wirkt sich damit erheblich negativ auf die dortige Umwelt aus. Indem Kanada diese schädlichen Emissionen nicht unterbindet, verletzt es das Verhinderungsgebot. Das Schiedsgericht begnügte sich mit dieser Feststellung. Mittlerweile versteht die Völkerechtspraxis das Schädigungsverbot jedoch primär als Sorgfaltsverpflichtung, sodass selbst bei Schadenseintritt ein Sorgfaltsverstoß hätte festgestellt werden müssen.

8. Die Emissionen der Schmelze können auf ein unschädliches Maß reduziert werden. Haben die USA einen Anspruch auf komplette Einstellung des Schmelzbetriebs?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach den Grundsätzen zur Staatenverantwortlichkeit besteht ein Anspruch auf Einstellung, wenn das Verhalten des anderen Staates zurechenbar Völkerrecht verletzt. Völkerrechtswidriges Verhalten und Einstellungsanspruch sind streng kausal, d.h. ein Verhalten ist nur in dem Umfang einzustellen, in dem es auch einen Völkerrechtsverstoß begründet. Ausweislich wissenschaftlicher Erkenntnisse kann der Betrieb auf ein Emissionsmaß reduziert werden, das keine erheblichen Umweltschäden verursacht (Trail Smelter Case, aoO, S. 1966 ff.). Insoweit ist kausal für die Verletzung des Schädigungsverbots nur die Gestattung derjenigen Emissionen, die über das das verträgliche Maß hinausgehen. Es besteht mithin ein Anspruch auf Reduktion der Emissionen, aber nicht auf gänzliche Einstellung des Schmelzbetriebs.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

© Jurafuchs 2024