Mephisto-Entscheidung

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zu Mephisto (BVerfGE 30-173): Gustaf Gründgens als Mephisto in Goethes Faust

Klaus Manns Roman „Mephisto“ schildert Aufstieg und Karriere des opportunistischen Schauspielers Hendrik Höfgen in Nazideutschland. Erkennbare Vorlage war der echte Schauspieler Gustaf Gründgens. Dessen Alleinerbe erwirkt ein Verbot gegen Verleger V, „Mephisto“ zu veröffentlichen.

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Einordnung des Falls

Der „Mephisto“-Beschluss ist eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). In der Entscheidung von 1971 definiert das BVerfG den Schutzbereich der Kunstfreiheit und äußert sich detailliert ihren Schranken. In der Sache ging es um die Frage, ob der Roman „Mephisto - Roman einer Karriere“ des Schriftstellers Klaus Mann veröffentlicht werden darf. „Mephisto“ schildert Aufstieg und Karriere des opportunistischen Schauspielers Hendrik Höfgen, der zum Zweck seines Erfolgs politische Überzeugungen und ethische Vorbehalte ablegt und gemeinsame Sache mit den Nazis macht. Erkennbare Vorlage für Manns Romanfigur war der echte Schauspieler Gustaf Gründgens. Dessen Alleinerbe Peter Gorski erwirkte ein Verbot gegen den Verleger, „Mephisto“ zu veröffentlichen. Dagegen klagt der Verleger erfolglos und erhebt daraufhin Verfassungsbeschwerde. Die Entscheidung ist grundlegend für das Verständnis des vorbehaltlos gewährten Grundrechts der Kunstfreiheit. Das BVerfG nimmt eine ausführliche Abwägung der kollidierenden Verfassungsgüter – Kunstfreiheit des Verlegers gegen postmortalen Persönlichkeitsschutz von Gustaf Gründgens - vor und zeigt das Prüfungsprogramm zur Herstellung praktischer Konkordanz auf.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist ein Roman Kunst im Sinne der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG)?

Genau, so ist das!

Im Mephisto-Beschluss hat das BVerfG Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG wie folgt definiert: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“ (sog. materialer Kunstbegriff). Daneben stehen mittlerweile der formale Kunstbegriff (Kunst als Teil eines bestimmten Werktyps, z.B. Literatur, Malerei, Schauspiel)) und der offene Kunstbegriff (Kunst als praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung). Der Roman ist nach allen Kunstbegriffen Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.
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2. Schützt die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) nur die künstlerische Betätigung, nicht jedoch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Kunstfreiheit schützt nicht nur die künstlerische Betätigung (den „Werkbereich“), sondern auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks (den „Wirkbereich“). Der „Wirkbereich“, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist für die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG elementar. Die Gewährleistung des „Werkbereichs“ reicht nicht aus, um die Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne Erstreckung des Geltungsbereichs der Kunstfreiheit auf den „Wirkbereich“ würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen. „Werkbereich“ und „Wirkbereich“ sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk, sie bilden eine unlösbare Einheit. Die Unterscheidung von Werkbereich und Wirkbereich solltest Du in der Klausur - zumindest knapp - darstellen.

3. Berührt das Verbot, den Roman „Mephisto“ zu veröffentlichen, den Schutzbereich der Kunstfreiheit des Verlegers V?

Ja!

Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG garantiert die Freiheit der Betätigung im Kunstbereich umfassend. Der persönliche Schutzbereich der Kunstfreiheit schützt - gerade im „Wirkbereich“ - damit auch denjenigen, der eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Kunstwerk und Publikum ausübt. Zu solchen Kommunikationsmittlern gehören etwa Verlegerinnen, Produzenten, Agentinnen oder Galeristen. V kann sich als Verleger des Romans auf die Kunstfreiheit berufen. Im Fall Mephisto hatte der Verleger gegen das Verbot der Veröffentlichung des Romans geklagt, aber vor OLG und BGH verloren. Dagegen wandte V sich mit der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG.

4. Unterliegt die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist nach Wortlaut, Systematik und Telos vorbehaltlos gewährleistet. Einer „Schrankenleihe“ - also der Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG - hat das BVerfG im Mephisto-Beschluss eine Absage erteilt. Dagegen spricht die eindeutige systematische Stellung der Kunstfreiheit nach den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG. Gleiches gilt für eine Übertragung der Schrankentrias der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, da diese gegenüber den speziellen Freiheitsrechten subsidiär ist. Du beweist Übersicht, wenn Du diese seit Langem geklärte Problematik der „Schrankenleihe“ bei Art. 5 Abs. 3 GG in der Klausur - so wie hier ausgeführt - ganz knapp im Urteilsstil abhandelst.

5. Können bei Literatur oder Schauspiel einzelne Teile der Erzählung herausgelöst und als Meinungsäußerungen qualifiziert werden, mit der Konsequenz, dass sie dem Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG unterfallen?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach Systematik, Historie und Telos ist die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) lex specialis gegenüber der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Sie ist kein Unterfall der Meinungsäußerungsfreiheit. Ein künstliches Aufspalten von Kunstwerken in Einzelbestandteile, die der Meinungsfreiheit unterfielen, verbietet sich. Das BVerfG führt für die vorbehaltlose Gewährleistung der Kunstfreiheit gerade auch die Erfahrungen aus der NS-Zeit an, in der „Kunst und Künstler in die völlige Abhängigkeit politisch-ideologischer Zielsetzungen versetzt oder zum Verstummen gebracht“ worden waren. Auch dies hatte den Verfassungsgeber veranlasst, die „Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit“ der Kunstfreiheit besonders zu garantieren.

6. Die Kunstfreiheit ist ein vorbehaltslos gewährtes Grundrecht. Bedeutet dies, dass die Kunstfreiheit nicht eingeschränkt werden kann?

Nein!

Die Grundrechte des GG gelten - mit Ausnahme der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) - nicht absolut, sondern können im Einzelfall eingeschränkt werden. Grundrechte mit einfachem oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt können unter dessen jeweiligen Voraussetzungen eingeschränkt werden. Vorbehaltlos gewährte Grundrechte - wie die Kunstfreiheit - unterliegen (nur) den verfassungsimmanenten Schranken kollidierenden Verfassungsrechts. Sie sind mit kollidierenden Verfassungsgütern - also mit Grundrechten Dritter sowie sonstigen Verfassungswerten - in möglichst schonenden Ausgleich zu bringen (praktische Konkordanz). Die differenzierte Schrankensystematik des GG ist keine Selbstverständlichkeit. Die Europäische Grundrechtecharta (GRCh) unterwirft alle EU-Grundrechte einem einheitlichen Gesetzesvorbehalt (Art. 52 Abs. 1 GRCh). Für den Erfolg Deiner Klausur ist es zentral, dass Du die Schranke des einschlägigen Grundrechts zutreffend identifizierst, weil dies erhebliche Auswirkungen auf die Rechtfertigung von Eingriffen hat.

7. Ist eine Kollision der Kunstfreiheit des Verlegers V mit den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern von Gustaf Gründgens vorliegend ausgeschlossen, weil Gründgens bereits tot ist?

Nein, das ist nicht der Fall!

Jeder Mensch genießt einen in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden allgemeinen sozialen Wert- und Achtungsanspruch. Dieser wirkt auch nach dem Tod fort (postmortaler Persönlichkeitsschutz) und verpflichtet den Staat, den Achtungsanspruch des Einzelnen auch nach dessen Tod zu schützen. Je länger der Betroffene tot ist, desto stärker nimmt der Achtungsanspruch und das berechtigte Interesse an der Nichtverfälschung seines Lebensbildes ab. BVerfG: Zum Zeitpunkt der Entscheidung sei die Erinnerung des Publikums an Gründgens noch lebendig. Deshalb dauere der Schutz von Gründgens Achtungsanspruchs im sozialen Raum noch fort. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) besteht indes nicht über den Tod hinaus. Denn es knüpft - wie alle Grundrechte - unmittelbar an die Grundrechtsfähigkeit an. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind jedoch nur lebende Personen.

8. Ist eine Kollision der Kunstfreiheit des Verlegers V mit dem (postmortalen) Persönlichkeitsschutz von Gustaf Gründgens vorliegend ausgeschlossen, weil der Roman rein künstlerisch wirkt?

Nein, das trifft nicht zu!

Die Kunstfreiheit kann mit dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht von Personen in Konflikt geraten, auf die im Kunstwerk - obschon verfremdet - Bezug genommen wird. Denn ein Kunstwerk wirkt nicht nur als „ästhetische“ Realität, sondern entfaltet auch im außerkünstlerischen Sozialbereich Wirkungen. Gründgens war die erkennbare Vorlage der Romanfigur Hendrik Höfgens. Der Roman schildert Höfgens - und damit verfremdet auch Gründgens' - Opportunismus in seiner Karriere in Nazideutschland. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Leser des Romans Gründgens mit Höfgen in Verbindung bringen und in der Folge Gründgens Ruf und soziale Achtung leiden. Mithin kommt eine Beeinträchtigung von Gründgens postmortalem Persönlichkeitsschutz durch die Veröffentlichung des Romans in Betracht.

9. Genießt die Kunstfreiheit - in der Kollision zwischen Vs Kunstfreiheit auf der einen Seite und Gründgens (postmortalem) Persönlichkeitsschutz auf der anderen - offenkundig den Vorrang?

Nein!

Kollidieren Verfassungsgüter miteinander - wie etwa vorliegend Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz -, so sind die Güter und ihre jeweilige Betroffenheit im Einzelfall gegeneinander abzuwägen und möglichst schonend miteinander in Ausgleich zu bringen (praktische Konkordanz). BVerfG: „Der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen ist ebenso wenig der Kunstfreiheit übergeordnet, wie sich die Kunst ohne Weiteres über den allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen hinwegsetzen darf.“ Im Mephisto-Beschluss setzte sich das BVerfG erstmals mit dem Verhältnis zwischen der Kunstfreiheit und kollidierenden Grundrechten Dritter auseinander.

10. Ist es für die Entscheidung, ob Kunstfreiheit oder Persönlichkeitsschutz überwiegt, relevant, inwieweit das künstlerische „Abbild“ das „Urbild“ verfremdet und künstlerisch verselbstständigt?

Genau, so ist das!

BVerfG: Bei der Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz ist maßgeblich, inwieweit das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ durch die künstlerische Gestaltung so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle zugunsten des Zeichenhaftens der „Figur“ objektiviert ist. Handelt es sich jedoch um ein „Porträt“ des „Urbilds“, kommt es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung und darauf an, wie stark der Ruf bzw. das Andenken des Betroffenen beeinträchtigt wird. Im Fall Mephisto bestand unter den mitwirkenden Richtern Stimmengleichheit (drei zu drei Stimmen). Gemäß § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG konnte deshalb nicht festgestellt werden, dass die Urteile, die das Verbot der Veröffentlichung des Romans aufrechterhalten hatten, gegen das GG verstießen. Das Verbot blieb daher bestehen. Es erscheint zweifelhaft, dass die Entscheidung heute noch einmal so ergehen würde. „Mephisto“ wurde schließlich 1981 in Westdeutschland veröffentlicht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

🔥1312

🔥1312🔥

1.10.2021, 10:54:08

Kann mir jemand den Maßstab des Bverfg noch mal erklären? Gerade bei diesem Ausschnitt verstehe ich leider einfach nicht, was genau eigentlich gemeint ist: "Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das "Abbild" gegenüber dem "Urbild" durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, daß das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der "Figur" objektiviert ist"

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.10.2021, 20:56:11

Hallo jolojo, hier hat das BVerfG in seiner unnachahmlichen Art in der Tat mal wieder ein besonders schönes Werk juristischer Unverständlichkeit erzeugt. Die dahinterstehende Überlegung ist dabei zumindest in der Theorie denkbar einfach. Erweckt ein Werk einen sehr stark autobiographischen Eindruck und suggeriert damit, die Realität abzubilden, so überwiegt das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Ist das Werk dagegen hinreichend verfremdet, geprägt durch die künstlerische Gestaltung und ist es insoweit lediglich angelehnt an eine reale Persönlichkeit, so überwiegt hier die Kunstfreiheit. In der Praxis ist diese Abwägung natürlich eine enorme Gradwanderung und oftmals keineswegs eindeutig. Das zeigte sich auch bei dem Mephisto-Beschluss in dem es ja letztlich sogar eine Pattsituation gab. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

🔥1312

🔥1312🔥

3.10.2021, 22:08:23

Danke für die gute Erklärung. Finde fast, ihr solltet das auf der letzten "slide" des Falles mitaufnehmen als Erklärung.

FABY

Faby

24.10.2021, 14:51:34

Stimme jolojo zu. Erst mit der Erklärung im Kommentar habe ich den Absatz verstanden :)

PPAA

Philipp Paasch

22.6.2022, 23:53:04

Man kann es vielleicht verstehen, aber es erscheint unnötig aufgestockt. Als BVerfG-Richter muss man wohl mehr als üblich flexen.

TI

Timurso

15.2.2023, 16:46:11

Kann man die Abwägung wie folgt zusammenfassen? Je stärker das Kunstwerk 1. verfremdet ist und 2. der Wirklichkeit entspricht, desto eher überwiegt die Kunstfreiheit. Je stärker 1. die Vorlage erkennbar ist und 2. über diese unwahre Aussagen getroffen werden, deste eher überwiegt der postmortale Persönlichkeitsschutz. Historisch akkurate Darstellungen dürften ja schließlich kaum verboten sein, selbst wenn die Person eindeutig erkennbar ist oder sogar namentlich genannt wird.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.2.2023, 18:20:52

Hallo Timurso, das trifft es schon ganz gut. Oder mit anderen Worten, wenn ein "Typus" und kein "Porträt" im Vordergrund steht, hat der Künstler einen größeren Gestaltungsspielraum und kann eben auch Dinge hinzudichten. Je mehr das Werk in Richtung "Porträt" geht, desto eher muss er sich an die Fakten halten und darf den Porträtierten gerade kein "negativ-verfälschendes Porträt" erstellen. Die Grenzen sind hier aber natürlich absolut fließend, was auch die Pattentscheidung des Gerichts in dem hier behandelten Fall sehr eindrücklich zeigt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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