Fehlerhafte Anwendung einer Ausschlussfrist und allgemeiner Justizgewährungsanspruch


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Am 11.10. wird ein Vollstreckungsbescheid gegen B in seinen Briefkasten eingelegt. 2 Jahre später erhebt B Einspruch und beantragt die Wiedereinsetzung mangels wirksamer Zustellung; er habe dort erwiesenermaßen nie gewohnt. Die Fachgerichte lehnen dies wegen § 234 Abs. 3 ZPO ab.

Einordnung des Falls

Fehlerhafte Anwendung einer Ausschlussfrist und allgemeiner Justizgewährungsanspruch

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der sog. allgemeine Justizgewährungsanspruch ergänzt das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), indem er von Verfassungs wegen einen Instanzenzug garantiert.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Verfassung gewährleistet effektiven Rechtsschutz gegen rechtsverletzende Akte der Exekutive (Art. 19 Abs. 4 GG). Maßnahmen der Judikative werden jedoch grundsätzlich nicht davon erfasst – es gilt der Merksatz, dass Art. 19 Abs. 4 GG „Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter“ bietet. In den nicht von Art. 19 Abs. 4 GG erfassten Fällen hat der Einzelne den sog. allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Dieser gewährleistet zwar keinen Instanzenzug, aber einen wirksamen Rechtsschutz innerhalb der prozessual vorgesehenen Möglichkeiten.

2. B erhebt Verfassungsbeschwerde. Diese ist zulässig, denn er kann sich auf eine mögliche Verletzung seines allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) berufen.

Ja!

BVerfG: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, denn eine mögliche Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs sei hinreichend dargetan. B rüge der Sache nach, dass ihm wegen einer unrichtigen Berechnung der Einspruchsfrist eine Prüfung der gegen ihn erhobenen Forderung in verfassungswidriger Weise verwehrt worden sei (RdNr. 14). Es geht also um einen Fall, in dem die ordentlichen Gerichte dem B Rechtsschutz verwehrt haben. Dies ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, und nicht etwa des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).

3. Im Zivilprozess gewährleistet der allgemeine Justizgewährungsanspruch, dass der Zugang zu einem prozessual vorgesehenen Rechtsmittel nicht in unzumutbarer Weise erschwert werden darf.

Genau, so ist das!

BVerfG: Für den Zivilprozess ergebe sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ein allgemeiner Justizgewährungsanspruch. Dieser sei bei Auslegung und Anwendung der Normen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind, zu berücksichtigen. Der Zugang zu einem prozessual vorgesehen Rechtsmittel dürfe nicht unzumutbar erschwert werden. Dies sei „insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht ohne Auseinandersetzung mit der Sach- und Rechtslage eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder deren Inhalt bei Auslegung und Anwendung in krasser Weise missdeutet“ (RdNr. 16).

4. Zulässiger Rechtsbehelf gegen einen Vollstreckungsbescheid ist der Einspruch. Dieser ist innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung des Vollstreckungsbescheids zu erheben (§ 700 Abs. 1 i.V.m. § 339 Abs. 1 ZPO).

Ja, in der Tat!

Die prozessuale Gleichstellung des Vollstreckungsbescheids mit dem Versäumnisurteil (§ 700 Abs. 1 ZPO) hat zur Folge, dass der Einspruch der einzige statthafte Rechtsbehelf gegen den Vollstreckungsbescheid ist – dies ergibt sich aus § 338 ZPO. Die Einspruchsfrist beträgt zwei Wochen und beginnt mit der Zustellung des Vollstreckungsbescheids (§ 339 Abs. 1 ZPO).

5. Sofern der Adressat der Zustellung nicht persönlich angetroffen wird und zuvor eine unmittelbare Zustellung versucht wurde, kommt grundsätzlich eine sog. Ersatzzustellung in Betracht.

Ja!

Richtig! Wird der Adressat nicht persönlich angetroffen (§ 177 ZPO) und scheitert eine unmittelbare Zustellung (§§ 173 bis 176 ZPO), ist eine Ersatzzustellung möglich. Dadurch kann das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten wirksam zugestellt werden, auch wenn er persönlich hiervon keine Kenntnis hat. Insoweit wird der Zugang fingiert. Das Zivilprozessrecht regelt in §§ 178, 180 und 181 ZPO verschiedene Möglichkeiten der Ersatzzustellung. Vorliegend ist eine Ersatzzustellung durch Einlegung des Schriftstücks in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten erfolgt (§ 180 S. 1 ZPO).

6. Für die Wirksamkeit der Ersatzzustellung (§ 180 S. 1 ZPO) ist es unerheblich, ob der Adressat dort tatsächlich wohnt.

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: An einer wirksamen Ersatzzustellung nach § 180 S. 1 ZPO durch Einlegung des Schriftstücks in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten fehle es, wenn der Adressat der Zustellung die Wohnung, in der der Zustellungsversuch unternommen wird, tatsächlich nicht innehat. Die Beweiskraft der entsprechenden Zustellungsurkunde (§ 182 ZPO) erstreckt sich nicht darauf, dass der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt. In einem solchen Fall fehle es an einem fristauslösenden Ereignis (RdNr. 18).

7. Nach Ablauf eines Jahres ab dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unzulässig (§ 234 Abs. 3 ZPO).

Ja, in der Tat!

Richtig! „Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden“ (§ 234 Abs. 3 ZPO). Diese Ausschlussfrist haben das AG und das LG vorliegend herangezogen, um die Unzulässigkeit des Einspruchs sowie des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu begründen.

8. Die wirksame Zustellung des Vollstreckungsbescheids musste zweifelhaft erscheinen. Die Fachgerichte haben dies in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise nicht hinreichend berücksichtigt.

Ja!

BVerfG: Die wirksame Zustellung des Vollstreckungsbescheids am 11.10. musste vorliegend zweifelhaft erscheinen. B hat eidesstattlich versichert, nicht unter der im Bescheid angegeben Adresse gewohnt zu haben, und hat eine dies bestätigende Meldebescheinigung (§ 18 BMG) vorgelegt. Indem das AG und das LG sich damit nicht auseinandergesetzt haben, haben sie dem B den Zugang zu Gericht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise unzumutbar erschwert. Die Fachgerichte haben B jede Möglichkeit verwehrt, sich in der Sache gegen den ihn erhobenen Anspruch zu verteidigen (RdNr. 19ff.).

9. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch des B ist verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

Genau, so ist das!

Indem die Fachgerichte ohne Auseinandersetzung mit der Ungewissheit über den Fristbeginn die Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO angewendet haben, haben sie den allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) des B verletzt. Die Verfassungsbeschwerde des B ist somit begründet. Zu beachten ist hier, dass sich die prozessrechtlich einwandfreie Lösung der Fachgerichte dennoch als rechtswidrig erwiesen hat, weil sie mit der Verfassung im Widerspruch steht. Insoweit ist die Ausschlussfrist (§ 234 Abs. 3 ZPO) also ausnahmsweise nicht anzuwenden, wenn dies verfassungsrechtlich geboten ist.

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