Rechtsstaatswidrige Tatprovokation, Art. 6 EMRK

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der nunmehr unbescholtene, ehemalige Drogenhändler D lässt sich vom verdeckten Ermittler V nach monatelangem Flehen und Drängen schließlich zähneknirschend überzeugen, über alte Kontakte Drogen zu besorgen. D wird wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 29 BtMG) verurteilt.

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Einordnung des Falls

Rechtsstaatswidrige Tatprovokation, Art. 6 EMRK

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) kann nach der Rechtsprechung des BGH vorliegen, wenn der Täter durch verdeckte Ermittler zur Tat verleitet wird.

Ja!

Nach dem BGH liegt eine Tatprovokation entgegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK vor, wenn ein verdeckter Ermittler eine nicht tatgeneigte Person in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet. Der Ermittler muss über das bloße „Mitmachen“ erheblich auf den Täter einwirken, um eine nicht vorhandene Tatbereitschaft zu wecken oder eine Intensivierung der Tatplanung zu erreichen. Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2, § 160 StPO) kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist.
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2. Erfüllt das monatelange Drängen und Flehen des V die Anforderungen an eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation?

Genau, so ist das!

V muss den D in einer dem Grundsatz des fairen Verfahrens widersprechenden Weise zur Tat verleitet haben. Entscheidend sind Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, sowie Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme und die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen. D wurde nur durch das monatelange kontinuierliche Drängen und Flehen des V zur Tatbegehung angeregt und musste erheblich überzeugt werden. D hatte mit dem Drogenhandel nichts mehr am Hut und wurde nur durch V gegen seinen erklärten Willen hierzu verleitet. Tatbeiträge aus eigenem Antrieb erbrachte er keine.

3. Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) können durch Kompensationsmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ausgeglichen werden.

Ja, in der Tat!

Der fair-trial-Grundsatz des Art. 6 Abs. S. 1 EMRK verlangt nur, dass das Verfahren als Ganzes fair ist. Durch ausreichende Kompensationsmaßnahmen können grundsätzlich also Fehler ausgeglichen werden. Regelmäßig lässt der BGH die sogenannte „Vollstreckungslösung" zu. Das Gericht erklärt hierbei im Urteil einen Teil der verhängten Strafe für vollstreckt.An seiner früher gewählten „Strafzumessungslösung", wonach die Strafe bloß gemindert wurde, hält der BGH nicht mehr fest. Diese Lösung traf bei absoluten Strafen oder Strafen an der Untergrenze des gesetzlichen Strafrahmens an ihre Grenze und stand im Widerspruch zu den Rechtsfolgen- und Strafzumessungsnormen des StGB.

4. Vorliegend kann die rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch eine Berücksichtigung bei der Haftvollstreckung ausgeglichen werden.

Nein!

Der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK führt ausnahmsweise zur Einstellung des Verfahrens, wenn die Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens so schwer wiegt, dass dies nur durch die Einstellung des Verfahrens wiedergutgemacht werden kann. Die Tat des D geht allein auf das Handeln des V zurück. Ohne diesen wäre es nie zur Tat gekommen. Das faire Verfahren kann hier nur wiederhergestellt werden, wenn die aus der Tatprovokation erlangten Informationen und Beweise vollständig ausgeschlossen werden. Eine verkürzte Strafvollstreckung kann als Kompensation nicht genügen. Das Urteil ist aufzuheben und das Verfahren einzustellen (§ 354 Abs. 1 StPO).Dieser Rechtsprechung des EGMR hatte sich 2015 zunächst der zweite Senat des BGH und 2021 dann auch der erste Senat angeschlossen. Die Besprechung findest Du in unserer aktuellen Rechtsprechung.
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