Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2022

Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten

Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zur Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten (OLG Zweibrücken, Urt. v. 28.04.2022 - 2 U 32/21): Bäcker G möchte dem Hund von Frauchen S ein Geschirrtuch um den Kopf binden. Daraufhin beißt der Hund den G.

Bäckereiverkäufer G bindet dem Hund der Halterin S ein Geschirrtuch um den Kopf, um ihn wie ein „altes Mütterchen" aussehen zu lassen. Daraufhin beißt der Hund G plötzlich in die Hand. G verlangt Schadensersatz.

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Einordnung des Falls

Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer BaWü 2022
Examenstreffer NRW 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte G ein Schadensersatzanspruch aus der Tierhalterhaftung gegen S zustehen (§ 833 S. 1 BGB)?

Ja!

Der Anspruch aus § 833 S. 1BGB setzt voraus: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) durch ein Tier, (3) Haltereigenschaft, (4) haftungsbegründende Kausalität, (5) keine Exkulpation. § 833 BGB enthält zwar zwei Anspruchsgrundlagen: eine Gefährdungshaftung hinsichtlich Luxustieren (§ 833 S. 1 BGB) und eine Haftung für vermutetes Verschulden hinsichtlich Nutztieren (§ 833 S. 2 BGB). Es ist aber üblich, den Anspruch einheitlich zu prüfen und beide Tatbestände i.R.d. Exkulpation abzugrenzen.
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2. Hat G eine Rechtsgutsverletzung erlitten?

Genau, so ist das!

Taugliche Rechts(guts-)verletzung i.S.d. § 833 S. 1 BGB sind Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit eines Menschen sowie Sachbeschädigungen. G erlitt eine Wunde an der Hand, sodass eine Verletzung des Körpers und der Gesundheit vorliegt. Hier ist im Deliktsrecht auf eine genaue Formulierung zu achten: Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit (§ 823 Abs. 1 BGB) sind Rechtsgüter, während das Eigentum und sonstige Rechte schlicht Rechte sind. Diese unterscheiden sich durch ihre Übertragbarkeit. Bei letzteren spricht man daher nicht von einer Rechtsguts- sondern von einer Rechtsverletzung.

3. Erfolgte iese Rechtsgutsverletzung auch durch ein Tier, dessen Halterin S war?

Ja, in der Tat!

Tiere sind alle tierischen Lebewesen im naturwissenschaftlichen Sinne. Aufgrund des Zwecks der Gefährdungshaftung ausgenommen vom Tierbegriff sind nur Mikroorganismen. Halter ist derjenige, der über Existenz und Nutzung des Tieres bestimmt, für seine Kosten aufkommt und das wirtschaftliche Risiko des Verlustes trägt. Der Hund der S stellt ein Tier dar. S war laut Sachverhalt Halterin.Maßgeblich ist, wem das Tier nach der obigen Definition generell zuzurechnen ist. Unerheblich ist hingegen, in wessen Interesse das Tier gerade zur Zeit des Schadensfalles verwendet wird (BGH, NJW-RR 1988, 655 (656)).

4. War das Verhalten des Hundes äquivalent kausal für die Rechtsgutsverletzung?

Ja!

Das Tierverhalten dürfte nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele. Der Hundebiss kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Rechtsgutsverletzung entfiele. Im Hinblick auf § 833 S. 1 BGB kommt nur die Äquivalenz-, nicht die Adäquanztheorie zur Anwendung. Denn eine Gefährdungshaftung soll gerade auch vor unvorhersehbaren Verletzungen schützen.

5. Ist die Rechtsgutsverletzung auch vom Schutzzweck der Norm erfasst?

Genau, so ist das!

In der Verletzung muss sich gerade die spezifische Tiergefahr verwirklicht haben, für die § 833 BGB dem Halter die Haftung auferlegt („durch ein Tier"). Diese Gefahr setzt ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbständiges Verhalten voraus. Dieser Zurechnungszusammenhang fehlt, wenn das Tier unter menschlicher Leitung bloß dem Willen des Halters entsprechend handelt. Der Hund stand hier nicht unter menschlicher Leitung. Der Biss war vielmehr Ausdruck seiner tierischen Unberechenbarkeit.

6. Kann S sich hier aber exkulpieren, da es sich bei dem Hund um ein „Haustier“ iSv § 833 S. 2 BGB handelt?

Nein, das trifft nicht zu!

§ 833 S. 1 und S. 2 BGB sind danach abzugrenzen, ob ein Luxus- oder ein Nutztier gehandelt hat. Haustiere i.S.d. S. 2 sind zahme, vom Menschen zu seinem Nutzen gezogene und gehaltene Tiere. Nutztiere sind Haustiere, die dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt zu dienen bestimmt sind. Maßgeblich ist dabei die allgemeine, nicht die augenblickliche Zweckbestimmung. Der Hund des S ist zwar ein Haustier im Sinne der Norm, aber es fehlt an der Zweckbestimmung (§ 833 S. 2 BGB). Denn S hält den Hund aus bloßer Liebhaberei.

7. Könnte der Anspruch nach § 254 Abs. 1 BGB zu mindern sein?

Ja!

Hat bei der Schadensentstehung ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt der Anspruchsumfang v.a. davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Ein überragendes Eigenverschulden kann hierbei die Tierhalterhaftung gänzlich verdrängen. Auch wenn sich der Geschädigte freiwillig der Tiergefahr aussetzt (sog. Handeln auf eigene Gefahr), führt dies nach h.M. nicht zu einem Zurechnungsausschluss, sondern ist auf Mitverschuldensebene zu berücksichtigen.

8. Ist vorliegend der Anspruch aufgrund überragenden Eigenverschuldens des G gänzlich ausgeschlossen (§ 254 Abs. 1 BGB)?

Genau, so ist das!

Ein Mitverschulden trifft den Geschädigten i.R.d. § 833 BGB, wenn er die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein verständiger Mensch ggü. Tieren beobachtet, um sich vor Schaden zu bewahren. Hier hat sich G mit dem Hund gerade in eine gefahrerhöhende Situation begeben. OLG Zweibrücken: Es sei für jedermann offensichtlich, dass das Einwickeln des Kopfes eines Hundes in ein Geschirrtuch ein Verhalten darstelle, auf das dieser aggressiv reagieren kann (RdNr. 5). G trifft, da er sich bewusst in diese Gefahrenlage begeben hat, ein überragendes Eigenverschulden (§ 254 Abs. 1 BGB), das den an sich bestehenden Anspruch aus § 833 S. 1 BGB gänzlich verdrängt.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du einen Schadensersatzanspruch aus Tierhalterhaftung (§ 833 S. 1 BGB)?

  1. Tatbestand
    1. Rechtsgutsverletzung (Personen- oder Sachschaden)
    2. Schadenverursachung durch ein Tier
      1. Haftungsbegründende Kausalität (Äquivalenztheorie)
      2. Spezifische Tiergefahr (Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens)
    3. Anspruchsgegner ist Tierhalter
    4. Kein Ausschluss gemäß § 833 S. 2 BGB (Nutztierprivileg)
  2. Rechtsfolge: Schadensersatz
    1. Ersatzfähiger Schaden (§§ 249 ff. BGB)
    2. Kausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden
    3. Mitverschulden des Anspruchstellers (§ 254 BGB)?
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Anwalp

Anwalp

21.8.2022, 19:07:30

Ich frag mich wirklich was im Kopf von Menschen wie G so vorgeht ...

Eren Jäger

Eren Jäger

23.8.2022, 16:14:56

Ob er sich das auch bei einem Rottweiler getraut hätte ?

Anwalp

Anwalp

23.8.2022, 16:30:15

Ich glaube wohl nicht 😁 Heyyy du bist doch meiner Anime & Law Gruppe beigetreten! Sehr sympathisch 😁 Es gibt auf Jurafuchs keinen Gruppenchat oder? Wär ne coole Funktion eigentlich

Eren Jäger

Eren Jäger

24.8.2022, 13:36:51

Servus ✌🏽Likewise, aber tatsächlich nur AoT durchgeschaut 🤓 Stimmt, echt sinnvoll, könnte man mal anregen 🔖

PPAA

Philipp Paasch

23.8.2022, 21:17:27

Es ist nicht nachzuvollziehen, wie hier eine 100%ige Mithaftung des G konstruiert wird. Es wäre u.a. mit einzubeziehen, um was es sich für ein Hund handelt, wie alt er ist, welche Rasse usw. und in welcher Beziehung er zu G steht. Dann erst kann man darüber eine Aussage treffen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.8.2022, 18:23:28

Hallo Philipp, Quotenbildung generell und gerade die Frage des Eigenverschuldens ist in der Tat nicht in Stein gemeißelt. Das LG Kaiserslautern (BeckRS 2021, 54541) und daran anschließend auch das OLG Zweibrücken haben in diesem Fall primär auf den Umstand abgestellt, dass "nach der allgemeinen Lebenserfahrung bekannt [sei], dass es aufgrund der Unberechenbarkeit des Verhaltens eines Hundes zu unterbleiben hat, einem fremden - wenngleich durch m

ehre

re Begegnungen bekannten - Hund ein Geschirrtuch über den Kopf zu legen." Streitig war, ob die Klägerin [im Ausgangsfall war es eine Bäckerin, die verletzt worden war] ihr "Necken" in der Vergangenheit habe durchführen können, ohne dass etwas passiert sei. Darauf kam es letztlich aber nicht an, da sie zugleich eingeräumt hatte, dass schon früher der Hund ihre Hand ins Maul genommen habe, was jedenfalls ein deutliches Anzeichen für die Gefährlichkeit ihres Verhaltens gewesen sei. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SH

Shilaw

14.9.2022, 22:36:26

Hätte die S nicht als Hundehalterin verhindern müssen, dass jemand ihrem Hund ein Tuch über den Kopf bindet? Zumindest die G aufhakten müssen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

16.9.2022, 19:47:22

Hallo @[Şirin](191828), danke dir für die Rückfrage. Auf das Verschulden des Tierhalters kommt es bei § 833 BG zur Haftungsbegründung gar nicht an. Das OLG Zweibrücken, dem dieser Fall zur Entscheidung vorlag hat entschieden, dass dem G soviel Mitverschulden zulasten zu legen ist, dass der Anteil der S komplett dahinter zurücktritt. Das kann man sicherlich auch anders sehen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

JANK

JanK

8.1.2023, 21:51:09

Der Fall lief als Teilaufgabe in abgewandelter Form in BaWü im 1. StE im Herbst 2022. Es war keine Bäckerin, sondern ein Tierarzt sowie kein Hund, sondern eine Katze. Die Frage nach dem Mitverschulden war weniger problematisch als hier. Zumindest glaube ich das :D

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.1.2023, 16:39:54

Klasse, vielen Dank für den Hinweis, Jan!

JUL

juliavdb

12.3.2023, 12:15:38

Ich finde diesen täglichen Impuls super!🫶🏻 Vor allem bei examenrelevanten Fällen fände ich es aber noch cool, wenn am Ende noch Fragen kämen dazu, welche Ansprüche noch in Frage kämen bzw. Delikte im Strafrecht oder z.B. verletzte Grundrechte im öffR Liebe Grüße 🌞

Nora Mommsen

Nora Mommsen

12.3.2023, 12:26:50

Hallo juliavdb, danke für die Rückmeldung! Es freut uns, wenn die Features gut bei uns ankommen. Wir schauen mal, wie wir das umsetzen können bei zukünftigen Fällen. :) Viele Grüße und einen schönen Sonntag noch, Nora - für das Jurafuchs-Team

HO

HolaQueTal

12.7.2023, 09:56:22

Der Fall kam im Juli leicht abgewandelt im Assessorexamen in NRW

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.7.2023, 17:27:46

Lieben Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

1.9.2023, 11:58:59

Lief abgewandelt auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, mit einer Ärztin statt Bäckerin

Johannes Nebe

Johannes Nebe

20.12.2023, 19:28:38

Ich verstehe nicht ganz, worauf die Vertiefung mit Zurechnungsausschluss versus Mitverschulden hinauswill. Unterscheidet sich hier die Wertung im Deliktrecht von der im Strafrecht? Wäre im StR im Ggs zum DeliktR die Mitverursachung der Gefahr im Tatbestand zum Tragen gekommen?

Steinfan

Steinfan

5.3.2024, 17:48:10

Im StrafR gibt es kein Mitverschulden. Ein mitursächliches Verhalten des Geschädigten oder Dritter wird nach der Lit. im Rahmen der objektiven Zurechnung berücksichtigt. In der strafrechtlichen Prüfung und Terminologie wäre hier an eine den

Schutzzweckzusammenhang

ausschließende

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

zu denken. In der zivilrechtlichen Gefährdungshaftung gelten hingegen andere Maßstäbe. Auch hier könnte man aber auf die Idee kommen, den Verursachungsbeitrag des Geschädigten bereits in der Zurechnung zu thematisieren. Der Gedanke ist, dass sich nicht die spezifische Tiergefahr realisiert hat, sondern eine vom Geschädigten selbst gesetzte Gefahr. Im Zivilrecht wird diese Abwägung aber, wie sich an § 254 zeigt, erst bei der Haftungsausfüllung relevant. Es gilt eben nicht wie im StrafR das „alles oder nichts“-Prinzip, sondern die Kosten werden nach Verursachungsbeiträgen aufgeteilt.

Johannes Nebe

Johannes Nebe

5.3.2024, 17:54:45

Danke, Steinfan, das war sehr hilfreich!


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