Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2022
Fall zur Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten (OLG Zweibrücken, Urt. v. 28.04.2022 - 2 U 32/21): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs
Fall zur Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten (OLG Zweibrücken, Urt. v. 28.04.2022 - 2 U 32/21): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Bäckereiverkäufer G bindet dem Hund der Halterin S ein Geschirrtuch um den Kopf, um ihn wie ein „altes Mütterchen" aussehen zu lassen. Daraufhin beißt der Hund G plötzlich in die Hand. G verlangt Schadensersatz.
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Einordnung des Falls
Tierhalterhaftung bei Eigenverschulden des Verletzten
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte G ein Schadensersatzanspruch aus der Tierhalterhaftung gegen S zustehen (§ 833 S. 1 BGB)?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat G eine Rechtsgutsverletzung erlitten?
Genau, so ist das!
3. Erfolgte iese Rechtsgutsverletzung auch durch ein Tier, dessen Halterin S war?
Ja, in der Tat!
4. War das Verhalten des Hundes äquivalent kausal für die Rechtsgutsverletzung?
Ja!
5. Ist die Rechtsgutsverletzung auch vom Schutzzweck der Norm erfasst?
Genau, so ist das!
6. Kann S sich hier aber exkulpieren, da es sich bei dem Hund um ein „Haustier“ iSv § 833 S. 2 BGB handelt?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Könnte der Anspruch nach § 254 Abs. 1 BGB zu mindern sein?
Ja!
8. Ist vorliegend der Anspruch aufgrund überragenden Eigenverschuldens des G gänzlich ausgeschlossen (§ 254 Abs. 1 BGB)?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
Prüfungsschema
Wie prüfst Du einen Schadensersatzanspruch aus Tierhalterhaftung (§ 833 S. 1 BGB)?
- Tatbestand
- Rechtsgutsverletzung (Personen- oder Sachschaden)
- Schadenverursachung durch ein Tier
- Haftungsbegründende Kausalität (Äquivalenztheorie)
- Spezifische Tiergefahr (Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens)
- Anspruchsgegner ist Tierhalter
- Kein Ausschluss gemäß § 833 S. 2 BGB (Nutztierprivileg)
- Rechtsfolge: Schadensersatz
- Ersatzfähiger Schaden (§§ 249 ff. BGB)
- Kausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden
- Mitverschulden des Anspruchstellers (§ 254 BGB)?
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Anwalp
21.8.2022, 19:07:30
Ich frag mich wirklich was im Kopf von Menschen wie G so vorgeht ...
Eren Jäger
23.8.2022, 16:14:56
Ob er sich das auch bei einem Rottweiler getraut hätte ?
Anwalp
23.8.2022, 16:30:15
Ich glaube wohl nicht 😁 Heyyy du bist doch meiner Anime & Law Gruppe beigetreten! Sehr sympathisch 😁 Es gibt auf Jurafuchs keinen Gruppenchat oder? Wär ne coole Funktion eigentlich
Eren Jäger
24.8.2022, 13:36:51
Servus ✌🏽Likewise, aber tatsächlich nur AoT durchgeschaut 🤓 Stimmt, echt sinnvoll, könnte man mal anregen 🔖
Philipp Paasch
23.8.2022, 21:17:27
Es ist nicht nachzuvollziehen, wie hier eine 100%ige Mithaftung des G konstruiert wird. Es wäre u.a. mit einzubeziehen, um was es sich für ein Hund handelt, wie alt er ist, welche Rasse usw. und in welcher Beziehung er zu G steht. Dann erst kann man darüber eine Aussage treffen.
Lukas_Mengestu
25.8.2022, 18:23:28
Hallo Philipp, Quotenbildung generell und gerade die Frage des Eigenverschuldens ist in der Tat nicht in Stein gemeißelt. Das LG Kaiserslautern (BeckRS 2021, 54541) und daran anschließend auch das OLG Zweibrücken haben in diesem Fall primär auf den Umstand abgestellt, dass "nach der allgemeinen Lebenserfahrung bekannt [sei], dass es aufgrund der Unberechenbarkeit des Verhaltens eines Hundes zu unterbleiben hat, einem fremden - wenngleich durch mehrere Begegnungen bekannten - Hund ein Geschirrtuch über den Kopf zu legen." Streitig war, ob die Klägerin [im Ausgangsfall war es eine Bäckerin, die verletzt worden war] ihr "Necken" in der Vergangenheit habe durchführen können, ohne dass etwas passiert sei. Darauf kam es letztlich aber nicht an, da sie zugleich eingeräumt hatte, dass schon früher der Hund ihre Hand ins Maul genommen habe, was jedenfalls ein deutliches Anzeichen für die Gefährlichkeit ihres Verhaltens gewesen sei. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Shilaw
14.9.2022, 22:36:26
Hätte die S nicht als Hundehalterin verhindern müssen, dass jemand ihrem Hund ein Tuch über den Kopf bindet? Zumindest die G aufhakten müssen?
Nora Mommsen
16.9.2022, 19:47:22
Hallo @[Şirin](191828), danke dir für die Rückfrage. Auf das Verschulden des Tierhalters kommt es bei § 833 BG zur Haftungsbegründung gar nicht an. Das OLG Zweibrücken, dem dieser Fall zur Entscheidung vorlag hat entschieden, dass dem G soviel Mitverschulden zulasten zu legen ist, dass der Anteil der S komplett dahinter zurücktritt. Das kann man sicherlich auch anders sehen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
JanK
8.1.2023, 21:51:09
Der Fall lief als Teilaufgabe in abgewandelter Form in BaWü im 1. StE im Herbst 2022. Es war keine Bäckerin, sondern ein Tierarzt sowie kein Hund, sondern eine Katze. Die Frage nach dem Mitverschulden war weniger problematisch als hier. Zumindest glaube ich das :D
Lukas_Mengestu
9.1.2023, 16:39:54
Klasse, vielen Dank für den Hinweis, Jan!
juliavdb
12.3.2023, 12:15:38
Ich finde diesen täglichen Impuls super!🫶🏻 Vor allem bei examenrelevanten Fällen fände ich es aber noch cool, wenn am Ende noch Fragen kämen dazu, welche Ansprüche noch in Frage kämen bzw. Delikte im Strafrecht oder z.B. verletzte Grundrechte im öffR Liebe Grüße 🌞
Nora Mommsen
12.3.2023, 12:26:50
Hallo juliavdb, danke für die Rückmeldung! Es freut uns, wenn die Features gut bei uns ankommen. Wir schauen mal, wie wir das umsetzen können bei zukünftigen Fällen. :) Viele Grüße und einen schönen Sonntag noch, Nora - für das Jurafuchs-Team
HolaQueTal
12.7.2023, 09:56:22
Der Fall kam im Juli leicht abgewandelt im Assessorexamen in NRW
Lukas_Mengestu
12.7.2023, 17:27:46
Lieben Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
CR7
1.9.2023, 11:58:59
Lief abgewandelt auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, mit einer Ärztin statt Bäckerin
Johannes Nebe
20.12.2023, 19:28:38
Ich verstehe nicht ganz, worauf die Vertiefung mit Zurechnungsausschluss versus Mitverschulden hinauswill. Unterscheidet sich hier die Wertung im Deliktrecht von der im Strafrecht? Wäre im StR im Ggs zum DeliktR die Mitverursachung der Gefahr im Tatbestand zum Tragen gekommen?
Steinfan
5.3.2024, 17:48:10
Im StrafR gibt es kein Mitverschulden. Ein mitursächliches Verhalten des Geschädigten oder Dritter wird nach der Lit. im Rahmen der objektiven Zurechnung berücksichtigt. In der strafrechtlichen Prüfung und Terminologie wäre hier an eine den
Schutzzweckzusammenhangausschließende
eigenverantwortliche Selbstgefährdungzu denken. In der zivilrechtlichen Gefährdungshaftung gelten hingegen andere Maßstäbe. Auch hier könnte man aber auf die Idee kommen, den
Verursachungsbeitragdes Geschädigten bereits in der Zurechnung zu thematisieren. Der Gedanke ist, dass sich nicht die spezifische
Tiergefahrrealisiert hat, sondern eine vom Geschädigten selbst gesetzte Gefahr. Im Zivilrecht wird diese Abwägung aber, wie sich an § 254 zeigt, erst bei der Haftungsausfüllung relevant. Es gilt eben nicht wie im StrafR das „alles oder nichts“-Prinzip, sondern die Kosten werden nach Verursachungsbeiträgen aufgeteilt.
Johannes Nebe
5.3.2024, 17:54:45
Danke, Steinfan, das war sehr hilfreich!