Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2022

Anforderungen an eine zulässige Verdachtsberichterstattung

Anforderungen an eine zulässige Verdachtsberichterstattung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Zeitung B möchte über den Vorwurf des gewerbsmäßigen Betrugs gegen S berichten. Die Hauptverhandlung soll am 20.02. stattfinden. Am 08.02. um 9 Uhr kontaktiert B den S mit der Bitte um Stellungnahme bis 16 Uhr. Zwei Stunden später antwortet S und bittet um eine Fristverlängerung. B reagiert hierauf nicht.

Diesen Fall lösen 82,9 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein beliebter Prüfungsstoff in zivilrechtlichen Klausuren, da hierdurch abgeprüft werden kann, ob es den Studierenden gelingt, verschiedene Rechtsbereiche zu verknüpfen. Der vorliegende Fall befasst sich dabei mit der Frage, inwieweit es zulässig ist, über ein noch laufendes Verfahren zu berichten (Stichwort: „Unschuldsvermutung“) und welche Sanktion eine ggfs. unzulässige Berichterstattung nach sich ziehen kann.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Am 10.02. veröffentlicht B den Bericht. Könnte S gegen B einen Anspruch auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG haben?

Ja!

Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) Rechtsgutsverletzung (2) Handlung (3) Haftungsbegründende Kausalität (4) Rechtswidrigkeit (5) Verschulden (6) Schaden (7) Haftungsausfüllende Kausalität (8) Kein Ausschluss / keine Verjährung.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. B hat in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des S eingegriffen und damit ein von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut verletzt.

Genau, so ist das!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein sonstiges Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB. Es schützt die Achtung und die Entfaltung der Persönlichkeit und leitet sich aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ab. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn (1) der Schutzbereich eröffnet ist und (2) in diesen eingegriffen wird. B berichtet über ein laufendes Strafverfahren zulasten des S. Grund für ein Strafverfahren ist stets ein von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Wird ein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt, droht der gute Ruf des S beschädigt zu werden. Sein Ansehen sinkt jedenfalls bei den Lesern der Zeitung. Bs Veröffentlichung des Beitrags über S ist auch kausal für die Rechtsgutsverletzung.

3. Indiziert eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Rechtswidrigkeit der Rechtsgutsverletzung?

Nein, das trifft nicht zu!

Im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB wird die Rechtswidrigkeit des Verhalten in der Regel durch die Rechtsgutsverletzung indiziert. Dies gilt jedoch nicht für alle von § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter und Verhaltensweisen. Relevant wird dies vor allem bei Rechtsgütern mit offenem Tatbestand (Rahmenrechte). Eine Verletzung von Rahmenrechten – wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrechts – indiziert die Rechtswidrigkeit nicht. Vielmehr ist diese durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung festzustellen. Diese besondere rechtliche Bewertung der Verletzung von Rahmenrechten resultiert aus ihrem offenen Tatbestand, also daraus, dass ihr rechtlicher Gehalt nicht abschließend bestimmt ist. Merk Dir, dass Du bei Rahmenrechten eine umfassende Güter- und Interessenabwägung vornimmst und nicht wie sonst bei § 823 Abs. 1 BGB die Rechtswidrigkeit einfach annimmst.

4. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des S die schutzwürdigen Belange der B überwiegt.

Ja!

Die Rechtswidrigkeit der Verletzung von Rahmenrechten ist durch eine umfassende Güter- und Interessenabwägung festzustellen. Hierbei sind sämtliche Umstände des Einzelfalls und insbesondere die betroffenen Grundrechte zu beachten. Außerdem ist zu beachten, in welche Sphäre der Persönlichkeit eingegriffen wird: Man unterscheidet zwischen der (1) Intimsphäre, der (2) Privatsphäre und der (3) Sozialsphäre. Je höher die Intensität des Eingriffs, desto schwieriger ist eine Rechtfertigung. Im Rahmen der Güter- und Interessenabwägung streiten für S insbesondere der Schutz seiner Persönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG. Dem gegenüber streiten für B die Meinungs- und Medienfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. In jedem Rechtsgebiet solltest Du vor einer Abwägung darstellen, welche Interessen für die Parteien jeweils streiten, bevor Du in die eigentliche Abwägung – also die Gewichtung und Gegenüberstellung – einsteigst. Dies gibt Deiner Abwägung die notwendige Struktur. Auch wenn die Grundrechte keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten entfalten, sind die Grundrechte als objektive Werteordnung zu berücksichtigen. Sie strahlen deshalb im Wege der mittelbaren Drittwirkung auf das Privatrecht aus. Sie finden Eingang ins Privatrecht über unbestimmte Rechtsbegriffe – wie den Rechtsbegriff des „sonstigen Rechts“ in § 823 Abs. 1 BGB.

5. Wird in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch eine Tatsachenbehauptungen eingegriffen, ist insbesondere der Wahrheitsgehalt der Aussage für die Abwägung entscheidend.

Genau, so ist das!

Wird durch eine Tatsachenbehauptung in den Schutzbereich eingegriffen, wird die Abwägung insbesondere durch den Wahrheitsgehalt der Tatsache bestimmt: - Ist eine Tatsachenbehauptung wahr, beeinträchtigt sie das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen typischerweise deutlich weniger. - Ist eine Tatsachenbehauptung unwahr, beeinträchtigt sie das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen typischerweise sehr intensiv. - Ist nicht geklärt ob die Tatsache wahr oder falsch ist, ist für die Abwägung ausschlaggebend, ob der Äußernde ein berechtigtes Interesse an der Tatsachenbehauptung auf Grundlage von Art. 5 Abs. 1 GG geltend machen kann (vgl. auch § 193 StGB, Wahrnehmung berichtigter Interessen). Du kannst Dir mit den Worten des BGH merken: Wahre Tatsachenbehauptungen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie für den Betroffenen nachteilig sind, unwahre dagegen nicht.

6. Ist eine Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren, bei dem der Tatvorwurf noch nicht erwiesen ist, wegen der Unschuldsvermutung (Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 Abs. 2 EMRK) stets unzulässig?

Nein, das trifft nicht zu!

Das Aufzeigen von Verfehlungen ist eine rechtlich geschützte Aufgabe der Medien (Art. 5 Abs. 1 GG). Damit korreliert ein rechtlich anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näherer Information über Tat und Täter bei Verletzung der Rechtsordnung. Eine Verdachtsberichterstattung ist deshalb nicht stets unzulässig. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr einer Vorverurteilung. Aus dieser Gegenüberstellung der Unschuldsvermutung (Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 Abs. 2 EMRK) einerseits und der Wahrnehmung berechtigter Interessen (Art. 5 GG, § 193 StGB) andererseits hat die Rechtsprechung Voraussetzungen entwickelt, wann eine Verdachtsberichterstattung zulässig ist: Erforderlich ist ein (1) Mindestbestand an Beweistatsachen. (2) müssen hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden und die Darstellung darf (3) keine Vorverurteilung enthalten. Zudem muss dem Betroffenen die Gelegenheit einer (4) Stellungnahme gegeben werden und es muss sich um einen (5) Vorgang von wesentlichem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch das Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Es wird nicht erwartet, dass Du diese vom BGH aufgestellten Voraussetzungen auswendig kennst. Du musst aber die wesentlichen Erwägungen, die der BGH hierbei zugrunde legt, sowie die betroffenen Rechtsgüter herausarbeiten. Auch die Unschuldsvermutung strahlt – ähnlich wie Art. 5 GG – auf das Privatrecht aus.

7. Für die Verdachtsberichterstattung der B existiert wegen der anstehender Hauptverhandlung ein Mindestbestand an Beweistatsachen.

Ja!

Ein Mindestbestand an Beweistatsachen soll sicherzustellen, dass der Verdacht eine gewisse Tatsachengrundlage besitzt. So erlangt die Berichterstattung erst einen „Öffentlichkeitswert”. Wurde infolge eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens das Hauptverfahren eröffnet, lässt sich auf einen Mindestbestand an Beweistatsachen schließen. Nach §§ 170 Abs. 1, 203 StPO setzt die Eröffnung des Hauptverfahrens einen hinreichenden Tatverdacht voraus. Gegen S ist das Hauptverfahren eröffnet, die Hauptverhandlung steht zum Zeitpunkt des Berichts bevor. Es liegt damit ein Mindestbestand an Beweistatsachen vor. B hat auch ihre Sorgfaltspflicht gewahrt. Denn sie darf auf die Entscheidung des Gerichts zur Eröffnung des Hauptverfahrens vertrauen. Dass die Berichterstattung keine Vorverurteilung enthält, wird hier unterstellt. Anders als die Eröffnung des Hauptverfahrens genügt die Einleitung des Ermittlungsverfahrens hingegen nicht, um hieraus auf einen Mindestbestand an Beweistatsachen schließen zu können. Ein Ermittlungsverfahren setzt lediglich einen Anfangsverdacht voraus. Die Anforderungen hierzu sind gering.

8. S ist C-Promi und teilt große Teile seines Privatlebens in der Öffentlichkeit. Hat der Tatvorwurf ein ausreichendes Gewicht, dass Bs Bericht durch das Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist?

Genau, so ist das!

Es besteht ein grundsätzlich rechtlich anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näherer Information über Tat und Täter bei Verletzung der Rechtsordnung. Bei dessen Gewichtung sind neben der Schwere der Tat auch weitere Umstände des Einzelfalls, etwa die Person des Betroffenen, zu berücksichtigen. Vorliegend ist das Gewicht der Tat – der Vorwurf des gewerbsmäßigen Betrugs, also mittlere Kriminalität mit einem verhältnismäßig geringen Schaden – alleine nicht geeignet, ein hinreichendes Informationsbedürfnis zu begründen. Allerdings hat S sich in der Vergangenheit bewusst in die Öffentlichkeit begeben. Freiwillig hat S Teile aus seinem Privatleben geteilt. S hat damit selbst ein öffentliches Interesse an seiner Person geweckt, das ein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit über sein mögliches strafbares Verhalten rechtfertigt.

9. Eine zulässige Verdachtsberichterstattung setzt voraus, dass dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Ist das Erfordernis einer Stellungnahme hier gewahrt?

Nein, das trifft nicht zu!

Durch das Erfordernis der Stellungnahme soll sichergestellt werden, dass der Standpunkt des Betroffenen mit in die Berichterstattung einfließen kann. Die Stellungnahme muss deshalb nicht nur eingeholt, sondern auch sichtbar gemacht werden. Die Frist zur Stellungnahme muss zudem angemessen sein. Es können – je nach Lage des Einzelfalls – aber auch sehr kurze Fristen angemessen sein. B bittet S um eine Stellungnahme. Ob die von B gesetzte Frist angemessen war, lässt der BGH dahinstehen. Jedenfalls hätte B auf die Bitte des S um eine Fristverlängerung reagieren müssen. B hätte dem S zumindest mitteilen müssen, bis zu welchem Zeitpunkt seine Stellungnahme noch berücksichtigt wird. Angesichts der für den 20.02. terminierten Hauptverhandlung konnte S auch nicht erkennen, dass seine Bitte um eine Fristverlängerung wegen der von B geplanten Veröffentlichung am 10.02. von vornherein aussichtslos war.

10. Die Verdachtsberichterstattung ist damit zulässig.

Nein!

Eine Verdachtsberichterstattung ist zulässig, wenn die folgenden Voraussetzungen vorliegen: (1) Mindestbestand an Beweistatsachen, (2) Einhaltung hoher Sorgfaltspflichten, (3) keine Vorverurteilung, (4) Stellungnahme, (5) Vorgang von wesentlichem Gewicht, dessen Mitteilung durch das Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Liegt eine der genannten Voraussetzungen nicht vor, ist eine Verdachtsberichterstattung unzulässig. Hier scheitert die Zulässigkeit der Verdachtsberichterstattung an dem Erfordernis der Stellungnahme. Die Entscheidung eignet sich deshalb gut für die Klausur, weil sie von Dir erwartet, die komplexen Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung letztlich selbst im Rahmen der Güter- und Interessenabwägung herauszuarbeiten.

11. Eine Geldentschädigung ist bei § 823 Abs. 1 BGB in jedem Fall einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu zahlen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB besteht nur dann ein Anspruch auf Geldentschädigung, wenn es sich ein einen schwerwiegenden Eingriff handelt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise aufgefangen werden kann. Zur Beurteilung sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Insbesondere sind auch die Funktionen der Geldentschädigung zu berücksichtigen. Eine Geldentschädigung hat drei Funktionen: (1) Ausgleich, (2) Genugtuung, (3) Prävention. Diese Fragen prüfst Du im Rahmen von § 823 Abs. 1 BGB unter dem Prüfungspunkt Schaden. Die Geldentschädigung ist in § 253 BGB geregelt. Danach wird eine Entschädigung für immaterielle Schäden nur in den gesetzlich geregelten Fällen gewährt. Nach h.M. ergibt sich der Entschädigungsanspruch bei der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts jedoch direkt aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG. Diese Umgehung von § 253 Abs. 1 BGB wird mit dem ansonsten unzureichenden Persönlichkeitsschutz im BGB begründet. Um 1900 hatte man den Schutz der Persönlichkeit nicht vor Augen.

12. Liegt hier ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeit des S vor, mit der Folge, dass er einen Anspruch auf Geldentschädigung hat?

Nein, das trifft nicht zu!

Es handelt sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Die Verdachtsberichterstattung ist nur wegen einer nicht ordnungsgemäßen Stellungnahme unzulässig. Alle anderen „materiellen” Voraussetzungen liegen vor. Dies spricht gegen einen schweren Eingriff. Außerdem teilt S regelmäßig sein Privatleben. S ist daher nur in seiner Sozialsphäre betroffen. Der strafrechtliche Vorwurf ist zudem nur „mittelschwer”. Es ist nicht zu erwarten, dass die Berichterstattung dazu geeignet ist, S gesellschaftlich schwerwiegend zu schädigen oder gar zu vernichten. Im Originalfall wurde das Strafverfahren nach § 153 Abs. 2 StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt. Der Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung bleibt demnach offen. Auch dies spricht gegen einen schweren Eingriff.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

© Jurafuchs 2024