Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)

Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll

Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Reichsbürgerin Rosi (R) teilt der Vorsitzenden während der unterbrochenen Hauptverhandlung mit, sie werde dieses Theater nicht weiter mitspielen. Bei Fortsetzung der Verhandlung taucht R nicht auf. Dies wird im Protokoll vermerkt und die Verhandlung ohne R zu Ende geführt. R hatte zurückkommen wollen, war hieran aber durch einen Unfall und die notwendige ärztliche Behandlung gehindert worden.

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Einordnung des Falls

Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Fortführung der Hauptverhandlung könnte gegen §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO verstoßen haben.

Ja!

Eine Hauptverhandlung darf grundsätzlich ohne die ausgebliebene Angeklagten nicht stattfinden bzw. nicht ohne sie fortgesetzt werden (§§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO). In Abwesenheit einer Angeklagten darf nur dann (weiter-) verhandelt werden, wenn ein gesetzlich normierter Ausnahmetatbestand vorliegt.R hat an der fortgesetzten Verhandlung nicht teilgenommen. Die Verhandlung könnte aber nach § 231 Abs. 2 StPO rechtmäßig in ihrer Abwesenheit fortgesetzt worden sein.
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2. Ist R eigenmächtig der Fortsetzung der Hauptverhandlung ferngeblieben (§ 231 Abs. 2 StPO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten setzt nach § 231 Abs. 2 StPO zusätzlich zu den im Gesetz genannten Merkmalen voraus, dass die Abwesenheit der Angeklagten eigenmächtig erfolgte. Eigenmächtig handelt, wer ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt.Ungeachtet ihrer Äußerungen wollte R an der fortgesetzten Verhandlung teilnehmen. Sie war daran lediglich durch ihren Unfall am Erscheinen gehindert. Da dieser von ihrem Willen unabhängig ist, fehlt es an der Eigenmächtigkeit.

3. R muss beweisen, dass sie bei der Hauptverhandlung abwesend war.

Ja, in der Tat!

Die Beweislast für das Vorliegen eines Verfahrensverstoßes obliegt der Revisionsführerin. Als Beweismittel steht ihr dafür primär das Hauptverhandlungsprotokoll zur Verfügung (§§ 273, 274 StPO). Nur wenn dieses im Hinblick auf die Verfahrensfrage (1) keine Beweiskraft entfaltet (=keine wesentliche Förmlichkeit) oder (2) die Beweiskraft verloren gegangen ist, ist der Freibeweis zulässig.Bei der Anwesenheit der Angeklagten handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit des Prozesses (§ 273 Abs. 1 S. 1 StPO), sodass hier die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls gilt (§ 274 S. 1 StPO). Da Rs Abwesenheit im Protokoll vermerkt wurde, wird ihr der Nachweis ohne Weiteres gelingen.Beim Freibeweis gelten nicht die strengen Förmlichkeiten des Strengbeweisverfahrens und es können auch nicht in der StPO genannte Beweismittel genutzt werden (zB telefonische Auskunft).

4. R muss auch beweisen, dass sie nicht eigenmächtig der fortgesetzten Hauptverhandlung ferngeblieben ist.

Nein!

Die Beweislast für das Vorliegen eines Verfahrensverstoßes obliegt der Revisionsführerin. Umgekehrt ist es nicht Sache der Angeklagten einen Rechtfertigungsgrund für einen Verstoß darzulegen und zu beweisen. Sie muss also nicht den Verdacht auszuräumen, sie habe sich eigenmächtig entfernt bzw. sei eigenmächtig der Verhandlung ferngeblieben. Die Eigenmächtigkeit muss ihr vielmehr zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden.Zwar indiziert Rs Ausbruch gegenüber der Vorsitzenden, dass sie an der Verhandlung nicht mehr habe teilnehmen wollen. Da sie letztlich aber primär wegen des Unfalls an der Teilnahme gehindert war, fehlt es vorliegend einem eigenmächtigen Fortbleiben. Damit liegt ein Verstoß gegen §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO vor.

5. Ist R durch den Verfahrensverstoß beschwert (§ 337 Abs. 1 StPO)?

Genau, so ist das!

Jeder Beteiligte kann nur Verfahrensfehler rügen, die ihn selbst beschweren. Eine Beschwer liegt vor, wenn die Revisionsführerin zumindest mittelbar in ihren Rechten oder schutzwürdigen Interessen beeinträchtigt ist. Dabei soll die Angeklagte eine Revision nur auf eine Verletzung solcher Normen stützen können, die die StPO zum Schutz ihres Rechtskreises aufgestellt hat („Rechtskreistheorie“).Aus § 230 Abs. 1 StPO folgt nicht nur eine Anwesenheitspflicht der Angeklagten, sondern damit korrespondierend ein Anwesenheitsrecht. Durch die Fortführung der Verhandlung in Rs Abwesenheit wurde Rs Anwesenheitsrecht verletzt und insoweit ist sie durch den Verstoß beschwert.

6. Findet eine Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person statt, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, so wird grundsätzlich vermutet, dass das Urteil auf diesem Verfahrensverstoß beruht (§ 338 Nr. 5 StPO).

Ja, in der Tat!

Liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, so wird das Beruhen grundsätzlich unwiderleglich vermutet. Dies gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn das Beruhen denkgesetzlich ausgeschlossen ist. Im Hinblick auf die vorschriftswidrige Abwesenheit eines Beteiligten folgt daraus, dass das Urteil nur dann auf der Abwesenheit beruht, wenn diese einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft.Welche Teile als „wesentlich“ angesehen werden, kannst Du dem Kommentar entnehmen (M-G/S, § 338 RdNr. 37).

7. Beruht das Urteil auf Rs Abwesenheit (§§ 337 Abs. 1, 338 Nr. 5 StPO)?

Ja!

Im Falle der vorschriftswidrigen Abwesenheit des Angeklagten während der Hauptverhandlung, wird das Beruhen des Urteils auf diesem Verfahrensverstoß unwiderleglich vermutet (§ 338 Nr. 5 StPO), sofern die Abwesenheit einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft. Als wesentlich werden dabei unter anderem die Schlussvorträge sowie die Verlesung der Urteilsformel erachtet.Ungeachtet weiterer Sachverhaltshinweise hat R jedenfalls die Verlesung der Urteilsformel und damit einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung verpasst. Das Beruhen wird damit unwiderleglich vermutet. Folglich liegt ein revisibler Verfahrensverstoß nach §§ 337, 338 Nr. 5 StPO vor.Vorsicht: Der gleiche Fehler kann verschiedene Verfahrensnormen verletzen. Neben §§ 230 Abs. 1, 231 StPO ist hier auch Rs Recht auf das letzte Wort (§ 258 Abs. 2 StPO) verletzt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PACSE

Pacta sunt servanda

3.3.2023, 17:18:57

Meiner Ansicht nach ist § 337 und § 338 nicht zusammen zu zitieren. § 337 enthält nur relative Verfahrensrügen. Bei absoluten Revisionsgründen ist § 338 in Verbindung mit der verletzten Norm der StPO/ GVG etc zu zitieren.

SE.

se.si.sc

4.3.2023, 09:47:25

Vorab: Als "gedankliche Stütze" ist es auf jeden Fall hilfreich sein, sich die Zuordnung "relativ - 337 StPO" und "absolut - 338 StPO" zu merken. Was die Zitierweise angeht, wäre ich da angesichts des Wortlauts des § 337 StPO etwas weniger streng. Er legt in Abs. 1 zunächst fest, dass iRd Revisionsverfahrens lediglich Gesetzesverletzungen relevant sind, auf denen das angegriffene Urteil auch beruht. Gleichzeitig definiert die Norm damit den revisionsgerichtlichen Prüfungsumfang (iVm § 352 StPO). Der Begriff der Gesetzesverletzung wird dann in Abs. 2 konkretisiert. Auch die absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO (im Zusammenspiel mit der jeweiligen Verfahrensnorm) enthalten natürlich letztlich solche Gesetzesverstöße iSd § 337 I StPO, ebenso erfasst § 337 I StPO übrigens materiell-rechtliche Verstöße iSd Sachrüge. Differenzierungen ergeben sich dann allerdings im weiteren Prüfungsprogramm, weil zB bei den absoluten Revisionsgründen des § 338 StPO (mit Einschränkungen für Nr. 8) das "Beruhen" unwiderleglich vermutet wird. Meines Erachtens ist § 337 StPO eher allgemeine "Scharniernorm" und nicht nur eine Einzelregelung für relative Verfahrensrügen. Wenn die Differenzierung zwischen relativen und absoluten Verfahrensrügen (auch im Prüfungsprogramm) deutlich wird, hätte ich jedenfalls mit dem Dazuzitieren von § 337 StPO kein Problem, das mögen einige Prüfer aber anders sehen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.3.2023, 16:34:24

@[se.si.sc](199709) hat das schon hervorragend zusammengefasst! Da viele Referendar:innen mit der etwas missverständlichen "Abgrenzung" in relative und absolute Revisionsgründe Schwierigkeiten haben, möchte ich das Gesagte an dieser Stelle aber noch einmal unterstreichen. § 337 StPO ist die Zentralnorm für alle vom Revisionsführer geltend gemachten Rechtsverletzungen. Umfasst sind dabei sowohl die verfahrensrechtlichen Verletzungen, die mit der Verfahrensrüge angegriffen werden, als auch die Verletzungen sachlichen Rechts, die unter die Sachrüge fallen (M-G/S, § 337 RdNr. 7, 20). Der Ausdruck "Scharniernorm" trifft es insoweit schon sehr gut. Wie @[se.si.sc](199709) ebenfalls schon zutreffend ausgeführt hat, unterscheidet sich die Prüfung der absoluten und relativen Revisionsgründe nur marginal. In beiden Fällen kommt es nach § 337 Abs. 1 StPO (1) auf eine Verletzung des Verfahrensrechts an (wann dies vorliegt, definiert § 337 Abs. 2 StPO). Durch die Verletzung muss (2) der Revisionsführer beschwert sein. Erst im dritten und letzten Schritt der Prüfung, kommt es nun auf die Differenzierung zwischen absoluten und relativen Revisionsgründen an. Denn nach § 337 Abs. 1 StPO muss (3) das Urteil auch auf der Verletzung des Gesetzes BERUHEN. Bei den absoluten Revisionsgründen wird dies grundsätzlich unwiderleglich vermutet, sodass der Revisionsführer dies nicht gesondert darlegen muss (vgl. § 338 StPO "stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend"). Bei den relativen Revisionsgründen muss der Revisionsführer dagegen darlegen, dass ein rechtsfehlerfreies Verfahren möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Allein in dieser differenzierten Begründungslast erschöpft sich der Aussagegehalt des § 338 StPO. Bei der Prüfung allein auf § 338 StPO abzustellen ist insofern unpräzise, da sich das maßgebliche Prüfungsprogramm primär aus § 337 Abs. 1 StPO ergibt - sowohl für die relativen, als auch die absoluten Revisionsgründe. Ich hoffe, so ist es noch etwas klarer geworden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Marie

Marie

22.6.2024, 23:17:50

Muss der Angeklagte letztlich nicht durch das Urteil und nicht den Fehler als solchen beschwert sein?

Nocebo

Nocebo

16.7.2024, 11:17:03

Das sind zwei unterschiedliche Formen der Beschwer. I.R.d. Zulässigkeit gilt die "Tenorbeschwer", d.h. wenn das Urteil nicht vollständig auf Freispruch oder Einstellung lautet. Das ist, was du meinst. I.R.d. Verfahrensfehler muss der Angeklagte aber auch durch den Verstoß selbst beschwert sein, d.h. die verletzte Norm muss seinem Rechtskreis dienen. Das ist bspw. bei einem Verstoß gegen die Belehrung des § 55 StPO nicht der Fall, die bloß den Zeugen schützen soll.


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