Referendariat
Die Revisionsklausur im Assessorexamen
Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)
Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll
Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Reichsbürgerin Rosi (R) teilt der Vorsitzenden während der unterbrochenen Hauptverhandlung mit, sie werde dieses Theater nicht weiter mitspielen. Bei Fortsetzung der Verhandlung taucht R nicht auf. Dies wird im Protokoll vermerkt und die Verhandlung ohne R zu Ende geführt. R hatte zurückkommen wollen, war hieran aber durch einen Unfall und die notwendige ärztliche Behandlung gehindert worden.
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Einordnung des Falls
Abwesenheit des Angeklagten als absoluter Revisionsgrund - kein eigenmächtiges Entfernen und Beweis durch Protokoll
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Fortführung der Hauptverhandlung könnte gegen §§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 1 StPO verstoßen haben.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist R eigenmächtig der Fortsetzung der Hauptverhandlung ferngeblieben (§ 231 Abs. 2 StPO)?
Nein, das ist nicht der Fall!
3. R muss beweisen, dass sie bei der Hauptverhandlung abwesend war.
Ja, in der Tat!
4. R muss auch beweisen, dass sie nicht eigenmächtig der fortgesetzten Hauptverhandlung ferngeblieben ist.
Nein!
5. Ist R durch den Verfahrensverstoß beschwert (§ 337 Abs. 1 StPO)?
Genau, so ist das!
6. Findet eine Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person statt, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, so wird grundsätzlich vermutet, dass das Urteil auf diesem Verfahrensverstoß beruht (§ 338 Nr. 5 StPO).
Ja, in der Tat!
7. Beruht das Urteil auf Rs Abwesenheit (§§ 337 Abs. 1, 338 Nr. 5 StPO)?
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Pacta sunt servanda
3.3.2023, 17:18:57
Meiner Ansicht nach ist § 337 und § 338 nicht zusammen zu zitieren. § 337 enthält nur relative Verfahrensrügen. Bei absoluten Revisionsgründen ist § 338 in Verbindung mit der verletzten Norm der StPO/ GVG etc zu zitieren.
se.si.sc
4.3.2023, 09:47:25
Vorab: Als "gedankliche Stütze" ist es auf jeden Fall hilfreich sein, sich die Zuordnung "relativ - 337 StPO" und "absolut - 338 StPO" zu merken. Was die Zitierweise angeht, wäre ich da angesichts des Wortlauts des § 337 StPO etwas weniger streng. Er legt in Abs. 1 zunächst fest, dass iRd Revisionsverfahrens lediglich Gesetzesverletzungen relevant sind, auf denen das angegriffene Urteil auch beruht. Gleichzeitig definiert die Norm damit den revisionsgerichtlichen Prüfungsumfang (iVm § 352 StPO). Der Begriff der Gesetzesverletzung wird dann in Abs. 2 konkretisiert. Auch die absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO (im Zusammenspiel mit der jeweiligen Verfahrensnorm) enthalten natürlich letztlich solche Gesetzesverstöße iSd § 337 I StPO, ebenso erfasst § 337 I StPO übrigens materiell-rechtliche Verstöße iSd Sachrüge. Differenzierungen ergeben sich dann allerdings im weiteren Prüfungsprogramm, weil zB bei den absoluten Revisionsgründen des § 338 StPO (mit Einschränkungen für Nr. 8) das "Beruhen" unwiderleglich vermutet wird. Meines Erachtens ist § 337 StPO eher allgemeine "Scharniernorm" und nicht nur eine Einzelregelung für relative Verfahrensrügen. Wenn die Differenzierung zwischen relativen und absoluten Verfahrensrügen (auch im Prüfungsprogramm) deutlich wird, hätte ich jedenfalls mit dem Dazuzitieren von § 337 StPO kein Problem, das mögen einige Prüfer aber anders sehen.
Lukas_Mengestu
7.3.2023, 16:34:24
@[se.si.sc](199709) hat das schon hervorragend zusammengefasst! Da viele Referendar:innen mit der etwas missverständlichen "Abgrenzung" in relative und absolute Revisionsgründe Schwierigkeiten haben, möchte ich das Gesagte an dieser Stelle aber noch einmal unterstreichen. § 337 StPO ist die Zentralnorm für alle vom Revisionsführer geltend gemachten Rechtsverletzungen. Umfasst sind dabei sowohl die verfahrensrechtlichen Verletzungen, die mit der Verfahrensrüge angegriffen werden, als auch die Verletzungen sachlichen Rechts, die unter die Sachrüge fallen (M-G/S, § 337 RdNr. 7, 20). Der Ausdruck "Scharniernorm" trifft es insoweit schon sehr gut. Wie @[se.si.sc](199709) ebenfalls schon zutreffend ausgeführt hat, unterscheidet sich die Prüfung der absoluten und relativen Revisionsgründe nur marginal. In beiden Fällen kommt es nach § 337 Abs. 1 StPO (1) auf eine Verletzung des Verfahrensrechts an (wann dies vorliegt, definiert § 337 Abs. 2 StPO). Durch die Verletzung muss (2) der Revisionsführer beschwert sein. Erst im dritten und letzten Schritt der Prüfung, kommt es nun auf die Differenzierung zwischen absoluten und relativen Revisionsgründen an. Denn nach § 337 Abs. 1 StPO muss (3) das Urteil auch auf der Verletzung des Gesetzes BERUHEN. Bei den absoluten Revisionsgründen wird dies grundsätzlich unwiderleglich vermutet, sodass der Revisionsführer dies nicht gesondert darlegen muss (vgl. § 338 StPO "stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend"). Bei den relativen Revisionsgründen muss der Revisionsführer dagegen darlegen, dass ein rechtsfehlerfreies Verfahren möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Allein in dieser differenzierten Begründungslast erschöpft sich der Aussagegehalt des § 338 StPO. Bei der Prüfung allein auf § 338 StPO abzustellen ist insofern unpräzise, da sich das maßgebliche Prüfungsprogramm primär aus § 337 Abs. 1 StPO ergibt - sowohl für die relativen, als auch die absoluten Revisionsgründe. Ich hoffe, so ist es noch etwas klarer geworden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Marie
22.6.2024, 23:17:50
Muss der Angeklagte letztlich nicht durch das Urteil und nicht den Fehler als solchen beschwert sein?
Nocebo
16.7.2024, 11:17:03
Das sind zwei unterschiedliche Formen der Beschwer. I.R.d. Zulässigkeit gilt die "Tenorbeschwer", d.h. wenn das Urteil nicht vollständig auf Freispruch oder Einstellung lautet. Das ist, was du meinst. I.R.d. Verfahrensfehler muss der Angeklagte aber auch durch den Verstoß selbst beschwert sein, d.h. die verletzte Norm muss seinem Rechtskreis dienen. Das ist bspw. bei einem Verstoß gegen die Belehrung des §
55 StPOnicht der Fall, die bloß den Zeugen schützen soll.