Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2019
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsvertrag nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsvertrag nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die erkrankte Angestellte A wird gegen 17 Uhr von ihrem Chef C in ihrer Wohnung aufgesucht. C legt ihr einen Aufhebungsvertrag vor, den A unter Einfluss von Schmerzmitteln und müde unterschreibt. Danach wird das Arbeitsverhältnis einvernehmlich ohne Abfindungszahlung beendet.
Diesen Fall lösen 75,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsvertrag nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Formularmäßige Vereinbarungen, die Art und Umfang der vertraglichen Hauptleistung und ihrer Vergütung unmittelbar bestimmen, sind einer AGB-Kontrolle entzogen (§ 307 Abs. 3 S. 1 BGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Arbeitnehmer sind Verbraucher im Sinne des § 13 BGB.
Genau, so ist das!
3. A kann den Aufhebungsvertrag widerrufen (§ 355 i.V.m. §§ 312g Abs. 1, 312b BGB).
Nein, das trifft nicht zu!
4. Der Aufhebungsvertrag könnte jedoch unter Verstoß des Gebots fairen Verhandelns (§ 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB) zustande gekommen sein.
Ja!
5. Liegt ein schuldhafter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns vor, ist der Aufhebungsvertrag unwirksam.
Genau, so ist das!
6. C hätte (nach BAG) eine angenehme Verhandlungsatmosphäre für A schaffen müssen, damit der Aufhebungsvertrag wirksam ist.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Nichtswisser
13.12.2019, 00:18:18
Die vorletzte Ansicht/"Aufgabe" suggeriert eine Unwirksamkeit des Vertrages kraft Gesetzes aufgrund schuldhafter Pflichtverletzung. Der Anspruch auf Vertragsaufhebung dient aber gerade der rechtsgeschäftlichen Aufhebung eines wirksamen Vertrages trotz Fehlens der Voraussetzungen einer zur Nichtigkeit bzw Unwirksamkeit führenden Norm. Zwar kann in einer Pflichtverletzung auch ein Unwirksamkeitsgrund liegen. Dann aber wäre ein Anspruch auf Vertragsaufhebung mangels des in dieser Fallgruppe in dem wirksamen Vertrag liegenden Schadens nicht gegeben.
Nichtswisser
13.12.2019, 00:57:06
Gerade noch einmal das BAG-Urteil durchgesehen, dass insofern zugegeben in den Formulierungen etwas seltsam erscheint. Es erschließt sich mir nicht, wie eine Naturalrestition zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses führen könnte, wenn dieses bereits aufgrund des unwirksamen Aufhebungsvertrages ipso iure fortbesteht und der Beklagte deshalb den darauf gerichteten Schadensersatzanspruch - soweit er den Vertragsschluss selbst als Schaden zum Gegenstand hat - gar nicht erfüllen könnte. Übersehe ich hier etwas?
gelöscht
29.12.2019, 08:31:00
Mit dem Schaden ist hier die Zeit zwischen der "Wirksamkeit" des Aufhebungsvertrages und der Feststellung durch das Gericht, dass das AV nicht beendet wurde, gemeint. Für diesen Zeitraum findet dann die Naturalrestitution statt, da dem AN hier ein Schaden entstanden ist.
CharlieHunnam
18.2.2020, 16:58:15
Ich denke nicht, dass der Vertrag ipsu iure unwirksam ist, wenn man hier den Weg des BAG geht. Denn alleine die Tatsache, dass der AG eine Nebenpflicht verletzt hat, hat für sich genommen doch noch keine rechtliche Relevanz. Viel mehr wird hierdurch nach 280 I, 241 II ein Anspruch begründet. Diesen muss der AN aber geltend machen. Er muss sich auf 280 I, 241 II berufen mit der Rechtsfolge Naturalrestitution 249 I. Er ist so zu stellen wie er ohne das schädigende Ereignis steht, sprich der Vertrag wird als nicht wirksam betrachtet. Nach meinem Verständnis ist der Vertrag aber nicht unwirksam, wenn der AN seinen Anspruch nicht auch geltend macht. Wäre ein Weg über 138 I nicht einfacher gewesen?
CharlieHunnam
18.2.2020, 17:03:44
Zudem: Mir erschließt sich zwar, dass 249 in seiner RF auch auf Vertragsaufhebung gerichtet sein kann, trotzdem setzt die Norm die Verpflichtung zum Schadensersatz zunächst tatbestandlich voraus. Welchem Begründungsaufwand bedarf der Punkt "Schaden" i.R.d. 280 I? Liegt der Schaden bereits in der Abgabe der Willenserklärung? (Eigentlich mit der Definition eines Schadens nicht vereinbar) oder in dem dadurch entstandenen Verlust an Lohnzahlung (dann wäre die RF aber doch primär auf die Auszahlung des Lohnes gerichtet - oder ist dies schlicht logische Schlussfolgerung aus der Unwirksamkeit des Vertrages ?) Hätte hier in einer Prüfung meine Schwierigkeiten..
Stefan Thomas Neuhöfer
2.4.2020, 16:49:22
Hi, herzlichen Dank für Deinen kritischen (und dogmatisch berechtigten) Beitrag! Laut BAG bewirkt eine schuldhafte Verletzung des Gebots des fairen Verhandelns nicht, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Neuabschluss des Arbeitsvertrages zu den bisherigen Konditionen hätte. Vielmehr führt der Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers wegen einer Missachtung des Gebots fairen Verhandelns unmittelbar zu einem Entfall der Rechtswirkungen des Aufhebungsvertrags und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses zu unveränderten Bedingungen (BAG, RdNr. 37). Das BAG formuliert explizit: Zur Beseitigung des Aufhebungsvertrags im Wege des Schadensersatzes bedarf es keines Neuabschlusses des Arbeitsvertrags. Damit wird dem Zweck der Naturalrestitution Rechnung getragen.
Stefan Thomas Neuhöfer
2.4.2020, 16:49:48
Diese ist hier auf den Entfall der Rechtswirkung des Vertragsschlusses gerichtet. Der entgegenstehende Wille des schadensersatzpflichten Vertragspartners wird gebrochen. Folglich leuchtet es nicht ein, weshalb die Naturalrestitution gegebenenfalls erst durch Abgabe einer nach § 894 ZPO fingierten Willenserklärung erreicht werden sollte (RdNr. 39). Dogmatisch ist das sicher schief, da sind wir völlig bei Dir. Auch die Gründe für diese Entscheidung sind eher nebulös (denn die
Leistungsklageauf Abgabe der Willenserklärung könnte prozessual im Wege der Klagehäufung mit der Kündigungsschutzklage verbunden werden). Das BAG hat aber nunmal so entschieden.
Stefan Thomas Neuhöfer
2.4.2020, 16:50:01
Ebenso zum Schaden: BAG (RdNr. 38): Der Aufhebungsvertrag lässt den Arbeitsplatz und die damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten entfallen. Im Regelfall bewirkt ein unfair ausgehandelter Aufhebungsvertrag für den Arbeitnehmer einen wirtschaftlichen Schaden. Vergleichbar der Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens bei Verletzung von Hinweis- und Aufklärungspflichten kann bezogen auf die Kausalität zwischen Verhandlungsverschulden und Schaden davon ausgegangen werden, dass ein Arbeitnehmer ohne die unfaire Behandlung seine Eigeninteressen in vernünftiger Weise gewahrt und den Aufhebungsvertrag nicht abgeschlossen hätte. Nach Auffassung des BAG liegt der Schaden also bereits in der Willenserklärung zur Abgabe des Aufhebungsvertrages.
Stefan Thomas Neuhöfer
2.4.2020, 16:50:21
Warum lösen wir den Fall nach BAG? Gerade weil der Fall dogmatisch nicht "sauber" konstruiert ist, kann man auf die Lösung der Rechtsprechung (in der Klausur ist das häufig die Musterlösung) nicht ohne Weiteres kommen. Dennoch ist der Fall für Klausurersteller wegen der Kombination üblicher Fragen (Widerruf) mit der eher exotischen Konstruktion des Gebots fairen Verhandelns interessant. Darauf wollen wir Euch vorbereiten. Manchmal ist Jura leider auch ein bisschen frustrierend ;-) Ich hoffe, damit zur Klärung beigetragen zu haben! Viele Grüße Für das Jurafuchs-Team - Stefan
Alexander Käfer
28.4.2020, 12:40:15
Interessant hierzu auch die Kommentierung von Fischinger in der NZA 2019, 729, 733: "Das [gemeint: der unmittelbare Entfall der Rechtswirkungen des Aufhebungsvertrags] widerspricht eklatant § 249 Abs. 1 BGB, nach dem der zum Schadenersatz Verpflichtete den 'Zustand wiederherzustellen [hat], der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre". Damit postuliert § 249 Abs. 1 BGB - und auch keine sonstige Vorschrift aus den §§ 249 ff. BGB - eindeutiggerade nicht, dass in Folge der Entstehung eines [SEA] automatisch der ohne das Schadenereignis existierende Zustand besteht, sondern 'nur', dass der Schuldner verpflichtet ist, diesen herbeizuführen. (...) Die Entscheidung des BAG widerspricht somit Wortlaut und Systematik des BGB". Aufgrund dieser - wie bereits
Alexander Käfer
28.4.2020, 12:41:00
Aufgrund dieser - wie bereits auch in den anderen hier eingestellten Kommentaren deutlich werdenden - höchst streitigen Rechtsauffassung des BAG erscheint es ratsam, eure (vorletzte) Frage nach der Unwirksamkeit des Vertrages zumindest insoweit zu konkretisieren, dass explizit nach der Auffassung des BAG gefragt sein soll...
Sue
20.3.2021, 18:15:27
Liebes Jurafuchs Team, die Entscheidung des BAG war Gegenstand der ZJS 2020/II in Bayern und da ich bei anderen Fällen gesehen habe, dass ihr gerne ,Examenstreffer’ als solche markiert, wollte ich euch das nur wissen lassen☺️ Kurze Nachfrage noch dazu: Könntet ihr euch vorstellen, auch das entsprechende Bundesland mit zu erwähnen? Das wäre noch super👌🏼
Christian Leupold-Wendling
22.3.2021, 07:33:33
Liebe Sue, vielen lieben Dank für den Hinweis! Nehmen wir sehr gern auf. Wir freuen uns natürlich immer sehr, wenn unsere Auswahlentscheidungen was Examensrelevanz angeht auf diese Weise bestätigt wird. Hattest Du die Entscheidung vorher auf Jurafuchs angeguckt? Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Was bedeutet ZJS? Besten Dank, für das Jurafuchs-Team, - Christian
Sue
22.3.2021, 07:55:29
Mit ZJS meine ich die Zweite Juristische Staatsprüfung, also einfach das 2. Stex☺️ Habe selbst in dem Termin nicht mitgeschrieben, bin aber gerade in Vorbereitung für das 2. Stex und deshalb darüber gestolpert. Eure App nutze ich dafür gerade sehr sehr gerne und intensiv, da sie perfekt für das Wiederholen von Basics ist, aber auch aktuelle Rspr. genial kurz und auf das Wesentliche reduziert aufbereitet👌🏼 Hier sitzt auf jeden Fall ein absoluter Fan😁👋🏼
Christian Leupold-Wendling
22.3.2021, 18:24:02
Juhuuu! Das freut uns sehr 😊
Unberechtigter Untervermieter
29.6.2021, 17:03:15
Lief heute in HH
Lukas_Mengestu
29.6.2021, 21:21:10
Top, vielen Dank. Wird direkt getagt :D Beste Grüße, Lukas
Jenn_
28.8.2023, 16:15:18
Examenstreffer in Rheinland-Pfalz, ZR III In abgewandelter Form, aber das gleiche Problem
Lukas_Mengestu
28.8.2023, 16:33:05
@jenn_, mega! Vielen Dank für den Hinweis, das haben wir entsprechend getaggt :-) magst Du vielleicht noch etwas zur Abwandlung sagen? Beste Grüße, Lukas
Jenn_
28.8.2023, 17:01:25
Der Arbeitnehmer wurde nicht während einer Krankheit Zuhause aufgesucht, sondern der Aufhebungsvertrag wurde am Arbeitsplatz geschlossen. Aber unter zeitlichem und psychischen Druck, es wurde mit einer Klage gedroht usw. Der Aufhebungsvertrag war daher letztlich auch unwirksam wegen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verhandelns
Lukas_Mengestu
28.8.2023, 17:07:43
Klasse, lieben Dank für die Ergänzung :-)
CR7
2.9.2023, 12:12:53
Das kann ich auch so für Aufgabe 3 ZR III Sachsen bestätigen, wobei das Problem eher dem Urteil vom BAG 24.02.2022 - 6 AZR 33/21 ähnelt. Trotzdem würde ich das als Examenstreffer deklarieren, da man mit der Kenntnis dieses Urteils auch diese Aufgabe gut hinbekommen hätte War glaube ich eine Ringklausur mit RLP
falktghl
30.12.2023, 10:04:52
s.o.
Lukas_Mengestu
3.1.2024, 18:11:19
N Modha
15.5.2024, 11:37:34
Seit 2021 hat sich der Wortlaut der § 312 I BGB geändert. Nun heißt es, dass es für die Anwendbarkeit des Widerrufsrechts der Zahlung eines Preises bedarf. Dementsprechend ist nun noch klarer, dass der AN den ArbeitsV nicht widerrufen kann.
Dogu
21.8.2024, 14:21:12
Finde ich nicht. Der Begriff ist im Gegenteil deutlich weiter als vorher, sodass alte Rspr. in Frage gestellt werden kann (etwa Bürgschaft). Der zu zahlende Preis wäre hier der Verlust des Arbeitsverhältnisses ggfs. ohne Abfindungsanspruch.
Dogu
21.8.2024, 14:21:29
*zur Bürgschaft
Sebastian Schmitt
20.9.2024, 12:23:46
Hallo @N Modha, hallo @[Dogu](137074), wie Ihr schon merkt kann man über diesen Punkt gut diskutieren. Die üblichen Fundstellen aus der Literatur und Rspr sind insoweit begrenzt hilfreich, weil sie sich nahezu ausschließlich auf das Problem im Allgemeinen und nicht auf den jüngsten Wortlautwechsel von "entgeltliche Leistung des Unternehmers" hin zu "Zahlung eines Preises" konzentrieren. In einer Prüfungssituation ließe sich hier mit entsprechender Argumentation anhand des Wortlauts beides gut vertreten. Für die Praxis müsste man sich die zugrunde liegende RiLi und die Gesetzgebungsgeschichte auf der EU-Ebene einmal näher anschauen, um herauszufinden, was es mit der Änderung des Wortlauts genau auf sich hat. Danach müsste sich das Ergebnis maßgeblich richten, mE weitestgehend unabhängig von Wortlaut-Argumenten. Ich wäre mir spontan auch nicht sicher, ob mit der Änderung des Wortlauts überhaupt eine (wesentliche) Änderung des Anwendungsbereichs bezweckt war, jedenfalls im Hinblick auf Arbeitsverträge und damit verbundene Aufhebungsverträge. Inhaltlich haben wir in der Aufgabe jetzt angemerkt, dass die Entscheidung noch mit Bezug zum alten Wortlaut erging. In einem Vertiefungshinweis haben wir auf die Gegenansicht hingewiesen. Auf die Diskussion um Arbeits-/Aufhebungsverträge wollen wir an dieser Stelle im Einzelnen dagegen nicht eingehen, das würde die ohnehin schon etwas längere Aufgabe überfrachten. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team