Aufklärungspflicht des Werkunternehmers

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zur Aufklärungspflicht des Werkunternehmers (LG Osnabrück, Urt. v. 18.03.2022 – 7 O 2619/21): Eine Frau bittet eine Tätowiererin, ihr ein Tattoo in der Ohrmuschel zu stechen. Dieses Tattoo gelingt jedoch nicht.

Kundin K zeigt Tätowierer T eine Vorlage für ein Feder-Tattoo im Ohr. Ohrmuscheln sind für solch fein gezeichnete Motive gänzlich ungeeignet. Darüber klärt T nicht auf. Ästhetisch weicht das gestochene Tattoo weit von der Vorlage ab, ist aber technisch einwandfrei. K lässt das Tattoo für €1.000 entfernen.

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Einordnung des Falls

Das Landgericht Osnabrück hatte in einem Fall zu entscheiden, ob ein:e Tätowierer:in darüber aufklären müsste, dass ein fein gezeichnetes Motiv für die Ohrmuschel ungeeignet sei. Eine Kundin (K) forderte Schadensersatz. Neben dem Anspruch steht aus c.i.c. auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu. Eine Tätowierung stellt tatbestandlich immer eine Körperverletzung dar. K hat zwar eingewilligt, jedoch ist diese Einwilligung aufgrund der mangelhaften Aufklärung nicht wirksam, sodass der Eingriff rechtswidrig. Die Verletzung erfolgte schuldhaft. Mit den Kosten der Entfernung und den erlittenen Schmerzen lagen kausale Schäden vor.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K begehrt Schadensersatz. Könnte sie gegen T einen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB haben?

Ja!

Die Anspruchsgrundlage für eine vorvertragliche Haftung (culpa in contrahendo) ist §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. Die Voraussetzungen sind (1) ein vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 BGB), (2) die Verletzung von Schutz- und Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB), (3) das Vertretenmüssen sowie (4) ein kausaler Schaden. Im Originalfall ließ das Gericht die streitige Frage offen, ob ein Mangel vorlag und Mängelansprüche nach §§ 634ff. BGB bestehen. Vielmehr stellte es direkt auf den Schadensersatz wegen Verletzung einer Aufklärungspflicht ab. In Deiner Klausur ist das nicht zulässig, wenn „alle in Betracht kommenden Ansprüche“ zu prüfen sind. Vorrangig wären dann die Mängelgewährleistungsrechte zu prüfen und das Verhältnis der c.i.c. zur Mängelhaftung zu thematisieren (parallele Anwendung der c.i.c. nur, soweit Nebenpflichten verletzt wurden, bzgl. Mangel sind Gewährleistungsrechte abschließend).
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2. Trifft T als Tätowierer dieselbe Aufklärungspflicht wie einen Arzt bei medizinischen Eingriffen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Im Arzt-Patienten-Verhältnis besteht die Aufklärungspflicht als vertragliche Hauptpflicht. Ihre Anforderungen sind in § 630e BGB normiert. Diese strengen Maßstäbe sind nicht ohne Weiteres beim Stechen eines Tattoos anwendbar. Nichtsdestotrotz ergibt sich auch beim Stechen einer Tätowierung aus dem von Treu und Glauben getragenen Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragspartnern eine Aufklärungspflicht für den Unternehmer, von dem anzunehmen ist, dass er über die für sein Fachgebiet notwendige Sachkunde und Kenntnis verfügt.

3. Hätte T die K darüber aufklären müssen, dass Ohrmuscheln insbesondere für fein gezeichnete Tattoo-Motive gänzlich ungeeignet sind?

Ja, in der Tat!

Eine Tätowierung ist als körperlicher Eingriff mit gewissen Risiken verbunden. Über diese ist der Kunde aufzuklären. Es genügt eine Aufklärung über das „große Ganze“, eine exakte Beschreibung aller Risiken ist nicht vonnöten. Jedoch muss der Tätowierer den Kunden so umfassend über die Art der vorzunehmenden Leistungserbringung und die wahrscheinlichen Folgen aufklären, dass er abwägen und sich für oder gegen die Leistung entscheiden kann. Da Ohrmuscheln für fein gezeichnete Motive ungeeignet sind, war bereits absehbar, dass das Tattoo ästhetisch deutlich von Ks Vorlage abweichen würde. Insbesondere hierüber hätte T die K aufklären müssen.

4. Kann K im Rahmen des Schadensersatzes die Kosten für die Entfernung des Tattoos verlangen?

Ja!

Der Umfang eines Schadensersatzanspruchs aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 249ff. BGB. Demnach ist der Geschädigte grundsätzlich so zu stellen, wie er ohne die Pflichtverletzung stünde (Differenzhypothese). Es ist davon auszugehen, dass K bei ordnungsgemäßer Aufklärung von der Tätowierung Abstand genommen hätte (sog. „Vermutung des aufklärungsrichtigen Verhaltens“). Daher ist sie so zu stellen, als hätte sie die Tätowierung nicht durchführen lassen. Sie kann also die Kosten für die Entfernung des Tattoos verlangen. Ebenfalls könnte K im Rahmen des Schadensersatzes die ggf. zur Entfernung des Tattoos erforderlichen Fahrt- und Parkkosten sowie die Kosten für Wundbalsam ersetzt verlangen.

5. Kann K lediglich Vermögensschäden geltend machen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Schadensersatzpflicht der §§ 249ff. BGB ist grundsätzlich auf materielle Schäden begrenzt. Bei Verletzung eines der in § 253 Abs. 2 BGB genannten immateriellen Rechtsgüter kann der Verletzte aber zusätzlich eine billige Entschädigung in Geld verlangen (Schmerzensgeld). Welche Entschädigung „billig“ ist, liegt im Ermessen des Gerichts (§ 287 Abs. 1 ZPO). Die Bemessung orientiert sich an den Funktionen des Schmerzensgelds: Durch die Entschädigung soll der erlittene Schaden ausgeglichen (Ausgleichsfunktion) und eine Genugtuung des Verletzten (Genugtuungsfunktion) herbeigeführt werden. Im Orginalfall wurde der Genugtuungsfunktion mangels Vorsatzes keine Bedeutung zugemessen. Im Rahmen der Ausgleichsfunktion kam es auf das Maß der Lebensbeeinträchtigung der Kundin und die erlittenen Schmerzen durch die Entfernung an. Das Gericht erachtete ein Schmerzensgeld in Höhe von €1.000 als billig.

6. Steht K neben dem Anspruch aus c.i.c. auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu?

Ja, in der Tat!

(Quasi-)vertragliche Ansprüche schließen deliktische Ansprüche nicht aus. Der Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB hat folgende Voraussetzungen: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) Verletzungshandlung, (3) Kausalität, (4) Rechtswidrigkeit, (5) Verschulden sowie (6) ein kausaler Schaden. Eine Tätowierung stellt tatbestandlich immer eine Körperverletzung dar. K hat zwar eingewilligt, jedoch ist diese Einwilligung aufgrund der mangelhaften Aufklärung nicht wirksam, sodass der Eingriff rechtswidrig. Die Verletzung erfolgte schuldhaft. Mit den Kosten der Entfernung und den erlittenen Schmerzen lagen kausale Schäden vor. Denk in der Klausur daran, dass Du grundsätzlich „alle in Betracht kommenden Ansprüche“ zu prüfen hast!Der Vorteil des Anspruchs aus c.i.c. gegenüber dem deliktischen Anspruch ist in der Praxis, dass das Verschulden bei der c.i.c. vermutet wird.
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