Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2022
Aufklärungspflicht des Werkunternehmers
Aufklärungspflicht des Werkunternehmers
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Kundin K zeigt Tätowierer T eine Vorlage für ein Feder-Tattoo im Ohr. Ohrmuscheln sind für solch fein gezeichnete Motive gänzlich ungeeignet. Darüber klärt T nicht auf. Ästhetisch weicht das gestochene Tattoo weit von der Vorlage ab, ist aber technisch einwandfrei. K lässt das Tattoo für €1.000 entfernen.
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Einordnung des Falls
Das Landgericht Osnabrück hatte in einem Fall zu entscheiden, ob ein:e Tätowierer:in darüber aufklären müsste, dass ein fein gezeichnetes Motiv für die Ohrmuschel ungeeignet sei. Eine Kundin (K) forderte Schadensersatz. Neben dem Anspruch steht aus c.i.c. auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu. Eine Tätowierung stellt tatbestandlich immer eine Körperverletzung dar. K hat zwar eingewilligt, jedoch ist diese Einwilligung aufgrund der mangelhaften Aufklärung nicht wirksam, sodass der Eingriff rechtswidrig. Die Verletzung erfolgte schuldhaft. Mit den Kosten der Entfernung und den erlittenen Schmerzen lagen kausale Schäden vor.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K begehrt Schadensersatz. Könnte sie gegen T einen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB haben?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Trifft T als Tätowierer dieselbe Aufklärungspflicht wie einen Arzt bei medizinischen Eingriffen?
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Hätte T die K darüber aufklären müssen, dass Ohrmuscheln insbesondere für fein gezeichnete Tattoo-Motive gänzlich ungeeignet sind?
Ja, in der Tat!
4. Kann K im Rahmen des Schadensersatzes die Kosten für die Entfernung des Tattoos verlangen?
Ja!
5. Kann K lediglich Vermögensschäden geltend machen?
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Steht K neben dem Anspruch aus c.i.c. auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zu?
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
CR7
16.4.2023, 11:37:45
Muss man in diesem Fall bei der Frage der
Verletzungshandlungdiskutieren, ob Schwerpunkt der
Verletzungshandlungauf einem aktiven tun oder auf einem unterlassen beruht? Denn es käme ja in Betracht die
Verletzungshandlungin einem aktiven tun durch das tätowieren zu sehen oder in einem unterlassen der Aufklärung, dann müsste ja auch eine Pflicht zum Aufklärung bestehen, dann könnte man ja nach oben verweisen oder? 
Abi
19.4.2023, 07:14:59
Eine sehr gute Frage!
Carl Wagner
24.4.2023, 16:11:36
Guter Gedanke! In der Tat kann man in § 823 I BGB unter dem Prüfungspunkt "
Verletzungshandlung" die Frage stellen, ob es sich um ein
aktives Tunoder eher um ein Unterlassen handelt. Letzteres führt nur zu einer Haftung - wie du schon richtig gesagt hast - wenn eine Handlungspflicht bestand. Da diese bereits unter § 280 I BGB (Pflichtverletzung) ausgeführt wurde, kann man die aufgeworfene Frage mit dem Argument offen lassen, dass eine solche jedenfalls besteht. Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team @[Lukas Mengestu](136780)
Sambadi
16.4.2023, 14:22:47
Was ist mit den Kosten für die Tätowierung selbst? Hätte sie auch darauf einen Anspruch?
Carl Wagner
24.4.2023, 18:12:34
Vielen Dank für deine Frage! Darauf geht das Urteil nicht ein, weil die Klägerin nicht danach begehrt hat. Vorliegend ist ein Werkvertrag, §§ 631 ff. BGB. Es könnte ein SE statt der Leistung bestehen,
§ 634 Nr. 4 BGBiVm §§ 280 I, III, 281 I bzw. 283 BGB (je nachdem ob man eine Nachbesserung des Tattoos auf dem Ohr für unmöglich hält). Dieser könnte jedoch ausgeschlossen sein. Auch wenn das Tatto nicht schön aussieht, wurde es (konkludent) abgenommen, gem. § 640 BGB. Das ergibt sich aus Rn. 6 des Urteils, wo die Klägerin das Tatto über längere Zeit stets ihre Ohren mit den Haaren verdeckt hat und sich erst später für rechtliche Schritte entschieden hat. Die Abnahme hat die Wirkung gem. § 640 III BGB, dass die Rechte aus § 634 Nr. 1 bis 3 BGB nicht mehr zustehen. Richtig ist, dass
§ 634 Nr. 4 BGB, also Schadensersatz möglich bleibt. Allerdings modifiziert die Abnahme den SE statt der ganzen Leistung (großer SE). Es ist kein großer SE mehr möglich, also es kann nicht mehr die Leistung zurückgegeben werden und so der Werklohn über §§ 634 Nr. 4, 280 I, III, 281 I BGB eingefordert werden. Das liegt daran, dass sonst der
Ausschluss des Rücktrittsgem. § 640 III BGB iVm § 634 Nr. 3 BGB unterlaufen werden würde. (Genius in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 640 BGB (Stand: 01.02.2023), Rn. 62). Ein kleiner SE bleibt allerdings möglich. Beim kleinen SE muss man sich zwischen dem Minderwert der Werkleistung oder den Mangelbeseitigungskosten entscheiden (Genius in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 634 BGB (Stand: 01.02.2023), Rn. 37). Im vorliegenden Fall übersteigen die Mangelbeseitigungskosten den Minderwert des Tattoos ganz erheblich. Daher ist es wirtschaftlich sinnvoller, sich für diese zu entscheiden, wenn man das Tattoo beseitigt haben will. Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team @[Lukas Mengestu](136780)
P K
12.9.2023, 00:16:34
Warum nicht auch c.i.c.? Für mich ist nämlich nicht ersichtlich, dass hier ein Mangel vorliegt. Das Tattoo wurde technisch einwandfrei gestochen. Dass es nicht so aussieht wie gewünscht, liegt nicht in der Werkausführung, sondern in dem vom Besteller "gelieferten Stoff", nämlich dem Ohr. Mangels Mangel keine Sperrwirkung gegenüber c.i.c.
Vanilla Latte
9.11.2024, 02:05:14
640 III gilt nur, wenn der Besteller abnimmt obwohl er vorher den Mangel entdeckt hat. Hier lag aber wohl gar kein Mangel vor, weil es technisch einwandfrei gestochen war. Die Abweichung vom Originalbild beruhte ja nicht auf der Leistung, sondern der schlechten Stelle. Oder?
evanici
10.9.2023, 17:16:30
Wenn man nochmal auf die Mängelthematik eingeht, war da nicht irgendwas bei körpernahen Tätigkeiten und Erfolgen? Also ist da überhaupt Werkvertragsrecht angezeigt?
Rick-energie🦦
17.4.2024, 07:01:20
Auch spannend wäre ein kleiner Exkurs zu den verschiedenen Spertwirkungen. So könnte man im MängelR starten, bei der C.I.C das erste Mal die Frage einer Sperrwirkung aufwerfek und letztlich nochmal in § 823 differenzieren, dass hinsichtlich des mangelhaften Erfolges § 823 gesperrt, hinsichtlich der unterlassenen Aufklärung aber eröffnet ist.
ArneKa96
20.9.2023, 10:25:58
Hey liebes Jurafuchs-Team! In einer Urteilsklausur dürfte ich die Frage des Mangels doch auch nicht offen lassen oder? Denn wenn ein Mangel vorliegt ist C.I.C ja nicht anwendbar sodass diese Frage eben nicht dahinstehen kann, oder sehe ich das falsch?
Lukas_Mengestu
20.9.2023, 16:49:10
Hi Arne, schau Dir hierzu gerne den ersten Klausurhinweis an. In der Tat kommt es ein wenig auf die Aufgabenstellung an und worauf sich die Pflichtverletzung bezieht. Geht es allein um den Mangel, so stehen Gewährleistungsrechte grds. der c.i.c. entgegen. Bei Verletzung separater Nebenpflichten kommt dagegen durchaus eine Anspruchskonkurrenz in Betracht. Während im Gutachten des ersten Examens eine vollständige Prüfung erwartet wird, genügt es in der stattgebenden Urteilsklausur lediglich einen Anspruch zu prüfen, der durchgeht. Deshalb hat auch das LG Osnabrück die Mängelgewährleistungsrechte hier links liegen lassen und sich auf die Prüfung der c.i.c. beschränkt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
ArneKa96
21.9.2023, 01:11:25
Hey Lukas, danke für die schnelle Antwort! Vielleicht stehe ich gerade auf dem Schlauch, aber wieso konnte das LG den Mangel in diesem Fall dahinstehen lassen? Ist es nicht so, dass die C.I.C hier ausscheidet, wenn die falsche Tätowierung tatsächlich einen Mangel darstellt (es sei denn die Aufklärungspflichtverletzung ist vorsätzlich erfolgt) (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2009 - V ZR 30/08). Danach müsste man doch den Mangel erst ablehnen um die C.I.C überhaupt anwenden zu können, oder wo ist mein Denkfehler?
ArneKa96
21.9.2023, 01:22:40
Also man müsste wie du sagst doch feststellen ob es sich auf einen Mangel bezieht, um die C.I.C dogmatisch sauber für anwendbar erklären zu können oder?
Daniel (blabab45)
18.10.2023, 15:53:06
Hallo ArneKa. Gerade bei Beratungspflichten tritt die CiC wohl nicht zurück, sondern steht nehmen den Gewährleistungsansprüchen. (so jedenfalls für das Kaufrecht BGH NJW 2003, 1811 und BGH NJW-RR 2016, 1251 nach Grüneberg 311/16, der allerdings beim Werkvertrag nicht mehr differenziert)
Vanilla Latte
9.11.2024, 01:55:52
Ich habe mir gerade andere Urteile zu dem Thema angesehen wo es auch um den Mangel geht. Hier liegt kein Mangel vor, weil das Tattoo technisch einwandfrei war. Es entsprach nur nicht der Vorlage. Cic ist aber selbst bei einem Mangel anwendbar, wenn die Pflichtverletzung nicht der Mangel (das schlechte Tattoo) ist, sondern die fehlende Aufklärung, dass es nicht geeignet ist. Anknüpfungspunkt ist dann die unterbliebene Aufklärung, dass es nicht geeignet ist. Nicht der Mangel (das schlechte Tattoo) selbst. Bei technisch schlecht gestochen Tattoos, bei denen aber aufgeklärt wurde, wurde ein Mangel bejaht. - Ohne Gewähr
Hannah
5.1.2024, 09:23:16
Weshalb ist denn die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass eine hinreichende Aufklärung in dem Vorgespräch erfolgte? Die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens betrifft die Kausalität zwischen PV und Schaden, dass eine solche Pflicht verletzt wurde, müsste doch aber eigentlich die Kl darlegen und ggfs beweisen? Oder werden hier die Grundsätze der sekundären Darlegungslast angewandt?
Anna-Lena.2002
20.9.2024, 10:54:36
wäre durch das tatbestandliche Vorliegen einer Körperverletzung auch §§
823 II1 BGB iVm. 223 I StGB denkbar?
Leo Lee
21.9.2024, 08:43:59
Hallo Anna-Lena.2002, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Vorab: Du hast völlig Recht; hier kommt neben dem vertraglichen Anspruch selbstverständlich auch ein deliktischer Anspruch in Betracht. In einem Gutachten wäre dieser TB selbstverständlich auch anzusprechen. Im vorliegenden Fall - und so auch das Gericht - konnte diese Frage (da pauschal mit "823" umschrieben) jedoch dahinstehen, da hier der vertragliche Anspruch bereits gegeben war (Siehe Rn. 28). Dies haben wir nun entsprechend als Vertiefung ergänzt :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo