Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2022

Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung

Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zum Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung (BGH Urt. v. 21.1.2022 – V ZR 76/20): In der Illustration erkennt man einen B-Plan. Eine Getreideübergabehalle ragt aber zum Teil auf ein anderes Grundstück innerhalb des Plangebiet

K ist Grundstückseigentümer in einem durch B-Plan ausgewiesenen allgemeinem Wohngebiet. B betreibt außerhalb des Plangebiets Landwirtschaft. Seine Getreideübergabehalle ragt aber zum Teil auf Bs Grundstück innerhalb des Plangebiet. B hat hierfür eine bestandskräftige Baugenehmigung. K will dennoch, dass B die landwirtschaftliche Nutzung der Halle unterlässt.

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Einordnung des Falls

Der BGH hatte zu entscheiden, ob ein Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung bestehe. Aufgrund der bestandskräftigen Baugenehmigung ist daher der quasi-negatorische Unterlassungsanspruch ausgeschlossen. Grundsätzlich schließt eine bestandskräftige Baugenehmigung zivilrechtliche Abwehrrechte (z.B. §§ 905ff. BGB) nicht aus, da entgegenstehende private Drittrechte im Genehmigungsverfahren nicht geprüft werden. Zivilrechtliche Ansprüche, die tatbestandlich den Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Vorschrift voraussetzen, scheiden jedoch aus, wenn dieser Verstoß durch die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung ausgeschlossen ist. Andernfalls könnte die Bestandskraft einfach über die Zivilgerichte umgangen werden. Da die landwirtschaftliche Nutzung bestandskräftig genehmigt ist, liegt kein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch und damit kein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vor.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Steht K ein Unterlassungsanspruch wegen einer Beeinträchtigung seines Eigentums zu (§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Unterlassungsanspruch setzt voraus: (1) Eigentumsbeeinträchtigung, (2) Störereigenschaft des Anspruchsgegners, (3) Wiederholungsgefahr. Eine Beeinträchtigung ist jeder dem Inhalt des Eigentums widersprechende Eingriff in die rechtliche oder tatsächliche Herrschaftsmacht des Eigentümers, der nicht bloße Besitzentziehung oder -vorenthaltung ist, da insoweit § 985 BGB spezieller ist. Der Sachverhalt enthält keine Informationen, dass durch die landwirtschaftliche Nutzung des überbauten Teils des Plangebiets (Getreidehalle) in das Grundstückseigentum des K eingegriffen wird. Ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB direkt scheidet aus.Im Ausgangsfall scheiterte ein Unterlassungsanspruch hinsichtlich des Zufahrtsverkehrs bereits daran, dass der Wiesenweg für den öffentlichen Verkehr gewidmet war (§ 13 StrG BW) und geduldet werden musste.
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2. Könnte K allerdings ein Unterlassungsanspruch aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB zustehen?

Ja!

Es ist anerkannt, dass analog § 1004 BGB neben dem Eigentum alle anderen absoluten Rechte (z.B. Gesundheit, Allgemeines Persönlichkeitsrecht) sowie alle durch §§ 823 Abs. 2, 824ff. BGB deliktisch geschützten Rechtsgüter geschützt werden (sog. quasi-negatorischer Anspruch). Für den Anspruch aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2, 823 Abs. 2 BGB ist - anders als bei § 823 Abs. 1 BGB - keine Verletzung eines absolut geschützten Rechts, sondern nur die Verletzung eines Schutzgesetzes erforderlich. Es bedarf also keines separaten Verletzungserfolges. Aufgepasst! Über diese „Hintertür“ kann das öffentlich-rechtliche Baurecht also auch in Deine Zivilrechtsklausur Einzug halten!

3. Könnte K vorliegend ein öffentlich-rechtlicher Gebietserhaltungsanspruch zustehen?

Genau, so ist das!

Der sog. Gebietserhaltungsanspruch vermittelt innerhalb eines Plangebiets jedem Planbetroffenen (§ 30 Abs. 1 BauGB), innerhalb eines faktischen Baugebiets jedem Nachbarn der „näheren Umgebung“ (§ 34 Abs. 2 BauGB) einen Anspruch darauf, dass kein art-fremdes Vorhaben (§§ 2ff. BauNVO) durchgeführt wird. Die Grundstückseigentümer stellen eine Schicksalsgemeinschaft dar. Wenn man als Eigentümer in der Nutzung seines Grundstücks durch die Inhalts- und Schrankenbestimmungen der BauNVO selbst beschränkt wird, dann soll man die Einhaltung auch von den anderen Eigentümern verlangen können. In allgemeinen Wohngebieten sind landwirtschaftliche Nutzungen auch nicht ausnahmsweise zulässig (§ 4 BauNVO), sodass die streitgegenständliche Nutzung artfremd ist. K ist zudem Planbetroffener und vom persönlichen Schutzbereich erfasst.

4. Handelt es sich bei dem Gebietserhaltungsanspruch um ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB?

Ja, in der Tat!

Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Rechtsnorm (Art. 2 EGBGB), die zumindest auch den Individualschutz des Anspruchstellers bezweckt. Der Gebietserhaltungsanspruch hat nachbarschützende Funktion zugunsten aller Grundstückseigentümer innerhalb eines Plangebiets. Für den Unterlassungsanspruch genügt - wie oben angesprochen - bereits der Verstoß gegen das Schutzgesetz, hier also die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens. Auf eine konkrete Beeinträchtigung des Nachbarn kommt es nicht an.

5. Kann eine bestandskräftige Baugenehmigung einen Verstoß gegen den öffentlich-rechtlichen Gebietserhaltungsanspruch ausschließen?

Ja!

Grundsätzlich werden zivilrechtliche Abwehrrechte des Nachbarn durch eine bestandskräftige Baugenehmigung nicht berührt, da diese bei der Erteilung nicht geprüft werden. Anders ist dies allerdings, soweit der zivilrechtliche Anspruch auf einer Verletzung des öffentlich-rechtlichen Rechts beruht. Diesbezüglich entfalten unanfechtbare Baugenehmigungen eine Legalisierungswirkung. Durch sie wird positiv festgestellt, dass das Bauvorhaben nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die zum bauaufsichtlichen Prüfprogramm gehören. Gemäß § 30 Abs. 1 BauGB, der über das jeweilige Landesrecht Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist (z.B. Art. 68 Abs.1 S. 1 BayBO; § 58 Abs. 1 LBO BW; § 74 Abs. 1 BauO NRW), sind die Festsetzungen der Art der baulichen Nutzung zu prüfen. Ein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch liegt daher insoweit nicht vor, als eine Nutzung bestandskräftig genehmigt ist.

6. Hat die Baugenehmigung vorliegend nur die Errichtung, nicht aber die landwirtschaftliche Nutzung der Getreideübergabehalle legalisiert?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung erfasse neben der errichteten Anlage auch die mitgenehmigte Nutzung. Dies ergebe sich aus einem Umkehrschluss daraus, dass die Nutzungsänderung der erneuten Genehmigung bedürfe (RdNr. 20). Welche Nutzungsarten „mitgenehmigt“ sind, sei auch unter Berücksichtigung der eingereichten Bauunterlagen zu beurteilen. Bei einem Antrag auf Errichtung einer landwirtschaftlichen Anlage gehe die Baubehörde regelmäßig davon aus, dass diese auch landwirtschaftlich genutzt werde (RdNr. 21). Da die Getreideübergabehalle eine landwirtschaftliche Anlage darstellt, ist davon auszugehen, dass auch die Nutzung zu landwirtschaftlichen Zwecken genehmigt ist. Der BGH stellt klar, dass dies unabhängig davon gilt, ob in der Genehmigung eine ausdrückliche Befreiung (§ 31 BauGB) von der Festsetzung erteilt wird (RdNr. 18). Es genügt, dass die nachbarschützende Vorschrift Teil des Prüfprogramms war.

7. Bindet diese Legalisierungswirkung bestandskräftiger Baugenehmigungen auch Zivilgerichte?

Ja, in der Tat!

Bei der erteilten Baugenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt. BGH: Verwaltungsakte entfalten eine Tatbestandswirkung. Auch nicht am Verwaltungsverfahren beteiligte Behörden und Gerichte müssten die im Verwaltungsakt getroffene Regelung ohne inhaltliche Prüfung ihrer Richtigkeit ihren eigenen Entscheidungen zugrunde legen (RdNr. 16). Steht durch Baugenehmigung fest, dass der Bauherr nicht gegen nachbarschützende öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoßen hat, so sind Zivilgerichte daher hieran gebunden.

8. Ist aufgrund der bestandskräftigen Baugenehmigung daher der quasi-negatorische Unterlassungsanspruch ausgeschlossen?

Ja!

Grundsätzlich schließt eine bestandskräftige Baugenehmigung zivilrechtliche Abwehrrechte (z.B. §§ 905ff. BGB) nicht aus, da entgegenstehende private Drittrechte im Genehmigungsverfahren nicht geprüft werden. Zivilrechtliche Ansprüche, die tatbestandlich den Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Vorschrift voraussetzen, scheiden jedoch aus, wenn dieser Verstoß durch die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung ausgeschlossen ist. Andernfalls könnte die Bestandskraft einfach über die Zivilgerichte umgangen werden. Da die landwirtschaftliche Nutzung bestandskräftig genehmigt ist, liegt kein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch und damit kein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vor. K hätte schon während des Genehmigungsverfahrens öffentlich-rechtliche Rechtsbehelfe (wie die Drittanfechtungsklage) ergreifen müssen, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BAR

baro

10.12.2022, 08:21:52

Müsste im Sachverhalt nicht „Ks Grundstück“ stehen?

DO

Doli

10.12.2022, 16:56:29

Nein, es geht hier eben nicht um eine direkte Einwirkung auf das Grundstück des Ks. K und B haben nur beide ein Grundstück innerhalb des Plangebietes

VI

Viktor

31.5.2023, 15:05:37

Inwiefern würde sich die Lösung verändern, wenn doch das Grundstück des K und nicht des B betroffen wäre? Würde hier der Gebietserhaltungsanspruch greifen und müsste man dann die Baugenehmigung in Frage stellen?

Simon

Simon

11.12.2023, 23:27:35

Ich denke, dann würde schon § 1004 S. 1 BGB greifen, da durch den Überbau ein Eingriff in das Eigentum des K vorliegt (körperliche Substanz und Nutzung des Grundstücks sind beeinträchtigt). Dann müsste man prüfen, ob die bestandskräftige Baugenehmigung den K zur

Duldung

verpflichtet. Das wäre wohl zu verneinen, da im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren (bspw. Art. 68 I 1, 59 BayBO) eine Beeinträchtigung des Grundstücks durch Überbau nicht geprüft wird, sondern v.a. die planungsrechtliche Zulässigkeit der Halle. Daher droht auch keine Umgehung öffentlich-rechtlicher Vorschriften auf dem Zivilrechtsweg. Unter Umständen kann man auch an § 985 BGB denken, da ein teilweiser Besitzentzug durch den Überbau vorliegen könnte.

LAR

Larissa

10.12.2022, 21:12:39

In der Antwort zur ersten Frage steht, dass kein Anspruch aus

§1004 BGB

vorliegt, da keine Einwirkung auf das Eigentum des K vorliegt. Im Fall steht jedoch, dass die Halle auf das Grundstück des K ragt. Stellt dies nicht eine Einwirkung iSd. §

1004 BGB

dar? Wenn ja, ist die Antwort widersprüchlich zum Fall.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.12.2022, 10:45:01

Liebe Larissa, ich glaube, hier bist Du beim Lesen des Falles etwas verrutscht. Die Halle ragt nicht auf das Grundstück des K, sondern des B. Die Halle und das Grundstück innerhalb des B-Plans gehören also derselben Person. Die Störung liegt aber darin, dass innerhalb des B-Plans ein Gebäude errichtet wurde, dass da nicht hingehört. Auch wenn K hiervon unmittelbar beeinträchtigt wird, dürfte er sich als Mitglied der "Schicksalsgemeinschaft B-Plan" dagegen w

ehre

n, wenn die Halle nicht durch eine Baugenehmigung geschützt wäre. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JEN

jenny24

8.1.2023, 08:52:22

Jetzt macht es Sinn. Im Sachverhalt sollte dies aber deutlicher formuliert werden.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.1.2023, 15:16:40

Hallo jenny24, wir haben nun noch die Illustration ergänzt. In Kombination mit dem Sachverhalt sollte es nun noch klarer sein :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ASA

asanzseg

10.3.2023, 17:30:18

ich muss @[jenny24](201955) hier absolut Recht geben. Also auch mit der Illustration ist es äußerst verwirrend zumal von B-Plan und B die rede ist. Erst nach 4 mal lesen versteht man das Problem... vielleicht den Namen des B ändern...ich verstehe das B auf Bewohner hindeuten soll, aber trotzdem wirklich (unnötig) verwirrend.

JUS

Just4law

27.8.2023, 11:50:25

Der dritte Satz der Fallangabe ist m.E. weiterhin unglücklich/unklar formuliert und auch in Zusammenschau mit dem Bild eher unklar. Wäre von Vorteil, wenn die Grundstücke der zwei Personen in jeweils eigenen Farben hervorgehoben und entsprechend beschriftet wären.

STEFA

Stefanie

25.10.2023, 22:00:04

der Gebietserhaltungsanspruch wird aus den Regelungen der BauNVO und 34 BauGB abgeleitet. d.h. die Rechtsnormen sind solche der BauNVO und nicht der „Gebietserhaltungsanspruch“ selbst. oder sehr ich das falsch?

LELEE

Leo Lee

28.10.2023, 16:46:56

Hallo Stefanie, das geht zwar nicht super deutlich aus der Entscheidung hervor, allerdings ist – wie du sagst – die Schutznormen die des BauGBs (§ 34 bei faktischem Baugebiet) und der NVO, die ggf. gemeinsam zum Grundsatz des Gebietserhaltungsanspruchs führen. Mithin sind es streng genommen die „Bauvorschriften“, die die Schutznormen i.S.d. §

823 II BGB

darstellen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Pilea

Pilea

31.10.2023, 08:26:38

Ist in der letzten Vertiefung ein Widerspruch/eine Anfechtungsklage (eines Dritten, K) gegen die baurechtliche Zulassung gemeint?

LELEE

Leo Lee

4.11.2023, 13:30:21

Hallo Pilea, genauso ist es! Hier hätte man beispielsweise die

Drittanfechtungsklage

gegen die Genehmigung anstrengen können. Wir haben dies nun als Klammerzusatz ergänzt im Vertiefungstext der letzten Aufgabe :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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