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Fall zum Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung (BGH Urt. v. 21.1.2022 – V ZR 76/20): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

Fall zum Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung (BGH Urt. v. 21.1.2022 – V ZR 76/20): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zum Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung (BGH Urt. v. 21.1.2022 – V ZR 76/20): In der Illustration erkennt man einen B-Plan. Eine Getreideübergabehalle ragt aber zum Teil auf ein anderes Grundstück innerhalb des Plangebiet

K ist Grundstückseigentümer in einem durch B-Plan ausgewiesenen allgemeinem Wohngebiet. B betreibt außerhalb des Plangebiets Landwirtschaft. Seine Getreideübergabehalle ragt aber zum Teil auf Bs Grundstück innerhalb des Plangebiet. B hat hierfür eine bestandskräftige Baugenehmigung. K will dennoch, dass B die landwirtschaftliche Nutzung der Halle unterlässt.

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Einordnung des Falls

Der BGH hatte zu entscheiden, ob ein Unterlassungsanspruch des Nachbarn bei bestandskräftiger Baugenehmigung bestehe. Aufgrund der bestandskräftigen Baugenehmigung ist daher der quasi-negatorische Unterlassungsanspruch ausgeschlossen. Grundsätzlich schließt eine bestandskräftige Baugenehmigung zivilrechtliche Abwehrrechte (z.B. §§ 905ff. BGB) nicht aus, da entgegenstehende private Drittrechte im Genehmigungsverfahren nicht geprüft werden. Zivilrechtliche Ansprüche, die tatbestandlich den Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Vorschrift voraussetzen, scheiden jedoch aus, wenn dieser Verstoß durch die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung ausgeschlossen ist. Andernfalls könnte die Bestandskraft einfach über die Zivilgerichte umgangen werden. Da die landwirtschaftliche Nutzung bestandskräftig genehmigt ist, liegt kein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch und damit kein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vor.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Steht K ein Unterlassungsanspruch wegen einer Beeinträchtigung seines Eigentums zu (§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Unterlassungsanspruch setzt voraus: (1) Eigentumsbeeinträchtigung, (2) Störereigenschaft des Anspruchsgegners, (3) Wiederholungsgefahr. Eine Beeinträchtigung ist jeder dem Inhalt des Eigentums widersprechende Eingriff in die rechtliche oder tatsächliche Herrschaftsmacht des Eigentümers, der nicht bloße Besitzentziehung oder -vorenthaltung ist, da insoweit § 985 BGB spezieller ist. Der Sachverhalt enthält keine Informationen, dass durch die landwirtschaftliche Nutzung des überbauten Teils des Plangebiets (Getreidehalle) in das Grundstückseigentum des K eingegriffen wird. Ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB direkt scheidet aus.Im Ausgangsfall scheiterte ein Unterlassungsanspruch hinsichtlich des Zufahrtsverkehrs bereits daran, dass der Wiesenweg für den öffentlichen Verkehr gewidmet war (§ 13 StrG BW) und geduldet werden musste.
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2. Könnte K allerdings ein Unterlassungsanspruch aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB zustehen?

Ja!

Es ist anerkannt, dass analog § 1004 BGB neben dem Eigentum alle anderen absoluten Rechte (z.B. Gesundheit, Allgemeines Persönlichkeitsrecht) sowie alle durch §§ 823 Abs. 2, 824ff. BGB deliktisch geschützten Rechtsgüter geschützt werden (sog. quasi-negatorischer Anspruch). Für den Anspruch aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2, 823 Abs. 2 BGB ist - anders als bei § 823 Abs. 1 BGB - keine Verletzung eines absolut geschützten Rechts, sondern nur die Verletzung eines Schutzgesetzes erforderlich. Es bedarf also keines separaten Verletzungserfolges. Aufgepasst! Über diese „Hintertür“ kann das öffentlich-rechtliche Baurecht also auch in Deine Zivilrechtsklausur Einzug halten!

3. Könnte K vorliegend ein öffentlich-rechtlicher Gebietserhaltungsanspruch zustehen?

Genau, so ist das!

Der sog. Gebietserhaltungsanspruch vermittelt innerhalb eines Plangebiets jedem Planbetroffenen (§ 30 Abs. 1 BauGB), innerhalb eines faktischen Baugebiets jedem Nachbarn der „näheren Umgebung“ (§ 34 Abs. 2 BauGB) einen Anspruch darauf, dass kein art-fremdes Vorhaben (§§ 2ff. BauNVO) durchgeführt wird. Die Grundstückseigentümer stellen eine Schicksalsgemeinschaft dar. Wenn man als Eigentümer in der Nutzung seines Grundstücks durch die Inhalts- und Schrankenbestimmungen der BauNVO selbst beschränkt wird, dann soll man die Einhaltung auch von den anderen Eigentümern verlangen können. In allgemeinen Wohngebieten sind landwirtschaftliche Nutzungen auch nicht ausnahmsweise zulässig (§ 4 BauNVO), sodass die streitgegenständliche Nutzung artfremd ist. K ist zudem Planbetroffener und vom persönlichen Schutzbereich erfasst.

4. Handelt es sich bei dem Gebietserhaltungsanspruch um ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB?

Ja, in der Tat!

Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Rechtsnorm (Art. 2 EGBGB), die zumindest auch den Individualschutz des Anspruchstellers bezweckt. Der Gebietserhaltungsanspruch hat nachbarschützende Funktion zugunsten aller Grundstückseigentümer innerhalb eines Plangebiets. Für den Unterlassungsanspruch genügt - wie oben angesprochen - bereits der Verstoß gegen das Schutzgesetz, hier also die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens. Auf eine konkrete Beeinträchtigung des Nachbarn kommt es nicht an.

5. Kann eine bestandskräftige Baugenehmigung einen Verstoß gegen den öffentlich-rechtlichen Gebietserhaltungsanspruch ausschließen?

Ja!

Grundsätzlich werden zivilrechtliche Abwehrrechte des Nachbarn durch eine bestandskräftige Baugenehmigung nicht berührt, da diese bei der Erteilung nicht geprüft werden. Anders ist dies allerdings, soweit der zivilrechtliche Anspruch auf einer Verletzung des öffentlich-rechtlichen Rechts beruht. Diesbezüglich entfalten unanfechtbare Baugenehmigungen eine Legalisierungswirkung. Durch sie wird positiv festgestellt, dass das Bauvorhaben nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die zum bauaufsichtlichen Prüfprogramm gehören. Gemäß § 30 Abs. 1 BauGB, der über das jeweilige Landesrecht Gegenstand des Genehmigungsverfahrens ist (z.B. Art. 68 Abs.1 S. 1 BayBO; § 58 Abs. 1 LBO BW; § 74 Abs. 1 BauO NRW), sind die Festsetzungen der Art der baulichen Nutzung zu prüfen. Ein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch liegt daher insoweit nicht vor, als eine Nutzung bestandskräftig genehmigt ist.

6. Hat die Baugenehmigung vorliegend nur die Errichtung, nicht aber die landwirtschaftliche Nutzung der Getreideübergabehalle legalisiert?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung erfasse neben der errichteten Anlage auch die mitgenehmigte Nutzung. Dies ergebe sich aus einem Umkehrschluss daraus, dass die Nutzungsänderung der erneuten Genehmigung bedürfe (RdNr. 20). Welche Nutzungsarten „mitgenehmigt“ sind, sei auch unter Berücksichtigung der eingereichten Bauunterlagen zu beurteilen. Bei einem Antrag auf Errichtung einer landwirtschaftlichen Anlage gehe die Baubehörde regelmäßig davon aus, dass diese auch landwirtschaftlich genutzt werde (RdNr. 21). Da die Getreideübergabehalle eine landwirtschaftliche Anlage darstellt, ist davon auszugehen, dass auch die Nutzung zu landwirtschaftlichen Zwecken genehmigt ist. Der BGH stellt klar, dass dies unabhängig davon gilt, ob in der Genehmigung eine ausdrückliche Befreiung (§ 31 BauGB) von der Festsetzung erteilt wird (RdNr. 18). Es genügt, dass die nachbarschützende Vorschrift Teil des Prüfprogramms war.

7. Bindet diese Legalisierungswirkung bestandskräftiger Baugenehmigungen auch Zivilgerichte?

Ja, in der Tat!

Bei der erteilten Baugenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt. BGH: Verwaltungsakte entfalten eine Tatbestandswirkung. Auch nicht am Verwaltungsverfahren beteiligte Behörden und Gerichte müssten die im Verwaltungsakt getroffene Regelung ohne inhaltliche Prüfung ihrer Richtigkeit ihren eigenen Entscheidungen zugrunde legen (RdNr. 16). Steht durch Baugenehmigung fest, dass der Bauherr nicht gegen nachbarschützende öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoßen hat, so sind Zivilgerichte daher hieran gebunden.

8. Ist aufgrund der bestandskräftigen Baugenehmigung daher der quasi-negatorische Unterlassungsanspruch ausgeschlossen?

Ja!

Grundsätzlich schließt eine bestandskräftige Baugenehmigung zivilrechtliche Abwehrrechte (z.B. §§ 905ff. BGB) nicht aus, da entgegenstehende private Drittrechte im Genehmigungsverfahren nicht geprüft werden. Zivilrechtliche Ansprüche, die tatbestandlich den Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Vorschrift voraussetzen, scheiden jedoch aus, wenn dieser Verstoß durch die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung ausgeschlossen ist. Andernfalls könnte die Bestandskraft einfach über die Zivilgerichte umgangen werden. Da die landwirtschaftliche Nutzung bestandskräftig genehmigt ist, liegt kein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch und damit kein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vor. K hätte schon während des Genehmigungsverfahrens öffentlich-rechtliche Rechtsbehelfe (wie die Drittanfechtungsklage) ergreifen müssen, um den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern.
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