Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2023

Anspruch auf Geldentschädigung nach rechtswidriger körperlicher Durchsuchung (BVerfG, Beschl. v. 19.05.2023 – 2 BvR 78/22)

Anspruch auf Geldentschädigung nach rechtswidriger körperlicher Durchsuchung (BVerfG, Beschl. v. 19.05.2023 – 2 BvR 78/22)

2. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

B verbüßt in der JVA eine lebenslange Freiheitsstrafe. Nach einem Familienbesuch führten Beamte bei ihm eine körperliche Durchsuchung durch, bei der er sich vollständig entkleiden musste. Ein Gericht erklärte die Maßnahme für rechtswidrig.

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Einordnung des Falls

Anspruch auf Geldentschädigung nach rechtswidriger körperlicher Durchsuchung (BVerfG, Beschl. v. 19.05.2023 – 2 BvR 78/22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B klagte erfolglos vor den Gerichten auf Zahlung einer Entschädigung für die rechtswidrige Durchsuchung. Kann er sein Begehren nunmehr vor dem BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde weiterverfolgen?

Ja, in der Tat!

Die Verfassungsbeschwerde ist statthaft, wenn sich der Beschwerdeführer durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt sieht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Hier sieht sich B durch die Entscheidungen der Gerichte, die seinen Entschädigungsanspruch abgelehnt haben, in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), im Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt. Somit ist die Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG statthaft. Bs Verfassungsbeschwerde hatte eine lange prozessuale Vorgeschichte. Denn zunächst lehnten die von B angerufenen Gerichte auch seinen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsmaßnahme ab. Erst als das angerufene BVerfG entschied, dass B durch sie in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt sei, gab das Landgericht B Recht. Bs anschließende Klage auf Zahlung einer Entschädigung war aber dennoch erfolglos (RdNr 4 ff.).
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2. Berührt die Versagung des Entschädigungsanspruchs durch die Gerichte den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)?

Ja!

Der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) wird u.a. durch einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens verwirklicht. Denn die Entschädigung kann eine Form des Ausgleichs und der Genugtuung für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sein. Der Ausgleich muss aber nicht zwingend in der Zubilligung eines Zahlungsanspruchs bestehen. Zudem kann ein Anspruch auf Geldentschädigung davon abhängig gemacht werden, dass der Eingriff hinreichend schwer ist und keine anderweitige Genugtuungsmöglichkeit besteht (RdNr. 26). Die mit der Entkleidung verbundene Durchsuchung, die mit einer Inspizierung von normalerweise verdeckten Körperteilen und Körperöffnungen verbunden war, berührt den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten in besonderem Maße. Die Durchsuchung stellte daher einen schwerwiegenden Eingriff in Bs allgemeines Persönlichkeitsrecht dar (RdNr. 25). Somit berührte die Versagung der Entschädigungszahlung den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

3. B berief sich auch auf Rechte aus der EMRK, welche nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat. Ist sie deswegen für die Auslegung der Grundrechte des GG ohne Belang?

Nein, das ist nicht der Fall!

Obwohl die EMRK und ihre Zusatzprotokolle nur einfachen Gesetzesrang haben, besitzen ihre Gewährleistungen verfassungsrechtliche Bedeutung, indem sie die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Bei der Bestimmung von ihrem Inhalt und ihrer Reichweite dienen der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) somit als Auslegungshilfen (RdNr. 28). Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (RdNr. 29). Vorsicht, hier jetzt nicht abschalten: Die Wirkung der EMRK spielt in Examensklausuren immer wieder eine zentrale Rolle!

4. Der EGMR hat oft über Entschädigungsansprüche nach körperlichen Durchsuchungen von Gefangenen entschieden. Müssen die Gerichte diese Rechtsprechung bei der Anwendung des einfachen Rechts berücksichtigen?

Ja, in der Tat!

Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, die Gewährleistungen der EMRK zu berücksichtigen. Das erfordert zumindest, dass die Fachgerichte die EMRK-Gewährleistungen und die Rechtsprechung des EGMR zur Kenntnis nehmen und in ihren Willensbildungsprozess einfließen lassen (RdNr. 28). Konkret hat der EGMR in der Rechtssache Roth v. Germany (Urt. v. 22.10.2020 – Rs. 6780/18 und 30776/18) entschieden, dass die Verletzung des Verbots erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) einen immateriellen Schaden hervorruft und dass dieser Schaden i.d.R. durch Zusprechung einer Entschädigung in Geld wiedergutzumachen sei. BVerfG: Da in dem entschiedenen Fall die Fachgerichte einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des durch die rechtswidrige Durchsuchung Betroffenen festgestellt hatten, verletzte ihre Ablehnung von Entschädigungsansprüchen diesen in Art. 3 und 13 EMRK (RdNr. 30).

5. Hier kommt als Anspruchsgrundlage für die Entschädigung der Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG) in Betracht.

Ja!

Der Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG) normiert einen Schadensersatzanspruch im Falle einer schuldhaften Verletzung einer drittgerichteten Amtspflicht. Er kann auch Entschädigungen für erlittene immaterielle Schäden erfassen. Hier haben die handelnden Beamten die drittbezogene Amtspflicht verletzt, rechtmäßig zu handeln. Fraglich ist allerdings, ob diese Verletzung schuldhaft war. In einer Verwaltungsrechtsklausur würdest du mit der Prüfung dieses Anspruchs beginnen und dort die Anforderungen des Verfassungsrechts und der EMRK einfließen lassen. Hier geht es aber um die Prüfung vor dem BVerfG, das nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die Gerichte prüfen kann; das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz.

6. Die von B angerufenen Gerichte hatten die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung zunächst bestätigt. Entfällt dadurch i.d.R. das Verschulden der handelnden Amtsträger?

Genau, so ist das!

Der Amtshaftungsanspruch setzt gemäß § 839 Abs. 1 BGB ein Verschulden der handelnden Amtsträger voraus. Dieses entfällt nach der sog. Kollegialgerichts-Richtlinie i.d.R. dann, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat. Denn von einem Beamten kann keine bessere Rechtseinsicht verlangt werden. U.a. aus diesem Grund entschied das LG, dass die handelnden Amtsträger bei der ursprünglichen Durchsuchung kein Verschulden traf, und lehnte damit einen Entschädigungsanspruch aus dem Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) ab. Für Entscheidungen über Amtshaftungsansprüche ist der ordentliche Rechtsweg – und nicht etwa der Verwaltungsrechtsweg – gemäß Art. 34 S. 3 GG eröffnet (abdrängende Sonderzuweisung). Dies gilt gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO auch für viele andere staatshaftungsrechtliche Ansprüche.

7. Da für einen Anspruch auf Entschädigung allein das nationale Recht zugrunde zu legen ist und der Amtshaftungsanspruch mangels Verschuldens nicht eingreift, sind die Vorgaben des EGMR hier ohne Belang.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Fachgerichte sind verpflichtet, die Gewährleistungen der Konvention zu beachten und in die nationale Rechtsordnung einzupassen. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR durch eine konventionsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts auf eine Weise Rechnung zu tragen, die Konventionsverletzungen vermeidet (RdNr. 33). Somit war das Landgericht verpflichtet sicherzustellen, dass es die konkreten Vorgaben des EGMR zur Zubilligung von Entschädigungszahlungen in das nationale Recht umsetzt, auch wenn die Voraussetzungen des naheliegenden Amtshaftungsanspruch auf den ersten Blick nicht erfüllt sind. Zu den konkreten Vorgaben des EGMR (Rechtssache Roth v. Germany) gehört, dass bei Verletzungen von Art. 3 EMRK i.d.R. eine Entschädigung in Geld zu gewähren ist und die bloße Feststellung der Verletzung nur in Ausnahmefällen zur Genugtuung genügt, insbesondere bei weniger gravierenden Verstößen oder bloßen Verfahrensfehlern. Zudem betont der EGMR, dass im nationalen Recht eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung bestehen muss (RdNr. 34).

8. Nach dem EGMR muss im nationalen Recht eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung bestehen. Entspricht der Amtshaftungsanspruch diesen Anforderungen?

Nein!

Eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzungen besteht regelmäßig nicht, wenn die Entschädigung daran gekoppelt ist, dass der Anspruchssteller ein Verschulden seitens der handelnden Stellen beweisen muss. Denn dann würde die Entschädigung regelmäßig leerlaufen. Eine verschuldensabhängige Staatshaftung wird daher in Konstellationen, in denen regelmäßig ein Entschädigungsanspruch besteht, den Anforderungen der Konvention nicht gerecht (RdNr. 34). Beim Amtshaftungsanspruch muss der Anspruchssteller gemäß § 839 Abs. 1 BGB ein Verschulden des Amtsträgers darlegen und beweisen. Der Amtshaftungsanspruch wird damit, wenn er der einzige mögliche Rechtsbehelf zur Durchsetzung von Entschädigungszahlungen ist, den Anforderungen der Konvention nicht gerecht. Deswegen hat der EGMR im Fall Roth v. Germany auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) festgestellt.

9. Würde man auf das Verschuldenserfordernis beim Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) verzichten, würde dies die Grenzen der konventionsfreundlichen Auslegung überschreiten.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die konventionsfreundliche Auslegung findet ihre Grenze dort, wo die Beachtung der Entscheidung des EGMR gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesecht verstößt, wo die Auslegung also nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (RdNr. 29, 35). Hier kommt nach dem BVerfG aber die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR in Betracht. Ferner hätte das Landgericht erwägen müssen, ob ein verschuldensunabhängiger Staatshaftungsanspruch wie der allgemeine Aufopferungsanspruch in Betracht kommt. Seit einer jüngeren Entscheidung des BGH (BGHZ 215, 335) können über den allgemeinen Aufopferungsanspruch auch immaterielle Schäden geltend gemacht werden können (RdNr. 35).

10. Das BVerfG wird B somit einen Entschädigungsanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG gewähren bzw. das Landgericht zu einer solchen Gewährung verpflichten.

Nein, das trifft nicht zu!

Gibt das BVerfG der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung aufgrund der Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers statt, so hebt es die Entscheidung auf und verweist die Sache an ein zuständiges Gericht zur erneuten Entscheidung unter Beachtung seiner Entscheidung zurück (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Landgericht hat – unter Berücksichtigung der Vorgaben von BVerfG und EGMR – selbst zu entscheiden, wie es eine praktisch und rechtlich wirksame Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzungen gewährleistet – entweder im Wege einer teleologischen Reduktion des Verschuldenserfordernisses beim Amtshaftungsanspruch oder durch die Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs nach dem verschuldensunabhängigen allgemeinen Aufopferungsanspruch oder auf andere Weise. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz und prüft somit nicht die richtige Anwendung einfachen Rechts. Vielmehr prüft es nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die handelnden staatlichen Organe. Dieser Fall eignet sich hervorragend für eine anspruchsvolle Examensklausur, weil er den ungeliebten Amtshaftungsanspruch mit der Wirkung der EGMR im deutschen Recht und staatshaftungsrechtlichen Prinzipien verknüpft. Er ist sowohl als grundrechtliche Klausur (Verfassungsbeschwerde, wie hier) oder als verwaltungsrechtliche Klausur (Amtshaftungsanspruch) denkbar.
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