Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Schuld

Notstand, übergesetzliche entschuldigende (vor § 35 StGB)

Definition: Notstand, übergesetzliche entschuldigende (vor § 35 StGB)

18. April 2025

10 Kommentare

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Was versteht man unter einem „übergesetzlichen, entschuldigenden Notstand“?

Unter dem übergesetzlichen entschuldigenden Notstand ist eine Situation zu verstehen, in welcher der Täter existenzielle Güter verletzt, um gleichwertige andere Güter, die weder ihm noch einer ihm nahestehenden Person gehören, zu retten.

Eine Rechtfertigung über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) scheitert hier an der Gleichwertigkeit der Rechtsgüter und die Entschuldigung über den entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs. 1 StGB) wegen des fehlenden Angehörigenverhältnisses. Der übergesetzliche, entschuldigende Notstand ist insofern als Korrektiv für Extremsituationen vorgesehen. Mit Ausnahme des Angehörigenverhältnisses sind die Voraussetzungen identisch zum entschuldigenden Notstand. Klassisches Lehrbuchbeispiel ist der Bahnbeamte, der ein Zugunglück mit zahlreichen Toten dadurch abwendet, dass er den Zug auf ein Nebengleis leitet, wo dieser dann aber drei Gleisarbeiter überrollt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JJO

JJO

7.8.2024, 15:25:47

M.E. ist das Institut des übergesetzlichen Notstands durchaus umstritten. Es wäre toll, wenn ihr das zumindest kennzeichnen könntet. Idealerweise könntet ihr noch die Ansichten und Argumente nennen. Danke!

HAUS

Hausotter

8.9.2024, 13:05:27

Ich hatte gelesen, dass der übergesetzliche entschuldigende Notstand als Rechtsinstitut grundsätzlich in Rechtsprechung und Literatur anerkannt ist. Umstritten ist glaube ich eher, ob dadurch auch bisher unbetroffene Personen gefährdet werden dürfen. Falls ich hier aber etwas übersehe, gerne anmerken! :)

F. Rosenberg 🦅

F. Rosenberg 🦅

13.11.2024, 16:28:40

Zu unterscheiden sind drei Fallgruppen: 1) Symmetrische Gefahrengemeinschaft = Mehrere Personen schweben gleichermaßen in Todesgefahr und es besteht für alle dieselbe Rettungschance. ⟶ Täter ist unstreitig nach übergesetzlichem, entschuldigenden Notstand entschuldigt, Schuld (-) 2) Asymmetrische Gefahrengemeinschaft = Mehrere Personen schweben gleichermaßen in Lebensgefahr, aber Rettungschancen bestehen nur für die eine auf Kosten der anderen Gruppe. ⟶ Täter ist unstreitig nach übergesetzlichem, entschuldigenden Notstand entschuldigt, Schuld (-) 3) P: Umlenken der Risikos = Drohende Lebensgefahr wird von einer großen Personengruppe auf eine kleinere bisher ungefährdete Anzahl von Menschen umgelenkt. (Bsp: T stürzt den fetten, lang- und breitfleischigen O (der einen Body Mass Index von 9000 hat) auf den Gleis, um den fahrenden Zug auszubremsen und 20 Menschen auf dem Gleis zu retten.) MM: Täter entschuldigt und damit schuldlos Arg 1: Abwälzung der Gefahr auf kleinere Personengruppe = kleineres Übel Arg 2: Ausweglose Lage des Täters hM: Täter nicht entschuldigt und damit schuldig und strafbar Arg 1: Gefahr wird auf Ungefährdete abgewälzt, Täter gefährdet Menschen, für die überhaupt keine Gefahr bestand. Arg 2: Menschen als Instrument zur Rettung anderer Menschen zu benutzen, ist kein Grund zur Entschuldigung (Niemand hat das Recht, Gott zu spielen.)

Charles "Chuck" McGill

Charles "Chuck" McGill

19.2.2025, 21:23:16

@[Hausotter](155713) Kennst du zufällig einen Fall, wo die Rechtspechung sich darauf berufen hat? Fände es krass, wenns das schon mal gab.

AME

Amelie7

27.2.2025, 11:37:01

Ist nicht der Inhalt des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands, dass Unbeteiligte geopfert werden? Oder hab ich da gerade einen Denkfehler? Wenn alle gefährdet sind und der Täter eine Pflicht zum Retten hat, dann greift die

rechtfertigende Pflichtenkollision

. Wenn alle gefährdet sind und dann durch die Handlung nur eine geringe Anzahl stirbt, die eh schon gefährdet war, dann entfällt doch vermutlich Kausalität/

objektive Zurechnung

für den Täter.

Charles "Chuck" McGill

Charles "Chuck" McGill

28.2.2025, 18:37:00

@[Amelie7](262107) Die

rechtfertigende Pflichtenkollision

greift nur, wenn sich mehrere Handlungspflichten gegenüberstehen. Der Täter also nicht anders kann, als mindestens eine Unterlassenstat zu begehen. Ein Feuewehrmann etwa der von zwei zu rettenden Kindern nur eins retten kann, würde sich ohne diese des Totschlags durch Unterlassen an dem anderen Kind strafbar machen. Er unterlässt (!), wo er eigentlich nicht Unterlassen dürfte (!). Da er aber nicht anders kann, Unterlässt er gerechtfertigt. Beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand verstößt der Täter hingegen gegen eine Unterlassungspflicht. Er handelt (!) also, wo er nicht handeln (!) dürfte. Der Jetpilot der ein Flugzeug abschießt um Menschen in einem Hochhaus zu retten etwa. Der Abschuss ist

rechtswidrig

, er darf diese Menschen nicht töten. Diskutiert wird aber, sein Verhalten wegen der immeren Zwangslage als entschuldigt anzusehen. Zumindest, wenn die im Flugzeug sitzenden auch ohne den Abschuss umkommen würden. Noch problematischer ist nämlich der Fall, in dem das nicht so ist: Ein Bahnmitarbeiter leitet einen Zug auf ein Gleis um, auf dem nur ein Arbeiter ist (der dadurch sterben wird). Andernfalls würde dieser Zug Zehn Gleißarbeiter töten. Der eine andere Gleisarbeiter befand sich ohne die Handlung des Bahnmitarbeiters aber überhaupt nicht in Gefahr (anders als die Menschen im Flugzeug, die auch so sterben würden). Welche dieser Situationen zu entschuldigen ist und welche nicht ist hoch umstritten. Ebenso die Begründungsansätze. Extrem wichtig ist zu verstehen, dass die

rechtfertigende Pflichtenkollision

niemals zur Anwendung kommt, wenn es darum geht, dass eine Unterlassenspflicht (also die pflicht NICHT zu handeln) verletzt wurde.

AME

Amelie7

2.3.2025, 13:56:37

@[Charles "Chuck" McGill](291345) Stimmt, hatte tatsächlich den Denkfehler dass es die verschiedenen Optionen gibt, dass die geopferten schon gefährdet waren (Flugzeugfall) Danke!

prefi

prefi

18.2.2025, 19:10:42

Meiner Kenntnis nach ist subjektive Voraussetzung ein Handeln in Kenntnis der Notstandslage und aus tiefster Gewissensnot heraus, um eben den besonderen Umständen Rechnung zu tragen. Eventuell könnt ihr das noch ergänzen.

prefi

prefi

24.2.2025, 11:25:56

Im Rep haben wir diese Fälle so durchgesprochen, dass der übergesetzliche Notstand nur in Fällen der Abwägung "Leben gegen Leben" relevant werden kann. Andere Konstellationen, die nicht über andere Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe gedeckt sind, würden mir auch nicht einfallen. Könnt ihr das eventuell hinzufügen? Das ist mMn eine wichtige Stütze für die Anwendung in der Klausur.

WAYA

WayanMajere

5.4.2025, 22:45:37

Ein anderes Anwendungsbeispiel wäre m.W. der

Nötigungsnotstand

- wenn ein Täter einem Dritten, der aber weder Angehöriger noch nahestehende Person ist, Gewalt androht und damit den genötigten Täter zu einer Strafe motiviert. Wird die

Rechtswidrigkeit

(im Sinne der Rechtsprechung) verneint, käme hier kein

entschuldigender Notstand

in Betracht. In jedem Fall ist er restirktiv auszulegen, als kann man hier vermutlich auch zu einem anderen Ergebnis kommen.


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