Öffentliches Recht

Grundrechte

Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG)

Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall

Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall

6. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Clan-Mitglied C ist schon länger auf dem Radar der Ermittlungsbehörden. Nun liegt gegen ihn der Verdacht vor, eine kriminelle Handelsplattform im Internet zu betreiben. Daher fordern die Ermittler eine Online-Durchsuchung (§ 100b StPO) von Cs Computer an, auf den alle Clan-Mitglieder Zugriff haben und von dem C regelmäßig Rundmails verschickt. Auch identifizieren sie Cs Handynummer.

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Einordnung des Falls

Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Telekommunikationsgeheimnis schützt individuelle Kommunikation. Ist die Durchsuchung von Cs Computer deshalb nicht von Art. 10 GG erfasst, weil alle anderen Clan-Mitglieder auch Zugriff darauf haben?

Nein, das trifft nicht zu!

Das Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 GG) schützt individuelle Telekommunikation, das heißt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mithilfe des Telekommunikationsverkehrs. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nur eine einzige Person Zugriff auf das Kommunikationsmedium haben darf. Im Gegenteil: Für die Eröffnung des Schutzbereichs ist es irrelevant, ob das Medium der Öffentlichkeit, einer begrenzten Anzahl an Menschen oder nur einer Person zugänglich ist. Die Tatsache, dass andere Clan-Mitglieder Zugriff auf Cs Computer haben, steht einer Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 10 GG somit nicht entgegen.
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2. C sendet mit seinem Computer Rundmails an den Clan. Art. 10 GG schützt jedoch individuelle Kommunikation. Ist der Schutzbereich von Art. 10 GG eröffnet?

Ja!

Das Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 GG) schützt individuelle Telekommunikation, das heißt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mithilfe des Telekommunikationsverkehrs. Für die Eröffnung des Schutzbereichs ist es irrelevant, ob das Medium zum Zwecke der Individual- oder Massenkommunikation genutzt wird. Die Tatsache, dass C Rundmails an eine unbestimmte Anzahl von Empfängern schickt, steht der Schutzbereichseröffnung von Art. 10 GG also nicht entgegen.

3. Die Online-Durchsuchung, also der heimliche Eingriff in ein fremdes informationstechnisches System, ist vom Schutzbereich des Art. 10 GG erfasst.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Telekommunikationsgeheimnis umfasst die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mithilfe des Telekommunikationsverkehrs. Geschützt werden laufende Kommunikationsvorgänge. Sobald ein Vorgang abgeschlossen ist, ist der Schutzbereich von Art. 10 GG nicht mehr eröffnet. Bei der Online-Durchsuchung eines Privatcomputers ist Art. 10 GG nicht einschlägig, denn dieser schützt nur aktive, laufende Kommunikationsvorgänge. Bei der Online-Durchsuchung werden hingegen Programme auf den Computer gespielt, um bereits bestehende bzw. abgelegte Daten abzugreifen. Hier ist vorrangig das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) einschlägig – und zwar in der Ausprägung des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Die korrekte Zuordnung eines Eingriffs in den Schutzbereich eines Grundrechts ist vor allem im Rahmen der Rechtfertigung relevant, stellen die Grundrechte teils sehr unterschiedlich strenge Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Subsumiere bei Deiner Zuordnung zum Schutzbereich daher so sauber wie möglich, um Folgefehler zu vermeiden!

4. Die Identifikation von Cs Handynummer fällt in den Schutzbereich von Art. 10 GG.

Nein, das trifft nicht zu!

Das Telekommunikationsgeheimnis umfasst die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mithilfe des Telekommunikationsverkehrs. Geschützt werden laufende Kommunikationsvorgänge. Bei der Identifizierung von Cs Handynummer handelt es sich nicht um die Überwachung eines laufenden Kommunikationsvorgangs, findet lediglich die Zuordnung einer Telekommunikationsnummer zu einem konkreten Anschlussinhaber statt. Diese Zuordnung allein fällt nicht in den Schutzbereich von Art. 10 GG. Gleiches gilt etwa für die reine Standortermittlung eines Handys, denn auch hier ist nicht der vertrauliche Austausch von Informationen betroffen. Arbeite in Deiner Unterscheidung einzelner Vorgänge und deren Subsumtion immer so genau wie möglich!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

AN

Anne

12.6.2024, 17:09:46

Es liegt kein Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vor, sondern in das eigenständige Grundrecht der Gewährleistung der Verarbeitung und

Integrität informationstechnischer Systeme
TI

Timurso

13.6.2024, 10:41:51

Woraus schlussfolgerst du, dass das ein eigenständiges Grundrecht ist? Ich zitiere den 1. Leitsatz des Urteils vom BVerfG vom 27.02.2008 - 1 BvR 370/07: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das

Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme

."

AN

Anne

13.6.2024, 11:16:36

Wurde uns im Leipziger Examensrep vehement eingetrichtert. Dazu gibt es online auch einen sehr guten Fall auf YouTube (Fall 9 Online-Durchsuchung). Dazu auch: BeckOK InfoMedienR/Gersdorf, 42. Ed. 1.5.2021, GG Art. 2 Rn. 22.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

14.6.2024, 12:32:40

Danke für Deine Anmerkung, Anne, und für Deine Antwort @[Timurso](197555). Es liegt so: Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das

Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme

hergeleitet. Es lässt sich damit als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ansehen, wird aber – auch der einfacheren Prüfung halber – als eigenständiges Grundrecht behandelt. Deshalb muss es richtig heißen: Es liegt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) – und zwar in der Ausprägung des Grundrechts auf

Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme

– vor. Wir haben die Aufgabe entsprechend ergänzt. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Susan

Susan

13.8.2024, 12:02:09

Die Aufgabe finde ich gut, ob der Begriff "Clan" so notwendig ist, weiß ich nicht - meistens wird der Begriff nämlich rassistisch stigmatisierend verwendet, siehe zB die Beiträge von Laila Abdul-Rahman https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-10/clans-clankriminalitaet-bundeslagebild-organisierte-kriminalitaet

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

13.8.2024, 15:31:40

Hallo @[Susan](209473), danke für Deine Anmerkung und Deine Einordnung unter Verweis auf das interessante Interview der Kriminologen Laila Abdul-Rahman in der Zeit. Die wissenschaftliche Tragfähigkeit des kriminalistisch-soziologischen Phänomens, das durch den Begriff „Clankriminalität“ verkürzt beschrieben wird, können wir als Jurafuchs-Team nicht verlässlich bewerten. Es ist allerdings unbestritten – auch von Frau Abdul-Rahman –, dass in Deutschland in erheblichem Ausmaß Straftaten begangen werden von in familiären bzw. Clanstrukturen organisierten kriminellen Banden, die überwiegend aus Osteuropa, dem Balkan, Russland, dem Kaukasus und dem Nahen Osten stammen. Es handelt sich dabei also um ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, das auch in der juristischen Ausbildung einen Platz hat (ganz abgesehen davon, das es mittlerweile sogar ein gefeierter Gegenstand popkultureller Darstellungen ist). Deshalb halten wir es auch nicht für problematisch, in einem Fall in neutraler Weise die Personen, die Gegenstand staatlicher Überwachung sind, einem Clan zuzuordnen – zumal wir ja gerade darauf hinweisen, dass jedermann, genauso die hier benannten Clanmitglieder, durch die thematisierten Grundrechte geschützt werden. Wir achten streng darauf, dass unsere Fälle – genauso wie dieser Fall – neutral formuliert sind und keinerlei diskriminierende Darstellungen enthalten. Dementsprechend verwenden wir den Begriff des Clans oder der Clanmitgliedschaft in diesem Fall neutral und in keiner Weise, die sich bei Lichte betrachtet rassistisch oder stigmatisierend verstehen lässt. Wir hoffen daher auf Dein Verständnis, dass wir den Fall in der aktuellen Form belassen. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Sassun

Sassun

13.10.2024, 11:52:34

Kleine Verständnisfrage zum Begriff der abgeschlossenen Kommunikation. In Sodan/Ziekow Grundkurs ÖffR 10. Auflage 2023 § 38 Rn. 8 wird dieser mE weiter gefasst als die vorherigen Aufgaben suggerieren. Vielleicht verstehe ich aber auch das nachfolgende Zitat falsch: Da nicht nur der Kommunikationsinhalt, sondern auch die Kommunikationsumstände geschützt sind, erfasst Art. 10 I GG etwa auch staatliche Auskunftsersuchen über die bei einem Telekommunikationsunternehmen gespeicherten Daten über erfolgte Telekommunikationen und erst recht die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf den Servern des Providers. Dem steht nicht entgegen, dass die Daten streng genommen auf den Servern des Providers „ruhen“ und zum Zeitpunkt der Beschlagnahme keine Kommunikation stattfindet.

HockHex

HockHex

23.10.2024, 16:43:36

Ich habe das nochmal im Dürig/Herzog/Scholz nachgesehen, das scheint umstritten zu sein und auch das BVerfG hat wohl mal eine Außnahme gemacht: Rn. 86: "Nach Abschluss der Nachrichtenübermittlung hingegen sind die bei den Teilnehmern gespeicherten Kommunikationsinhalte und -umstände nicht mehr denselben spezifischen Risiken ausgesetzt; die mit Rücksicht auf den Normzweck des Art. 10 bestimmten Schutzbereiche erfassen solche Daten daher nicht mehr (vgl. nachfolgend Rn. 96, 103 und 124 ff.). Außerhalb des eigentlichen Kommunikationsvorgangs – etwa im Falle der Beschlagnahme eines bereits zugegangenen Briefs beim Empfänger oder der Auswertung der auf einem Computer befindlichen E-Mails, nicht aber solcher in der Mailbox des Providers (vgl. nachfolgend Rn. 125) – werden die im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalte und Umstände der Kommunikation somit nicht durch Art. 10 Abs. 1 geschützt [a.A. z.B. Huber, NVwZ 2007, 880 (883 f.)], wohl aber durch andere Grundrechte, insbesondere durch den Schutz der Wohnung nach Art. 13 GG (vgl. dazu nachfolgend Rn. 288) und durch das subsidiär geltende Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. oben Rn. 77 ff." Rn. 127 dann: "Allerdings sind die skizzierten Maßstäbe in ihrer Trennschärfe begrenzt und werden auch durch das BVerfG selbst an einigen Stellen nicht immer konsequent durchgehalten. Letztlich wohl ein „Ausreißer“ war namentlich die Annahme der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG, die Beschlagnahme eines Mobiltelefons falle in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses, weil die auf der eingelegten SIM-Karte gespeicherten Daten Auskunft über Einzelheiten der ein- und abgegangenen Anrufe geben könnten. Diese Aussage widerspracht der Begrenzung des Art. 10 auf den Schutz des eigentlichen Kommunikationsvorgangs; aus dieser formalen Perspektive spricht manches dafür, dass eine SIM-Karte – die sowohl Kommunikationsinhalte als auch Informationen zu Kommunikationsumständen enthält – nach Abschluss der Telefonate nicht anders zu behandeln ist als ein zugegangener Brief und daher nicht mehr dem Schutz des Art. 10 unterliegt. In diesem Sinne wurde später in vergleichbaren Konstellationen durch den Zweiten Senat selbst ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis verneint." In der Klausur dann wohl wie immer: Andiskutieren, und dann (vermutlich der hM folgend 🥲) klausurtaktisch entscheiden...


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