Öffentliches Recht
Grundrechte
Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG)
Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall
Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Clan-Mitglied C ist schon länger auf dem Radar der Ermittlungsbehörden. Nun liegt gegen ihn der Verdacht vor, eine kriminelle Handelsplattform im Internet zu betreiben. Daher fordern die Ermittler eine Online-Durchsuchung (§ 100b StPO) von Cs Computer an, auf den alle Clan-Mitglieder Zugriff haben und von dem C regelmäßig Rundmails verschickt. Auch identifizieren sie Cs Handynummer.
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Einordnung des Falls
Schutzbereich Telekommunikationsgeheimnis: Kontrollfall
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Das Telekommunikationsgeheimnis schützt individuelle Kommunikation. Ist die Durchsuchung von Cs Computer deshalb nicht von Art. 10 GG erfasst, weil alle anderen Clan-Mitglieder auch Zugriff darauf haben?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. C sendet mit seinem Computer Rundmails an den Clan. Art. 10 GG schützt jedoch individuelle Kommunikation. Ist der Schutzbereich von Art. 10 GG eröffnet?
Ja!
3. Die Online-Durchsuchung, also der heimliche Eingriff in ein fremdes informationstechnisches System, ist vom Schutzbereich des Art. 10 GG erfasst.
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Die Identifikation von Cs Handynummer fällt in den Schutzbereich von Art. 10 GG.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Anne
12.6.2024, 17:09:46
Es liegt kein Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vor, sondern in das eigenständige Grundrecht der Gewährleistung der Verarbeitung und
Integrität informationstechnischer SystemeTimurso
13.6.2024, 10:41:51
Woraus schlussfolgerst du, dass das ein eigenständiges Grundrecht ist? Ich zitiere den 1. Leitsatz des Urteils vom BVerfG vom 27.02.2008 - 1 BvR 370/07: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das
Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme."
Anne
13.6.2024, 11:16:36
Wurde uns im Leipziger Examensrep vehement eingetrichtert. Dazu gibt es online auch einen sehr guten Fall auf YouTube (Fall 9 Online-Durchsuchung). Dazu auch: BeckOK InfoMedienR/Gersdorf, 42. Ed. 1.5.2021, GG Art. 2 Rn. 22.
Wendelin Neubert
14.6.2024, 12:32:40
Danke für Deine Anmerkung, Anne, und für Deine Antwort @[Timurso](197555). Es liegt so: Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das
Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systemehergeleitet. Es lässt sich damit als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ansehen, wird aber – auch der einfacheren Prüfung halber – als eigenständiges Grundrecht behandelt. Deshalb muss es richtig heißen: Es liegt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) – und zwar in der Ausprägung des Grundrechts auf
Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme– vor. Wir haben die Aufgabe entsprechend ergänzt. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Susan
13.8.2024, 12:02:09
Die Aufgabe finde ich gut, ob der Begriff "Clan" so notwendig ist, weiß ich nicht - meistens wird der Begriff nämlich rassistisch stigmatisierend verwendet, siehe zB die Beiträge von Laila Abdul-Rahman https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-10/clans-clankriminalitaet-bundeslagebild-organisierte-kriminalitaet
Wendelin Neubert
13.8.2024, 15:31:40
Hallo @[Susan](209473), danke für Deine Anmerkung und Deine Einordnung unter Verweis auf das interessante Interview der Kriminologen Laila Abdul-Rahman in der Zeit. Die wissenschaftliche Tragfähigkeit des kriminalistisch-soziologischen Phänomens, das durch den Begriff „Clankriminalität“ verkürzt beschrieben wird, können wir als Jurafuchs-Team nicht verlässlich bewerten. Es ist allerdings unbestritten – auch von Frau Abdul-Rahman –, dass in Deutschland in erheblichem Ausmaß Straftaten begangen werden von in familiären bzw. Clanstrukturen organisierten kriminellen Banden, die überwiegend aus Osteuropa, dem Balkan, Russland, dem Kaukasus und dem Nahen Osten stammen. Es handelt sich dabei also um ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, das auch in der juristischen Ausbildung einen Platz hat (ganz abgesehen davon, das es mittlerweile sogar ein gefeierter Gegenstand popkultureller Darstellungen ist). Deshalb halten wir es auch nicht für problematisch, in einem Fall in neutraler Weise die Personen, die Gegenstand staatlicher Überwachung sind, einem Clan zuzuordnen – zumal wir ja gerade darauf hinweisen, dass jedermann, genauso die hier benannten Clanmitglieder, durch die thematisierten Grundrechte geschützt werden. Wir achten streng darauf, dass unsere Fälle – genauso wie dieser Fall – neutral formuliert sind und keinerlei diskriminierende Darstellungen enthalten. Dementsprechend verwenden wir den Begriff des Clans oder der Clanmitgliedschaft in diesem Fall neutral und in keiner Weise, die sich bei Lichte betrachtet rassistisch oder stigmatisierend verstehen lässt. Wir hoffen daher auf Dein Verständnis, dass wir den Fall in der aktuellen Form belassen. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Sassun
13.10.2024, 11:52:34
Kleine Verständnisfrage zum Begriff der abgeschlossenen Kommunikation. In Sodan/Ziekow Grundkurs ÖffR 10. Auflage 2023 § 38 Rn. 8 wird dieser mE weiter gefasst als die vorherigen Aufgaben suggerieren. Vielleicht verstehe ich aber auch das nachfolgende Zitat falsch: Da nicht nur der Kommunikationsinhalt, sondern auch die Kommunikationsumstände geschützt sind, erfasst Art. 10 I GG etwa auch staatliche Auskunftsersuchen über die bei einem Telekommunikationsunternehmen gespeicherten Daten über erfolgte Telekommunikationen und erst recht die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf den Servern des Providers. Dem steht nicht entgegen, dass die Daten streng genommen auf den Servern des Providers „ruhen“ und zum Zeitpunkt der Beschlagnahme keine Kommunikation stattfindet.
HockHex
23.10.2024, 16:43:36
Ich habe das nochmal im Dürig/Herzog/Scholz nachgesehen, das scheint umstritten zu sein und auch das BVerfG hat wohl mal eine Außnahme gemacht: Rn. 86: "Nach Abschluss der Nachrichtenübermittlung hingegen sind die bei den Teilnehmern gespeicherten Kommunikationsinhalte und -umstände nicht mehr denselben spezifischen Risiken ausgesetzt; die mit Rücksicht auf den Normzweck des Art. 10 bestimmten Schutzbereiche erfassen solche Daten daher nicht mehr (vgl. nachfolgend Rn. 96, 103 und 124 ff.). Außerhalb des eigentlichen Kommunikationsvorgangs – etwa im Falle der Beschlagnahme eines bereits zugegangenen Briefs beim Empfänger oder der Auswertung der auf einem Computer befindlichen E-Mails, nicht aber solcher in der Mailbox des Providers (vgl. nachfolgend Rn. 125) – werden die im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalte und Umstände der Kommunikation somit nicht durch Art. 10 Abs. 1 geschützt [a.A. z.B. Huber, NVwZ 2007, 880 (883 f.)], wohl aber durch andere Grundrechte, insbesondere durch den Schutz der Wohnung nach Art. 13 GG (vgl. dazu nachfolgend Rn. 288) und durch das subsidiär geltende Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. oben Rn. 77 ff." Rn. 127 dann: "Allerdings sind die skizzierten Maßstäbe in ihrer Trennschärfe begrenzt und werden auch durch das BVerfG selbst an einigen Stellen nicht immer konsequent durchgehalten. Letztlich wohl ein „Ausreißer“ war namentlich die Annahme der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG, die Beschlagnahme eines Mobiltelefons falle in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses, weil die auf der eingelegten SIM-Karte gespeicherten Daten Auskunft über Einzelheiten der ein- und abgegangenen Anrufe geben könnten. Diese Aussage widerspracht der Begrenzung des Art. 10 auf den Schutz des eigentlichen Kommunikationsvorgangs; aus dieser formalen Perspektive spricht manches dafür, dass eine SIM-Karte – die sowohl Kommunikationsinhalte als auch Informationen zu Kommunikationsumständen enthält – nach Abschluss der Telefonate nicht anders zu behandeln ist als ein zugegangener Brief und daher nicht mehr dem Schutz des Art. 10 unterliegt. In diesem Sinne wurde später in vergleichbaren Konstellationen durch den Zweiten Senat selbst ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis verneint." In der Klausur dann wohl wie immer: Andiskutieren, und dann (vermutlich der hM folgend 🥲) klausurtaktisch entscheiden...
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