Öffentliches Recht

Grundrechte

Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG)

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Seehofer Interview

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Seehofer Interview

12. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die A-Partei kritisiert, dass Bundespräsident F öffentlich ein Konzert gegen Rechts unterstützt. In einem Interview, das auf der Internetseite des BMI veröffentlicht wird, verurteilt Innenminister S dies und bezeichnet die A-Partei als „hochgefährlich“ und „staatszersetzend“.

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Einordnung des Falls

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Seehofer Interview

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die A-Partei hat gemäß Art. 21 Abs. 1 GG das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb.

Ja, in der Tat!

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 Abs. 1 GG). Damit gewährleistet ist, dass die politische Willensbildung des Volkes offen verläuft, ist es unerlässlich, dass die Parteien gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Art. 21 Abs. 1 GG beinhaltet deshalb unmittelbar ein Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb. Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung muss auf der Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgen (RdNr. 46).Statthaftes Klageverfahren ist hier das Organstreitverfahren, da die Frage der verfassungsrechtlichen Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern und das Recht der A-Partei auf Chancengleichheit berührt wird (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG).
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2. Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien beinhaltet als Kehrseite, dass sich Staatsorgane parteipolitisch neutral verhalten müssen (Neutralitätsgebot).

Ja!

BVerfG: „Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche zugunsten oder zulasten einer politischen Partei [...] auf den Wahlkampf einwirken“. Die verfassungsrechtlich garantierte Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) erfordert daher die parteipolitische Neutralität von Staatsorganen (sog. Neutralitätsgebot). Das bedeutet, sie dürfen sich nicht parteiergreifend für oder gegen eine bestimmte Partei aussprechen (RdNr. 47). Dies hat S mit seinen Äußerungen („staatszersetzend“ etc.) indes getan.

3. S ist nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn er sich in amtlicher Funktion als Bundesminister geäußert hat.

Genau, so ist das!

Nur die Inanspruchnahme amtlicher Autorität oder der Rückgriff auf amtliche Ressourcen können zu einer Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht führen. Außerhalb seiner amtlichen Funktion darf S am politischen Meinungskampf teilnehmen – ansonsten würden wiederum die Regierungsparteien benachteiligt. Obwohl S hier in einseitig parteiergreifender Weise zulasten der A-Partei in den politischen Wettbewerb eingreift (RdNr. 77f.), liegt nach Ansicht des BVerfG ein Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG erst dann vor, wenn S die Äußerungen in Wahrnehmung des Ministeramtes und nicht in seiner Eigenschaft als Parteipolitiker getätigt hat (RdNr. 79).

4. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen.

Ja, in der Tat!

Das BVerfG erkennt, dass eine strikte Trennung der Sphären des „Bundesministers“, des „Parteipolitikers“ und der „Privatperson“ nicht möglich ist (RdNr. 55). Für die Bestimmung des Amtsbezuges arbeitet es daher einige formelle Kriterien heraus: Für einen Amtsbezug sprechen z.B. offizielle Publikationen auf der Internetseite des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug liege z.B. bei Parteiveranstaltungen. Bei „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews) müsse man im Einzelfall differenzieren (RdNr. 59ff.).

5. S hat die Äußerungen im Interview in amtlicher Funktion als Bundesminister getätigt.

Nein!

BVerfG: Die Amtsbezeichnung des S sei noch kein Indiz für die Inanspruchnahme von Amtsautorität; staatliche Funktionsträger dürfen sie auch in außerdienstlichen Zusammenhängen führen. Im Übrigen fehlen Indizien für einen Amtsbezug (Staatssymbole etc.). Vielmehr ergebe sich aus dem Inhalt des Interviews, dass S von seiner Befugnis zur Teilnahme am politischen Meinungskampf Gebrauch mache. Es geht darin um allgemeinpolitische Fragen ohne Bezug zur Regierungstätigkeit. Die Äußerungen des S („staatszersetzend“ etc.) weisen keinen Ressortbezug auf, S beruft sich dafür nicht auf seine Amtsautorität (RdNr. 80ff.). Die Interview-Äußerungen sind daher noch kein Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG.

6. Allerdings weist die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI einen Amtsbezug auf und stellt somit einen Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG dar.

Genau, so ist das!

BVerfG: Mit der Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des von ihm geführten Ministeriums habe S auf Ressourcen zurückgegriffen, die ihm allein aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen. Dies habe S auch im politischen Meinungskampf eingesetzt, da die Wiedergabe im Internet der weiteren Verbreitung der darin enthaltenen Aussagen diente. Die Veröffentlichung des Interviews verstoße daher gegen das staatliche Neutralitätsgebot und greife in das Recht der A-Partei auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG) ein (RdNr. 90ff.).

7. Auch wenn S sich in seiner Funktion als Bundesminister nicht auf die Meinungsfreiheit berufen kann, steht ihm eine generelle politische Äußerungsbefugnis zu (Art. 65 GG).

Ja, in der Tat!

Der Bundesregierung obliegt die Aufgabe der Staatsleitung (Art. 65 GG). Integraler Bestandteil dieser Aufgabe ist die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit; eine verantwortliche Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung setzt voraus, dass sie über die von Staatsorganen zu treffenden Entscheidungen genügend wissen, um sie bewerten zu können. Es ist S somit nicht per se untersagt, an der politischen Willensbildung teilzunehmen, nur weil er Bundesminister ist.

8. Die Befugnis des S zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist grundsätzlich geeignet, den Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.

Ja!

Ein Eingriff in das Recht der Parteien auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG) kann grundsätzlich durch die Befugnis der Bundesregierung zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (Art. 65 GG) gerechtfertigt sein. Die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit muss ihrerseits jedoch rechtmäßig ausgeübt werden; dies setzt insbesondere die Beachtung der bestehenden Kompetenzordnung und des für sämtliches Staatshandeln geltenden Sachlichkeitsgebots voraus (RdNr. 93).

9. Die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI verstößt gegen das Sachlichkeitsgebot.

Genau, so ist das!

Ob bereits ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung vorliegt, weil S Öffentlichkeitsarbeit außerhalb seiner Ressortzuständigkeit betrieben hat, lässt das BVerfG offen. Jedenfalls verstoße die Veröffentlichung des Interviews gegen das Sachlichkeitsgebot. Mit der Kritik eines politischen Gegners in keinem Zusammenhang stehende Äußerungen verstoßen gegen das Sachlichkeitsgebot und sind unzulässig. Hier gehe die Äußerung des S weit über die Zurückweisung von Kritik am Bundespräsidenten hinaus. S habe dies nur zum Anlass genommen, über den Einzelfall hinausgehende negative Bewertungen der A-Partei zu äußern (RdNr. 94f.).
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