+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der Vorsitzende des Hamburger Presseklubs Lüth (L) ruft zum Boykott des Films „Unsterbliche Geliebte“ von Veit Harlan (H) auf. Grund des Boykottaufrufs ist Hs Rolle bei der Judenverfolgung. Daraufhin verklagt H den L erfolgreich auf Unterlassung der Äußerungen aus § 826 BGB.
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Einordnung des Falls
Lüth - Allgemeines Gesetz
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Boykottaufruf stellt vorliegend ein Werturteil dar, weshalb der Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) eröffnet ist.
Genau, so ist das!
Eine Meinung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG umfasst das Werturteil. Unter einem Werturteil versteht man alle Äußerungen, die durch ein subjektives Element der Stellungnahme oder des Dafürhaltens gekennzeichnet sind, ohne dass es auf die Qualität oder Richtigkeit der Äußerung ankommt.
Durch den Boykottaufruf bringt L ersichtlich seine ablehnende Haltung gegenüber Hs Film zum Ausdruck. Dem Boykottaufruf ist daher ein wertendes Element immanent.
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2. Wenn das zivilgerichtliche Urteil auf Unterlassung des Boykottaufrufs die Bedeutung der Meinungsfreiheit außer Acht gelassen hat, liegt darin ein nicht gerechtfertigter Eingriff in Ls Meinungsfreiheit.
Ja, in der Tat!
Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit liegt vor, wenn eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt die Meinungsäußerung oder Meinungsverbreitung durch Ge- oder Verbote beeinträchtigt. Dieser ist nur verfassungskonform, wenn er gerechtfertigt ist.
Durch das Urteil wird L untersagt, seinen Boykottaufruf aufrechtzuerhalten und damit seine Meinungsfreiheit infolge der drohenden Zwangsmittel (Zwangsgeld) beschränkt. Das Tatbestandsmerkmal der guten Sitten in § 826 BGB ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Bei der Auslegung muss das Gericht die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte berücksichtigen (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte). 3. Die Meinungsfreiheit kann durch allgemeine Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG eingeschränkt werden.
Ja!
Die Meinungsfreiheit enthält nach Art. 5 Abs. 2 GG einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Die Auslegung des Begriffs „allgemeines Gesetz“ war zur Zeit des Lüth-Beschlusses höchst umstritten. Da es bereits in der Weimarer Reichsverfassung bereits eine ähnliche Grundrechtsschranke gab (Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV) standen sich seitdem Vertreter der Sonderrechtslehre und Abwägungslehre gegenüber.
4. Nach der Sonderrechtslehre darf ein allgemeines Gesetz kein Sondergesetz darstellen, also sich gegen bestimmte Meinungen richten. Danach ist § 826 BGB ein allgemeines Gesetz.
Genau, so ist das!
Die insbesondere von Kurt Häntzschel geprägte Sonderrechtslehre definiert allgemeine Gesetze in einem formellen Sinne. Ein Gesetz ist demnach dann allgemein, wenn es kein Sondergesetz darstellt, also sich nicht gegen bestimmte Meinungen richtet. Das Gesetz muss Meinungsneutralität aufweisen.
§ 826 BGB schützt alle Rechte und Güter gegen sittenwidrige Angriff und richtet sich daher nicht gegen eine bestimmte Meinung.
5. Nach der Abwägungslehre ist entscheidend, ob das Gesetz einem Rechtsgut dient, das im Einzelfall gegenüber der Meinungsfreiheit Vorrang genießt. Kann § 826 BGB danach ein allgemeines Gesetz sein?
Ja, in der Tat!
Unter anderem Rudolf Smend prägte die Abwägungslehre. Dabei wird eine materielle Abwägung zwischen dem Rechtsgut des einschränkenden Gesetzes und der Meinungsfreiheit vorgenommen. Gesetze, die eine Meinung explizit beschränken, können demnach bei materialer Überwertigkeit ein allgemeines Gesetz darstellen.
§ 826 BGB schützt das Rechtsgut der guten Sitten. Diese können im Einzelfall die Meinungsfreiheit überwiegen.
6. Das BVerfG hat im Lüth-Beschluss die Sonderrechtslehre mit der Abwägungslehre kombiniert (Kombinationslehre). Danach ist § 826 BGB ein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG.
Ja!
Das BVerfG führte beide Lehren zusammen: unter einem allgemeinen Gesetz sind alle Gesetze zu verstehen, „die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber de Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat.“
Nach allen Ansichten ist § 826 ein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG.
In der Klausur empfiehlt es sich, den Streitstand knapp darzustellen, um Hintergrundwissen zu zeigen. Oftmals ist allerdings der Streitentscheid entbehrlich.
An der formellen u. materiellen Rechtmäßigkeit der Norm bestehen keine Bedenken. Nach der Prüfung, ob ein allgemeines Gesetz vorliegt, musst Du aber stets noch dessen verfassungskonforme Anwendung prüfen. Mehr dazu in der nächsten Session.