+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Ampel-Koalition hat im Jahr 2023 eine umfangreiche Reform des Wahlrechts vorgenommen. Einige Normen wurden dem BVerfG, unter anderem im Rahmen eines Normenkontrollantrags, zur Überprüfung vorgelegt. Mit Urteil vom 30.07.2024 hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen beurteilt.
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Einordnung des Falls
Wahlrecht aus 2023 teilweise verfassungswidrig (BVerfG)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Normenkontrollantrag hatte verschiedene Regelungen des BWahlG zum Gegenstand. Musste das BVerfG unter anderem die Verfassungsmäßigkeit des Zweitstimmendeckungsverfahrens (§ 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 und S. 2 BWahlG) überprüfen?
Genau, so ist das!
Durch die Wahlrechtsreform im Jahr 2023 stärkte die Ampel-Koalition die Elemente der Verhältniswahl. Zusammengefasst: Es sollten nur noch Sitze im Bundestag vergeben werden, die von der Sitzverteilung nach dem bundesweiten Verhältnis (Zweitstimme) gedeckt waren (§ 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 und S. 2 BWahlG). Ziel war vor allem, die Verkleinerung des Parlaments, indem die in § 1 Abs. 1 BWahlG festgelegte Gesamtanzahl an Sitzennnicht (mehr) überschritten wird. Diese Äderung wurde teilweise nicht nur als „Reform“ sondern als Einführung eines komplett neuen Wahlsystems (nämlich einer reinen Verhältniswahl) kritisiert und dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt.
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2. Mit den Normen zum Zweitstimmendeckungsverfahren hat der Gesetzgeber sich für ein Wahlsystem entschieden, was einer reinen Verhältniswahl zumindest sehr nahe kommt. Ist diese Entscheidung bereits verfassungswidrig, weil das Grundgesetz ein anderes Wahlsystem ausdrücklich vorsieht?
Nein, das trifft nicht zu!
Das GG enthält keine ausdrückliche Vorgabe bezüglich der Art des Wahlsystems. Vielmehr gibt Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Befugnis, das Wahlrecht näher auszugestalten. Aus der Systematik des GG ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, durch die konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems die Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundsätze sicherzustellen. Der Gesetzgeber ist damit also sogar verpflichtet, das Wahlsystem zu verändern, wenn ansonsten die Funktion der Wahl gefährdet ist (vgl. BVerfG, Az. 2 BvF 1/23, RdNr. 136ff.) Damit durfte die Ampel-Koalition die Elemente einer (reinen) Verhältniswahl grundsätzlich stärken. Hier könnte sogar eine Handlungspflicht des Gesetzgebers bestanden haben. Das BVerfG geht außerdem davon aus, dass schon gar kein „Systembruch“ mit dem bisherigen Wahlsystem besteht, sondern der Gesetzgeber lediglich einen (neuen) Ausgleich zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis getroffen hat (vgl. RdNr. 170ff.).
3. § 6 Abs. 1 und Abs. 2 BWahlG behandelt Wahlstimmen für einen erfolgreichen unabhängigen Wahlbewerber anders als Stimmen für einen von einer Partei aufgestellten Bewerber. Ist eine Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung bereits deswegen ausgeschlossen, weil die Gleichheit der Wahl absolut gilt?
Nein!
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gilt nicht absolut. Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgrundsätze können aus wichtigen (verfassungsrechtlichen) Gründen gerechtfertigt sein. BVerfG: „Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber werden im Fall seines Erfolgs anders behandelt als Wahlstimmen für Wahlkreisbewerber einer Partei. Zum einen erhält
der unabhängige Bewerber ein Bundestagsmandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzvergabeverfahren nach dem Zweitstimmenergebnis. Zum anderen sieht § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BWahlG vor, dass die Zweitstimmen der Wählerinnen und Wähler, die mit ihrer Erststimme einen unabhängigen Bewerber mit Erfolg gewählt haben, nicht berücksichtigt werden.“ (RdNr. 200) Damit besteht zunächst eine Erfolgswertungleichheit, die allerdings gerechtfertigt sein könnte.
4. Stimmen für unabhängige Wahlkreisbewerber müssen nicht von der Zweitstimme gedeckt sein. Ist diese Regelung als „Korrektiv zur hervorgehobenen Rolle der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes“ gerechtfertigt?
Genau, so ist das!
Die Ungleichbehandlung von Stimmen für parteiunabhägige Bewerber und solchen, die auf der Landesliste einer Partei stehen, müsste gerechtfertigt sein. BVerfG: Der sachliche Grund (= legitimer Zweck) für die Ungleichbehandlung bestünde darin, dass damit „die Monopolisierung des Wahlvorschlagsrechts bei den politischen Parteien (…)“ verhindert werden solle. Die Ausnahme vom Erfordernis der Zweitstimmendeckung sei zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen (siehe hierzu RdNr. 202ff.). Das BVerfG prüft hier im Rahmen der Rechtfertigung lehrbuchartig die Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung. Aus denselben Gründen sei nach Ansicht des BVerfG auch der Grundsatz Chancengleichheit politischer Parteien gewahrt (RdNr. 215ff.). Zudem sei der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht betroffen, da das Wahlergebnis nicht von einer Zwischeninstanz beeinflusst würde (RdNr. 212ff.).
5. Gegenstand des Verfahrens war zudem die Sperrklausel aus § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG. Beeinträchtigt diese sog. 5%-Hürde zunächst den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit?
Ja, in der Tat!
Nach der Sperrklausel (§ 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG) werden bei der Vergabe der Sitze im Bundestag von vornherein solche Stimmen nicht berücksichtigt, die für eine Partei abgegeben wurden, die im bundesweiten Verhältnis weniger als 5 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hat. Zwar hat das BVerfG diese Klausel in der Vergangenheit als verfassungsmäßig beurteilt. Es hat aber klargestellt, dass rechtliche und tatsächliche Veränderungen dazu führen könnten, dass sich an dieser Beurteilung einmal etwas ändert. Anlässlich der Reform war eine neue Beurteilung erforderlich. Nach dem Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) muss die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben. Aufgrund der Sperrklausel haben die Stimmen, die für eine Partei abgegeben wurden, die im bundesweiten Verhältnis weniger als fünf Prozent der gültigen Stimmen erhalten hat, keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments (Erfolgswert = 0). (Siehe auch RdNr. 221ff.)
6. Die Einschränkung der Gleichheit der Wahl durch die Sperrklausel könnte durch die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments gerechtfertigt sein.
Ja!
Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist grundsätzlich ein Rechtfertigungsgrund für Sperrklauseln (vgl. BVerfGE 4, 31, RdNr. 39 f.; 6, 84, RdNr. 92 f.; 82, 322, RdNr. 338.). Diese setzt unter anderem die Sicherstellung stabiler Mehrheitsverhältnisse voraus. BVerfG: Die Sperrklausel sei grundsätzlich geeignet und erforderlich, eine Zersplitterung des Parlaments zu verhindern. Auch die Höhe von 5 Prozent sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten hat. (vgl. RdNr. 228ff.). Die Sperrklausel sei aber in der Hinsicht verfassungswidrig, als dass sie Parteien unberücksichtigt ließe, die zwar weniger als 5 Prozent der Stimmen erreichen, jedoch im Parlament zu einer Fraktion gehören, die die Sperrklausel überwunden haben. Denn in diesem Fall sei gerade keine Zersplitterung der Parteienlandschaft durch einen Einzug der „kleinen“ Partei ins Parlament zu befürchten (RdNr. 249). § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG ist damit in seiner jetzigen Fassung verfassungswidrig. In praktischer Hinsicht betrifft das die CSU und ihre Zugehörigkeit zur Bundestagsfraktion CDU/CSU. Das BVerfG stellt weiter klar, dass der Gesetzgeber frei entscheiden kann, wie er die Regel zur Sperrwirkung anpassen möchte. Gleichzeitig zeigt das BVerfG einige Möglichkeiten hierzu auf (siehe RdNr. 274ff.).
7. Wenn das BVerfG feststellt, dass eine Norm mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, kann es das Gesetz entweder für nichtig erklären (§§ 78 S. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) oder die Unvereinbarkeit lediglich feststellen (vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG).
Genau, so ist das!
Wenn das BVerfG eine Norm für nichtig erklärt, so gilt diese ohne weitere Schritte des Gesetzgebers nicht weiter – es gibt sie quasi nicht mehr. Alternativ kann das BVerfG die Unvereinbarkeit feststellen und Übergangsregelungen treffen. Die Unvereinbarkeitserklärung erfolgt nach § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG.
BVerfG: „Die Unvereinbarkeitserklärung ist mit einer Anordnung der Fortgeltung des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG zu verbinden. Zusätzlich wird angeordnet, dass bis zu einer Neuregelung § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass bei der Sitzverteilung Parteien, die weniger als 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben, nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen errungen haben.“ Das BVerfG trifft hier also eine Übergangsregelungen für den (wahrscheinlichen) Fall, dass der Gesetzgeber nicht rechtzeitig bis zur Bundestagswahl 2025 nachbessert.