+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Eine Boulevard-Zeitschrift (B) veröffentlicht ein Exklusiv-Interview mit Prinzessin Soraya (S), das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Das LG verurteilt B zur Zahlung von Schadensersatz wegen Verletzung von S Persönlichkeitsrecht.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen
unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
...Wird geladen
Einordnung des Falls
KLASSIKER: Richterliche Rechtsfortbildung („Soraya“) (BVerfG, 14.02.1973)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. B erhebt nach erfolglosem Bestreiten des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde. Kann das BVerfG die Auslegung und Anwendung des bürgerlichen Rechts als solche nachprüfen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, die die Anwendung des einfachen Rechts überprüfen würde. Gerade bei Urteilsverfassungsbeschwerden gilt daher ein begrenzter Prüfungsmaßstab: Das BVerfG prüft nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Die in den Grundrechten enthaltende objektive Wertordnung gilt als verfassungsrechtliche Grundentscheidung allerdings in allen Bereichen des Rechts. Das BVerfG prüft daher, ob Entscheidungen der Zivilgerichte auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Reichweite und Wirkkraft eines Grundrechts beruhen oder ob das Entscheidungsergebnis selbst Grundrechte eines Beteiligten verletzt.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Gesetzgeber des BGB hat ein allgemeines Persönlichkeitsrecht abgelehnt. Verstößt die Rechtsprechung des BGH, wonach dieses Recht von § 823 BGB umfasst ist, deswegen gegen die Verfassung?
Nein, das trifft nicht zu!
Den Mittelpunkt des Wertsystems der Grundrechte bildet die – innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltende – menschliche Persönlichkeit und ihre Würde, deren Schutz aller staatlichen Gewalt obliegt. Die Rechtsfigur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfüllt im Privatrecht diese Schutzfunktion, indem es Lücken schließt, die trotz der Anerkennung einzelner Persönlichkeitsrechte verbleiben. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist mittlerweile fester Bestandteil der Privatrechtsordnung geworden. Die Auslegung des BGH ist demnach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (RdNr. 32f.).
3. § 823 Abs. 1 BGB ist ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 GG, das Eingriffe in die Pressefreiheit rechtfertigen kann.
Ja!
Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet die Pressefreiheit ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Nach der sog. Kombinationslehre des BVerfG sind allgemeine Gesetze solche, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann.
Diese Voraussetzung erfüllt § 823 Abs. 1 BGB, wenn er das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt und damit den Schutzauftrag aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG erfüllt (RdNr. 34).
Das BVerfG betont allerdings, dass auch die grundlegende Bedeutung der Pressefreiheit für die freiheitlich-demokratische Ordnung nicht außer Acht gelassen werden darf. Diese sei bei der Abwägung der Verfassungspositionen zu berücksichtigen.
4. Unterhaltungs- und Sensationspresse fällt von vornherein nicht unter den Schutzbereich der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG).
Nein, das ist nicht der Fall!
BVerfG: „Der Begriff "Presse" ist weit und formal auszulegen; er kann nicht von einer – an welchen Maßstäben auch immer ausgerichteten – Bewertung des einzelnen Druckerzeugnisses abhängig gemacht werden. Die Pressefreiheit ist nicht auf die "seriöse" Presse beschränkt.“
Demnach kann sich B als Boulevardzeitung grundsätzlich auf die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) berufen.
Die Veröffentlichung des erfundenen Interviews erfüllt kein überwiegendes öffentliches Interesse, sodass der Schutz von S Privatsphäre hier Vorrang gegenüber Bs Pressefreiheit zukommt.
5. Die Veröffentlichung des erfundenen Interviews erfüllt kein überwiegendes öffentliches Interesse, sodass der Schutz von S Privatsphäre hier Vorrang gegenüber Bs Pressefreiheit zukommt.
Ja, in der Tat!
Bei der Abwägung zwischen der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) und anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern können die Gerichte berücksichtigen, „ob die Presse im konkreten Fall eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ernsthaft und sachbezogen erörtert, damit den Informationsanspruch des Publikums erfüllt und zur Bildung der öffentlichen Meinung beiträgt oder ob sie lediglich das Bedürfnis einer mehr oder minder breiten Leserschicht nach oberflächlicher Unterhaltung befriedigt (RdNr. 36).“
Es besteht kein Recht der Leser durch erfundene Darstellungen über das Privatleben von S „unterrichtet“ zu werden. Ein erfundenes Interview kann trägt auch nicht zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Demnach kommt der Schutz von S Privatsphäre unbedingten Vorrang vor den Presseäußerungen von B zu (RdNr. 37).
6. Die Verhängung übermäßig strenger Sanktionen für Persönlichkeitsrechtsverletzungen, wie unvorhersehbar hohe Schadenersatzansprüche, verletzt die Pressefreiheit.
Ja!
Unvorhersehbar hohe Schadensersatzansprüche schränken die Pressefreiheit verfassungswidrig ein, insbesondere wenn die rechtlichen Voraussetzungen für solche Schadensersatzansprüche nicht klar definiert sind (RdNr. 45).
Dies ist hier aber nicht der Fall. Im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung haben die Fallgruppen, in denen Schädiger Ersatz für den immateriellen Schaden leisten müssen, klare Konturen gewonnen. Zudem hat der Schadensersatzanspruch subsidiären Charakter. Der BGH fordert für die Zuerkennung eines Ersatzes des immateriellen Schadens außerdem eine erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeitssphäre und schweres Verschulden. Damit ist sichergestellt, dass die Sorgfaltsanforderungen an eine verantwortungsvoll arbeitende Presse nicht überspannt werden (RdNr. 45).
Problematisch war hier, dass es kein Gesetz gibt, dass bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts den Ersatz des immateriellen Schadens in Geld vorsieht, sondern vielmehr § 253 BGB einen solchen Anspruch ausdrücklich ausschließt.
7. Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz ist ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit.
Genau, so ist das!
Die Gesetzesbindung der Judikative findet seine verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 20 Abs. 3 GG. Sie wird dort jedenfalls der Formulierung nach aber etwas abgewandelt. Denn die Rechtsprechung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht“ gebunden. Nach allgemeiner Auffassung schließt dies einen engen Gesetzespositivismus aus. Vielmehr verdeutlicht die Formulierung, dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. (RdNr. 47).
8. Der Richter sind zur „schöpferischen Rechtsfindung“ nicht befugt.
Nein, das trifft nicht zu!
Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht allein darauf verwiesen, geschriebene Gesetze in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es auch erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in Entscheidungen zu realisieren („schöpferische Rechtsfindung“) (RdNr. 47ff.).
Der Gesetzgeber hat den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Aufgabe der „Fortbildung des Rechts“ ausdrücklich zugewiesen (s. z.B. § 137 GVG).
Gerade im Arbeitsrecht hat die richterliche Rechtsfortbildung besonderes Gewicht.
9. Die Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung gilt unbegrenzt.
Nein!
Der Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung müssen mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gezogen sein. Auf dem Gebiet des Privatrechts ist zur Bestimmung dieser Grenzen zu berücksichtigen, dass das BGB seit über 70 Jahren in Kraft ist. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung wächst die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts. Denn die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben (RdNr. 50).
10. Hat der BGH mit der Anerkennung eines Anspruchs auf Ersatz von immateriellen Schäden für Persönlichkeitsrechtsverletzungen die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung überschritten?
Nein, das ist nicht der Fall!
Dieser Schadensersatzanspruch hat keine eindeutige Grundlage im geschriebenen Recht. Allerdings ist durch die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine Lücke mit Hinblick auf die zu verhängenden Sanktionen entstanden, die zur Zeit der Entstehung des BGB noch nicht abzusehen war. Die Rechtsfortbildung des BGH diente der Durchsetzung und dem wirksamen Schutz des Persönlichkeitsrechts, einem Rechtsgut, das die Verfassung als Mittelpunkt ihres Wertsystems ansieht. Sie ist eine zulässige Ergänzung und Weiterführung des geschriebenen Gesetzes und „Recht“ i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG. (RdNr. 51f.)
Nach dem BVerfG war es nach der Lage der Dinge verfassungsrechtlich nicht geboten, eine Regelung durch den Gesetzgeber abzuwarten (RdNr. 53).
11. Der vom BGH entwickelte Rechtssatz, wonach eine Persönlichkeitsrechtsverletzung zu einem Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens führen kann, ist eine zulässige Schranke der Pressefreiheit.
Ja, in der Tat!
Der vom BGH entwickelte Rechtssatz ist ein „allgemeines Gesetz“ i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG. BVerfG: „Sein Ziel ist es, der im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Wertordnung stehenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde auch zivilrechtlich wirksamen Schutz zu gewährleisten und damit auf einem Teilgebiet des Rechts die Geltungskraft der Grundrechte zu verstärken.“ Demnach verletzt die Verurteilung nicht Bs Pressefreiheit (RdNr. 54).
Auch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG liegt nicht vor, da die Verurteilung zum Ersatz immaterieller Schäden trotz pönaler Elemente keine Strafe im Sinne dieser Norm ist (RdNr. 56).