Öffentliches Recht

Grundrechte

Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG)

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Merkel zu Ministerpräsidentenwahl

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Merkel zu Ministerpräsidentenwahl

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

In Thüringen wählt die CDU mithilfe der Stimmen der AfD (A) den FDP-Mann Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Bundeskanzlerin und CDU-Politikerin Angela Merkel (M) äußert sich daraufhin während eines Staatsbesuchs in Südafrika in einer Pressekonferenz negativ über diesen Vorgang. Ihre Äußerung wird auf den Internetseiten der Bundesregierung verbreitet.

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Einordnung des Falls

Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern: Merkel zu Ministerpräsidentenwahl

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ms negative Bewertung der Wahl fällt in den sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit.

Ja!

Eine Meinung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG umfasst das Werturteil. Unter einem Werturteil versteht man alle Äußerungen, die durch ein subjektives Element der Stellungnahme oder des Dafürhaltens gekennzeichnet sind, ohne dass es auf die Qualität oder Richtigkeit der Äußerung ankommt. M gibt keine Tatsache wieder, sondern äußert wertend ihre subjektive Einstellung zum Ausgang der Wahl in Thüringen.
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2. Die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ist ein Jedermann-Grundrecht.

Genau, so ist das!

Ausweislich des Wortlauts des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG („Jeder hat das Recht, seine Meinung... frei zu äußern“) ist die Meinungsfreiheit ein Jedermann-Grundrecht. Geschützt sind daher alle natürlichen Personen sowie juristische Personen im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG.

3. Mitglieder der Bundesregierung in Ausübung ihres Amtes sind auch Grundrechtsträger der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG).

Nein, das trifft nicht zu!

Öffentlich-rechtlichen Amtsträgen ist in amtlicher Eigenschaft die Berufung auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) versagt. Grund hierfür ist, dass Mitglieder der Bundesregierung in ihrer Funktion nicht zugleich grundrechtsberechtigt und grundrechtsverpflichtet sein können (Konfusionsargument). Vielmehr ergibt sich ihre Äußerungsbefugnis aus den jeweils für ihr Amt geltenden Kompetenznormen.Äußern sich Regierungsmitglieder in amtlicher Eigenschaft, sind sie zudem an das Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebot gebunden.

4. Treten Mitglieder der Bundesregierung jenseits ihres offiziellen Amtes auf, ist der persönliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) eröffnet.

Ja!

Politiker in einem öffentlichen Amt haben eine Doppelrolle inne. Zum einen wirken sie in ihrem öffentlichen Amt, zum Beispiel als Bundeskanzlerin. Zum anderen sind sie auch als Parteipolitiker tätig und äußern sich in diesem Kontext politisch. Bezüglich Letzterem ist der persönliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) eröffnet, sofern kein Zusammenhang mit ihrem öffentlichen Amt besteht.

5. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen.

Genau, so ist das!

Das BVerfG erkennt, dass eine strikte Trennung der Sphären des „Bundesministers“, des „Parteipolitikers“ und der „Privatperson“ nicht möglich ist (RdNr. 77). Für die Bestimmung der Inanspruchnahme amtlicher Autorität, arbeitet es daher mit formelle Kriterien: Für einen Amtsbezug sprechen z.B. Pressemitteilungen auf der Internetseite der Bundesregierung oder des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug, liege z.B. bei Parteiveranstaltungen oder „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews) vor, wobei letztere differenzierter Betrachtung bedürfen (RdNr. 80ff.). Die Aufspaltung eines Regierungsmitglieds in Amtsträger, Parteipolitiker und Privatperson wird von vielen als praktisch unmöglich kritisiert, da sie den Grundsätzen des parlamentarischen Regierungssystems widerspreche, in dem das Handeln der von der Parlamentsmehrheit abhängigen Regierung stets parteipolitisch geprägt sei.

6. Sprechen die äußeren Umstände hier für einen Amtsbezug der Äußerung?

Ja, in der Tat!

Für einen Amtsbezug sprechen z.B. Pressemitteilungen auf der Internetseite der Bundesregierung oder des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug, liege z.B. bei Parteiveranstaltungen oder „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews). Für den Amtsbezug sprechen die Umstände, dass die Äußerung von M auf Internetseiten der Bundesregierung – und nicht lediglich auf den Seiten der CDU – veröffentlicht wurde. Für den Amtsbezug spricht auch, dass M die Äußerung vor der Flagge der Bundesrepublik Deutschland tätigte – im Rahmen eines Staatsbesuchs in Südafrika, bei dem sie als Regierungschefin auftrat.

7. M gab ihre Äußerung ab, nachdem sie angekündigt hatte, eine „Vorbemerkung“ machen zu wollen. Folgt daraus, dass der Amtsbezug ihrer Äußerung entfällt?

Nein!

BVerfG: Aus dem bloßen Hinweis, eine „Vorbemerkung“ machen zu wollen, könne nicht geschlossen werden, dass diese außerhalb der Ausübung der Dienstgeschäfte erfolgen sollte. Insgesamt habe sich M nicht klar genug von ihrem Amt distanziert, dass ihre Äußerung als parteipolitisch qualifiziert werden könne. Es sei M „unbenommen gewesen mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“ (RdNr. 130). Teile der Literatur kritisieren diesen vom BVerfG geforderten „formalen Disclaimer“. Es sei fraglich, ob dieser geeignet ist, den Amtsbezug der Äußerung zu kappen. Schon die Vorstellung der Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung und sauberen Trennbarkeit von Äußerungen in den Funktionen Regierungsamt, Parteipolitikerin und Privatperson sei zweifelhaft (s. Payandeh, Verfassungsblog 17.06.22).

8. M bezieht sich mit ihren Äußerungen auf einen Sachverhalt, für den sie oder die Bundesregierung keine Regelungszuständigkeit besitzt. Schließt das ein Handeln in amtlicher Funktion aus?

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: „Selbst ein Handeln jenseits der mit dem Regierungsamt verbundenen Kompetenzen ist ein Handeln in amtlicher Funktion, wenn dafür die Autorität des Regierungsamtes in Anspruch genommen wird. Ob eine Äußerung sich im Kompetenzbereich des Äußernden hält, ist für die Frage der Abgrenzung zwischen amtlichem und nicht amtlichem Handeln nicht von ausschlaggebender Bedeutung, sondern nur für seine Rechtmäßigkeit.“ Demnach ist es hier für die Bewertung des amtlichen Charakters der Äußerung ohne Belang, dass weder die Wahl der Ministerpräsidenten in den Ländern noch die Positionierung ihrer daran beteiligten Parteianhänger dem Kompetenzbereich der Bundeskanzlerin zuzuordnen sind (RdNr. 128). Im Ergebnis erachtete das BVerfG Ms Handeln als ungerechtfertigten Eingriff in die Chancengleichheit. Eine ausführliche Besprechung des Falles (inkl. Zuständigkeit), findest Du in unserer examensrelevanten Rechtsprechung !
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Skra8

Skra8

3.10.2024, 14:31:42

Hallo zusammen, mir ist das bisher bei keiner anderen Aufgabe aufgefallen, aber bei der Frage: "Sprechen die äußeren Umstände hier für einen Amtsbezug der Äußerung?" steht in der Subsumtion, dass für den Amtsbezug unter anderem die Äußerung vor der Flagge der Bundesrepublik Deutschland spricht. Die Information, dass die Äußerung vor der Flagge der Bundesrepublik Deutschland gemacht wurde, ergibt sich jedoch nicht aus dem Sachverhalt, sondern aus der dazugehörigen Karikatur. Daher meine Frage: Werden bei allen Fragen grundsätzlich auch die Informationen aus den Karikaturen herangezogen? Darauf habe ich bisher nicht so geachtet.


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