Verwirkung der Verfahrensrüge - Widerspruchslösung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ersttäter A wird anwaltlich vertreten verurteilt, weil er nachts betrunken Mofa über einen Feldweg gefahren war (§ 316 Abs. 1 StGB). A hatte während der Verhandlung geschwiegen, seine vorherige geständige Einlassung war aber durch Befragung des Vernehmungsbeamten P eingeführt worden. In der Revision rügt A erstmals, P hätte ihn nicht über sein Schweigerecht belehrt.

Diesen Fall lösen 72,5 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Verwirkung der Verfahrensrüge - Widerspruchslösung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wurden Beweismittel rechtswidrig erhoben, unterliegen sie stets einem Beweisverwertungsverbot.

Nein, das ist nicht der Fall!

Wird ein Beweismittel unter Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften gewonnen, so kann dies ein Beweisverwertungsverbot begründen, dies ist jedoch keineswegs zwingend. Nur vereinzelt enthält die StPO gesetzlich angeordnete Beweisverwertungsverbote (z.B. § 136a Abs. 3 S. 2 StPO). Sofern es an einer Regelung fehlt, muss im Einzelfall festgestellt werden, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt. Dabei ist das staatliche Strafverfolgungsinteresses gegen das Interesse des Angeklagten am Schutz seiner Rechtsgüter abzuwägen (Abwägungslehre). Entscheidend sind etwa das Gewicht des Verstoßes bei der Beweisgewinnung und der Schutzzweck der verletzten Norm.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Wenn A nicht über sein Schweigerecht belehrt wurde und dieser Verstoß auch nicht geheilt wurde, liegt ein Beweisverwertungsverbot vor.

Ja, in der Tat!

Die Frage, ob ein Verfahrensverstoß ein (unselbstständiges) Beweisverwertungsverbot begründet, ist anhand einer Einzelfallabwägung festzustellen. Das Schweigerecht des Angeklagten (§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 4 StPO) gehört zu den grundlegenden rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrens. Wird ein Beschuldigter hierüber nicht aufgeklärt, dürfen Aussagen, die der Beschuldigte in der Vernehmung gemacht hat, regelmäßig nicht verwertet werden. Die Belehrung über sein Schweigerecht versetzt A erst in die Lage, sich effektiv zu verteidigen. Als Ersttäter muss man auch nicht davon ausgehen, dass A seine Rechte ohnehin kennt. Wegen der relativ geringen Gefährlichkeit der nächtlichen Trunkenheitsfahrt übers Feld kann das Strafverfolgungsinteresse den schweren Verfahrensverstoß auch nicht unbeachtlich machen.

3. Stellt die Vernehmung des P durch das Gericht damit einen Verstoß gegen § 136 Abs. 1 StPO dar?

Nein!

Der Verstoß gegen § 136 Abs. 1 StPO wurde durch P begangen, der A in der polizeilichen Vernehmung hätte belehren müssen (§ 163a Abs. 4 StPO). Verwertet das Gericht eine Aussage, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegt, verstößt es selbst dagegen gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Dieser ermächtigt das Gericht nur zur Verwertung von Beweisen, die ordnungsgemäß erlangt wurden. In der Klausur musst Du immer darauf achten, dass Du Verfahrensverstöße an die richtige Norm anknüpfst. Liegt ein nicht normiertes Beweisverwertungsverbot vor, verstößt die Verwertung immer gegen § 261 StPO, nicht gegen die ursprünglich verletzte Norm.

4. A hat der Beweisverwertung in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht widersprochen. Ist nach dem BGH der Verstoß gegen § 261 StPO damit geheilt?

Genau, so ist das!

Wurde der Angeklagte nicht über sein Schweigerecht belehrt (§ 136 Abs. 1 StPO), wendet der BGH die Widerspruchslösung an. Ein Verwertungsverbot ist danach ausgeschlossen, wenn: (1) ein Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung mitwirkt und (2) der Angeklagte bzw. sein Verteidiger einer Verwertung der Aussage nicht bis zum Zeitpunkt des § 257 Abs. 2 StPO widersprechen. Der Widerspruch sei (1) Ausdruck der Dispositionsbefugnis des Angeklagten. Er könne selbst entscheiden, ob er der Verwertung entgegentrete oder sie zulassen will. Tut er dies in der Hauptverhandlung nicht, bringe er seinen Verzicht auf die Einhaltung der Norm zum Ausdruck. Zudem stützt der BGH sich wie bei § 238 Abs. 2 StPO auf (2) den Subsidiaritätsgedanken und (3) die Prozessökonomie. Für welche Verfahrensverstöße die Widerspruchslösung gilt, ist noch nicht abschließend geklärt. Hier hilft Dir die Kommentierung zu den einzelnen Verfahrensnormen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JURA

juravulpes

26.3.2024, 20:40:05

Wird durch den unterbliebenen Widerspruch wirklich ein Verstoß gegen §

261 StPO

geheilt? Ist es nicht vielmehr so, dass aufgrund des unterbliebenen Widerspruchs im erstinstanzlichen Verfahren kein Beweisverwertungsverbot bestand und es daher schon gar nicht zu einem Verstoß gegen §

261 StPO

kommen konnte?

JURA

juravulpes

29.3.2024, 12:20:36

siehe dazu BGH, NStZ 1992, 294

AR

Artimes

10.5.2024, 00:57:16

„Für welche Verfahrensverstöße die Widerspruchslösung gilt, ist noch nicht abschließend geklärt.“ —> Wie soll man damit in der Klausur umgehen? Kann man die Widerspruchslösung einfach bei jedem Verfahrensverstoß ansprechen oder wäre das falsch?

JURAFU

jurafuchsles

27.8.2024, 13:02:16

Normalerweise kann man bei dem einzelnen Normen ( bspw. Bei § 136 StPO) am Ende im Kommentar schauen, was dieser zum Widerspruch sagt.

AR

Artimes

27.8.2024, 13:10:07

Und wie ist die optimale Strategie im 1. Examen? Stumpf auswendig lernen oder kann man mit bestimmten Kriterien/Grundsätzen arbeiten?


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura

7 Tage kostenlos* ausprobieren

* nach Ablauf 7-tägige Probeabos: ab 7,99 € Monat; weitere Infos