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Entscheidungen von 2020

Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen ("Kohleausstiegsgesetz") (BVerfG, 18.08.2020 - 1 BvQ 82/20)

Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen ("Kohleausstiegsgesetz") (BVerfG, 18.08.2020 - 1 BvQ 82/20)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die G-GmbH und die V-GmbH erheben Verfassungsbeschwerden gegen das Kohleaustiegsgesetz. Gesellschafter der G-GmbH sind überwiegend kommunale Gebietskörperschaften, welche insgesamt 85,9 % der Anteile halten. Gesellschafter der V-GmbH ist der schwedische Staat.

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Einordnung des Falls

Grundrechtsfähigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen ("Kohleausstiegsgesetz") (BVerfG, 18.08.2020 - 1 BvQ 82/20)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine juristische Person kann nie Trägerin von Grundrechten sein.

Nein!

Gemäß Art. 19 Abs. 3 GG sind (inländische) juristische Personen grundrechtsfähig, sofern das geltend gemachte Grundrecht seinem Wesen nach auf die juristische Person anwendbar ist. Daher scheidet eine Erstreckung derjenigen Grundrechte auf juristische Personen aus, deren Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind. BVerfG: Nur wenn die Betätigung einer juristischen Person Ausdruck der freien Entfaltung der privaten, natürlichen Personen sei, sei es gerechtfertigt, juristische Personen als Grundrechtsinhaber anzusehen (RdNr. 9). Ausgeschlossen ist daher etwa, dass juristische Personen sich auf die Menschenwürde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen.
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2. Eine juristische Person des öffentlichen Rechts kann sich ebenfalls auf die Grundrechte berufen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind der staatlichen Sphäre zugeordnet. Daher können sie grundsätzlich gerade nicht Grundrechtsberechtigte sein, weil sie gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsverpflichtet sind (Konfusionsargument). BVerfG: Die juristischen Personen des öffentlichen Rechts stünden dem Staat bei Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht in der gleichen grundrechtstypischen Gefährdungslage gegenüber wie der einzelne Grundrechtsträger (RdNr. 9).

3. In bestimmten Ausnahmefällen können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts auf bestimmte Grundrechte berufen.

Ja, in der Tat!

Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind ausnahmsweise Grundrechtsträger, wenn sie unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten „Lebensbereich“ zuzuordnen sind. In diesem Bereich sind sie gegenüber der öffentlichen Gewalt unabhängig und befinden sich insoweit – ähnlich anderen Grundrechtsträgern – in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Danach anerkannte Ausnahmen sind Rundfunkanstalten, Universitäten und deren Fakultäten oder Kirchen und sonstige öffentlich-rechtliche Weltanschauungsgemeinschaften (RdNr. 9). Allerdings sind die so betroffenen und damit grundrechtsfähigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur partiell grundrechtsfähig. Sie können sich nur auf das jeweilige Spezialgrundrecht berufen.

4. Eine juristische Person des Privatrechts kann sich stets auf Grundrechte berufen.

Nein!

Bei juristischen Personen des Privatrechts, die ganz vom Staat beherrscht werden, fehlt es an einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Dies gilt auch bei einer überwiegenden staatlichen Beherrschung, also für sogenannte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, sofern der Staat mehr als 50% der Anteile an diesen juristischen Personen des Privatrechts hält (RdNr. 10). In solchen Konstellationen können sich die juristischen Personen des Privatrechts nicht auf die Grundrechte berufen. Ansonsten wäre die Frage der Grundrechtsfähigkeit der öffentlichen Hand von der jeweiligen Organisationsform abhängig; die öffentliche Hand könnte sich ihrer Grundrechtsverpflichtung (Art. 1 Abs. 3 GG) durch die „Flucht ins Privatrecht“ entledigen.

5. Die G-GmbH kann sich im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde auf die Grundrechte des GG berufen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Juristische Personen des Privatrechts, die ganz oder überwiegend vom Staat beherrscht werden, können sich nicht auf die Grundrechte des GG berufen. Sie sind vielmehr grundrechtsverpflichtet (Art. 1 Abs. 3 GG). An der G-GmbH sind kommunale Gebietskörperschaften zu 85,9% beteiligt. BVerfG: „Ihr stehen materielle Grundrechte nicht zu, weil sie ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen ist, an dem die öffentliche Hand mittelbar weit mehr als 50 % der Anteile hält“ (RdNr. 6 und 12). Die G-GmbH „ist auch keine juristische Person des öffentlichen Rechts, die unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet wäre“ (RdNr. 13 und 30).

6. Gelten diese Grundsätze ebenso für inländische juristische Personen des Privatrechts, die – wie die V-GmbH – von einem ausländischen Staat beherrscht werden?

Nein, das trifft nicht zu!

Zum einen greift das Konfusionsargument nicht, weil der fremde Staat von vornherein nicht verpflichtet ist, die Grundrechte der Menschen in Deutschland zu garantieren. Werden dem von einem ausländischen Staat beherrschten Unternehmen Grundrechte gewährt, schwächt das nicht den Schutz der Bürger, weil der ausländische Staat von vornherein nicht an die Grundrechte gebunden war. Zum anderen verfügt das Unternehmen wie andere private Markteilnehmer auch nicht über innerstaatliche Machtbefugnisse. Rein privaten Marktteilnehmern steht aber die Verfassungsbeschwerde offen. Drittens ist zu beachten: Würde man dem von einem ausländischen Staat beherrschten Unternehmen den Grundrechtsschutz versagen, wäre es im Gegensatz zu allen anderen Marktteilnehmern gegenüber staatlichen Eingriffen rechtsschutzlos.

7. Kann die V-GmbH als inländische juristische Personen des Privatrechts, die von einem ausländischen Staat beherrscht wird, eine Verfassungsbeschwerde erheben?

Ja!

In Fällen ausländischer staatlicher Rechtsträgerschaft ist eine offene Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG vorzunehmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten der betroffenen Unternehmen. Mit Blick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten können dadurch zudem Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung vermieden werden (Europafreundlichkeit des Grundgesetzes). Folglich können inländische juristische Personen des Privatrechts, die von einem ausländischen Staat gehalten werden, eine Verfassungsbeschwerde erheben und sich darin auf die Grundrechte des GG berufen.

8. Die G GmbH beruft sich zur Begründung ihrer Grundrechtsfähigkeit auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Sind die Unionsgrundrechte neben den Grundrechten des GG stets unmittelbarer Prüfungsmaßstab des BVerfG?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte der GRCh beschränkt sich auf die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Unmittelbarer Prüfungsmaßstab innerstaatlicher Gerichte sind die Unionsgrundrechte der GRCh nur, wenn der maßgebliche Rechtsrahmen vollständig unionsrechtlich determiniert ist (BVerfG, Recht auf Vergessen II ). Sind die innerstaatlichen Vorschriften nicht vollständig durch Unionsrecht determiniert, sind die Grundrechte des GG Prüfungsmaßstab. Bewegt sich ein Fall im weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts und sind die maßgeblichen innerstaatlichen Vorschriften als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh anzusehen, aber ist der Rechtsbereich nicht vollständig unionsrechtlich determiniert, treten Unionsgrundrechte dann zu den Grundrechte hinzu, ohne aber deren Bindungskraft in Frage zu stellen (BVerfG, Recht auf Vergessen I ) (RdNr. 17ff.).

9. Im Unionsrecht finden sich klimaschutzrechtliche Maßgaben, aber eine bestimmte Kohlepolitik ist nicht vorgegeben. Setzt das Kohleausstiegsgesetz das Unionsrecht dergestalt um, dass die GRCh hier Anwendung findet?

Nein, das trifft nicht zu!

Die GRCh ist anwendbar, wenn die Durchführung von Unionsrecht in Frage steht (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Verbleiben bei der mitgliedsstaatlichen Umsetzung Spielräume, ist das nur der Fall, wenn das Unionsrecht den Mitgliedsstaaten einen hinreichend gehaltvollen Rahmen setzt, der unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll (RdNr. 21). Das Unionsrecht regelt zwar das quantitative Klimaschutzziel, trifft aber keine näheren Bestimmungen zum Ob und Wie eines Kohleausstiegs. Eine bestimmte Kohlepolitik ist dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber gerade nicht vorgegeben (RdNr. 22). Angesichts dieses weiten Spielraums setzt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten keinen hinreichend gehaltvollen Rahmen, der unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll. Somit findet die GRCh hier keine Anwendung. Die Verfassungsbeschwerde der G GmbH ist daher mangels Grundrechtsfähigkeit von vornherein unzulässig. Selbst wenn die GRCh hier anwendbar wäre, folgte aus der GRCh keine Grundrechtsberechtigung staatlich beherrschter juristischer Personen des Privatrechts. Staatliche Unternehmen sind eine Erscheinungsform der Staatsgewalt; hinter ihr stehen keine Menschen, deren Schutz die Grundrechte bezwecken. Insofern unterscheide sich die Funktion von Grundrechten von der Funktion der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV), die das Unionsrecht auch staatlichen Unternehmen zuerkennt (RdNr. 27ff.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DerChristoph

DerChristoph

2.8.2024, 10:56:33

Die dogmatische Herleitung, nach der ausländische juristische Personen in staatlicher Hand grundrechtsfähig sind,

inländische juristische Personen

in staatlicher Hand aber nicht, verstehe ich. Wie ist aber mit dem Ergebnis umzugehen, nach dem inländische Unternehmen schlechter gestellt wären, als ausländische? Auf welcher Ebene erfolgt eine Korrektur?

LELEE

Leo Lee

4.8.2024, 14:21:03

Hallo DerChristoph, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In der Tat wird auch deine Frage nicht gerade spezifisch eingegangen. Allerdings könnte man sich folgende rechtspolitische Überlegung anstellen: Es stimmt zwar, dass i.E. inländische staatliche Unternehmen schlechter gestellt werden ggü. ausländischen. Allerdings haben die ausländischen staatlichen Unternehmen andersrum auch nicht die gleichen Befugnisse bzw. Unterstützung durch den Staat, da Vattenfall etwa ein ganz normales „privates“ Unternehmen ist :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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