Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Wahlen und Wahlrechtsgrundsätze

„Familienwahlrecht“ (Abschlussfall Wahlrechtsgrundsätze)

„Familienwahlrecht“ (Abschlussfall Wahlrechtsgrundsätze)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Um die Bedürfnisse junger Menschen politisch stärker zu berücksichtigen, diskutiert der Bundestag über die Einführung eines „Familienwahlrechts“. Danach soll jeder von Geburt an aktiv wahlberechtigt sein. Die Sorgeberechtigten sollen das Wahlrecht bis zur Volljährigkeit für sie ausüben, wobei sie ohne und gegen den Willen des Minderjährigen entscheiden können.

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Einordnung des Falls

„Familienwahlrecht“ (Abschlussfall Wahlrechtsgrundsätze)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine einfachgesetzliche Einführung des aktiven Wahlrecht von Geburt an würde zunächst gegen Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG verstoßen.

Ja!

Das in Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG verankerte Mindeswahlalter ist eine verfassungsrechtliche Einschränkung der grundsätzlich weiten Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Nach Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG ist aktiv wahlberechtigt nur, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Das Mindestwahlalter kann daher nur durch Änderung der Verfassung abgesenkt werden. Auch der Umstand, dass das Wahlrecht „treuhänderisch“ durch die Sorgerechtsberechtigten für die Minderjährigen ausgeübt werden soll, ändert nichts daran, dass es sich um das persönliche Wahlrecht des Minderjährigen handelt. Damit ist die geplante Regelung mit einer Absenkung des Mindestwahlalter verbunden. Sie bedürfte einer Verfassungsänderung. In diesem Sachverhalt musst Du zwei Regelungen prüfen: (1) Die Einführung des aktiven Wahlrechts von Geburt an und (2) die „Verwaltung“ des Rechts durch die Sorgeberechtigten. Mache immer in Deinen Obersätzen deutlich, was genau Du gerade prüfst!
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2. Dass die Sorgerechtsberechtigten das Wahlrecht für den Minderjährigen ausüben sollen, ist unproblematisch mit der Verfassung vereinbar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die „treuhänderische“ Verwaltung des aktiven Wahlrechts durch die Sorgeberechtigten stößt auf mehrere verfassungsrechtliche Bedenken. Es kommen Verstöße gegen die folgenden Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in Betracht: (1)Unmittelbarkeit der Wahl, (2) Freiheit der Wahl, (3)Gleichheit der Wahl und (4)Geheimheit der Wahl. Du solltest Dir - zumindest gedanklich - zunächst einen Überblick verschaffen, was Du alles zu prüfen hast. Wenn Du die Zeit dazu hast, kannst Du dies auch in der Klausur in einem allgemeinen Obersatz voranstellen, bevor Du auf die einzelnen Prüfungspunkte eingehst.

3. Die Unmittelbarkeit der Wahl verbietet ein „Dazwischentreten“ Dritter bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts. Ist dieser Grundsatz durch die „treuhänderische“ Ausübung des Wahlrechts beeinträchtigt?

Ja, in der Tat!

Die Unmittelbarkeit der Wahl verbietet es, dass zwischen den Willen des Wählers und der Zusammensetzung des Parlaments die Willensentscheidung einer weiteren Person tritt. Durch diesen Grundsatz wird das Wahlrecht zu einem höchstpersönlichen Recht, welches grundsätzlich nur durch den Wahlberechtigten selbst ausgeübt werden kann. Die „treuhändische“ Ausübung des Wahlrechts durch die Sorgeberechtigten des Minderjährigen ist letztlich eine Stellvertretung. Diese beeinträchtigt den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.

4. Die Beeinträchtigung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl kann durch jeden einfachen Grund gerechtfertigt sein.

Nein!

Eine Beeinträchtigung der Wahlrechtsgrundsätze kann grundsätzlich gerechtfertigt sein. Allerdings ist dies nach st. Rspr. des BVerfG nur aufgrund besonders wichtiger, sachlicher, „zwingender“ Gründe möglich. Diese können sich nur aus der Verfassung selbst ergeben. Wahlrechtsgrundsätze können z.B. zu Gunsten anderer Wahlrechtsgrundsätze eingeschränkt werden. Als Rechtfertigungsgrund kommt die Förderung der Allgemeinheit der Wahl in Betracht. Denn nach diesem Grundsatz sollen alle Staatsbürger in formal gleicher Weise wählen können. Allerdings ist die Allgemeinheit der Wahl bezüglich des Wahlalters gerade in Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG konkretisiert. Die systematische Auslegung ergibt, dass der Aspekt des Mindestwahlalter abschließend in Art. 38 Abs. 2 GG geregelt ist. Diese spezielle Verfassungsentscheidung verbietet einen Rückgriff auf den (weiteren) Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Die Beeinträchtigung der Unmittelbarkeit der Wahl ist nicht gerechtfertigt. Man könnte dies auch anders sehen, wenn im Gesetzgebungsverfahren zugleich eine Änderung von Art. 38 Abs. 2 GG – also eine Verfassungsänderung – mit vorgesehen wäre. Dann fiele das systematische Argument weg.

5. Dass die Sorgeberechtigten das Wahlrecht des Minderjährigen ohne dessen Willen ausüben können, verstößt zudem gegen die Freiheit der Wahl.

Genau, so ist das!

Der Grundsatz der Freiheit der Wahl schützt die Freiheit des Wahlberechtigten vor nötigender Einwirkung auf den Wählerwillen durch Private und den Staat sowie - nach h.M. - gegen einen Zwang zur Stimmabgabe. Die Vertreter können hier sowohl über das „ob“ als auch über das „wie“ der Stimmabgabe des Minderjährigen entscheiden, sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Wahlrechtsinhabers. Hierin liegt eine intensive Beeinträchtigung der Freiheit der Wahl. Da, wie dargelegt, die Allgemeinheit der Wahl durch die geplante Maßnahme nicht gefördert wird, liegt auch hier kein ausreichender Rechtfertigungsgrund vor. Nochmal zur Erinnerung: Achte immer darauf, dass Du in Deinen Obersätzen genau aufzeigst, was Du prüfst. Bezüglich der Unmittelbarkeit der Wahl war der Aspekt relevant, dass überhaupt ein Stellvertreter eingeschaltet wird. Bei der Freiheit der Wahl kam es auf die konkreten Befugnisse der Stellvertreter an. Du aber auf frühere Ausführungen verweisen, wenn diese - wie hier im Rahmen der Rechtfertigung - gleichermaßen zutreffen.

6. Weiterhin kommt ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl in Betracht. Dafür müsste das „Familienwahlrecht“ den Zähl- oder Erfolgswert der abgegebenen Stimme beeinträchtigen.

Ja, in der Tat!

Die Gleichheit der Wahl wird unterteilt in Stimm- bzw. Zählwertgleichheit und Erfolgswertgleichheit. Diese sind streng formal zu handhaben. Im Sinne der Zählwertgleichheit müssen Wählende die gleiche Anzahl der Stimme haben. Die Erfolgswertgleichheit besagt, dass jede Stimme sich gleichermaßen auf die Zusammensetzung des Parlaments auswirken muss. Bei der „Vertretung“ haben der Vertretene und die Vertretungsperson weiterhin nur eine (selbstständige) Stimme. Die Vertretung gibt gerade nicht zwei eigene Stimmen ab. Die Zählwertgleichheit ist nicht beeinträchtigt. Dass die Vertretung faktisch einen stärkeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments hat, weil sie über den Inhalt der Stimme des Minderjährigen entscheiden kann, wirkt zwar auf den ersten Blick wie eine Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit. Allerdings wird damit die Grenze einer formalen Bewertung überschritten: Formal hat jede Stimme weiterhin denselben Einfluss auf das Parlament. Dass die Stimme nur vom Wahlberechtigten selbst ausgeübt werden soll, ist bereits mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl geschützt. Eine Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl liegt nicht vor.

7. Schließlich könnte die Geheimheit der Wahl verletzt sein. Diese schützt jedoch nur die Preisgabe der Wahlentscheidung gegenüber dem Staat.

Nein!

Der Grundsatz der Geheimheit der Wahl schützt das Geheimnis der Wahlentscheidung sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber privaten Dritten. Solange die Stimmabgabe durch die Vertretung nicht dem Minderjährigen zuzuordnen ist, ist die Geheimheit der Wahl gegenüber dem Staat unproblematisch gewahrt. Gegenüber der Vertretungsperson ist dies bei streng formaler Betrachtung nicht der Fall. Teleologisch könnte man aber daran denken, denn Begriff des „Dritten“ hier nicht auf die Vertretungsperson anzuwenden: Wenn keine bindende Willensbildung des Vertretenen, sondern nur eine eigene des Vertreters vorliegt, kann der Vertreter insoweit nicht „Dritter” sein und braucht nicht vor sich selbst geschützt zu werden. Vorzugswürdig erscheint jedoch erneut, bei der streng formalen Handhabung des Wahlrechtsgrundsatzes zu bleiben, um die Aufweichung der Grundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu verhindern. Die Geheimheit der Wahl ist damit beeinträchtigt. Auch hier ist keine Rechtfertigung ersichtlich.

8. Das geplante gesetzliche Vorhaben ist insgesamt mit der Verfassung vereinbar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Einfache Gesetze müssen verfassungsgemäß sein (Stichwort: Normenhierarchie). Das Vorhaben verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen die in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normierten Wahlrechtsgrundsätze - und zwar gegen die Unmittelbarkeit, die Freiheit und die Geheimheit der Wahl. Zudem verstößt es gegen das in Art. 38 Abs. 2 S. 1 GG enthaltene Mindestwahlalter. Ein entsprechendes Gesetz wäre verfassungswidrig.
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