Öffentliches Recht
VwGO
Widerspruchsverfahren
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Behörde B untersagt Prinzessin P die Nutzung ihres illegal errichteten Gartenhauses. Ps Widerspruch gegen die Nutzungsuntersagung weist die Widerspruchsbehörde W zurück. Gleichzeitig erlässt sie eine Abrissverfügung bezüglich des Gartenhauses.
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Einordnung des Falls
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. W hat im Widerspruchsverfahren eine neue Belastung gegenüber der P erlassen. Nach der h.M. ist das grundsätzlich möglich.
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Abrissverfügung bewegt sich bei wertender Betrachtung noch im Rahmen des ursprünglichen Verwaltungsverfahrens.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Die Abrissverfügung kann nur rechtmäßig sein, wenn W für den Erlass der Verfügung zuständig war.
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Mathis
11.10.2024, 21:15:51
Wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird, müsste es dann nicht "quantitative Mehrbelastung" heißen?
Wendelin Neubert
23.10.2024, 13:17:29
Hallo @[Mathis](208543), danke für Deine Frage. Man spricht bei einer „echten“
Reformatio in peiusvon einer „qualitativen Mehrbelastung“, weil lediglich die Intensität (also die Qualität) der bestehenden Belastung verstärkt wird. Deshalb hat sich der Begriff „qualitative Mehrbelastung“ für die Beschreibung der
Reformatio in peiusin der Rechtswissenschaft eingebürgert. Eine „quantitative Mehrbelastung“ – um Deine Formulierung aufzugreifen – würde bedeuten, dass die Widerspruchs
behördeneben der bestehenden Belastung weitere eigenständige Belastungen erlässt (also die Quantität der Belastung verstärkt). Dadurch würde eine eigenständige Neubelastung geschaffen, die keine „echte“
Reformatio in peiusmehr darstellt. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Mathis
23.10.2024, 15:38:19
Hallo @[Wendelin Neubert](409), vielen Dank für die Antwort! Mir scheint allerdings, als würden die Begriffe "quantitativ" und "qualitativ" in der Literatur genau andersherum verwendet, als von Dir dargestellt: "Hinsichtlich der vorzunehmenden Abgrenzung wird begrifflich vielfach zwischen quantitativer und qualitativer Verböserung unterschieden. Quantitative Vertiefungen einer angegriffenen Belastung werden als
reformatio in peiusbehandelt, während die qualitative Erweiterung des Ausgangsbescheids als eine solche Beschwer angesehen wird, die auf eine unabhängig vom Widerspruch bestehende Kompetenz der Widerspruchs
behördegestützt werden muss." (Kluckert, JuS 2017, 610, 616) "Eine qualitative (im Gegensatz zu einer bloß quantitativen) Änderung soll aber nicht mehr als eine „verbösernde Abänderung“ des Ausgangsbescheids im Sinne einer
reformatio in peiusgesehen werden, sondern stellt den Erlass eines neuen VA dar." (Schaks/Friedrich, JuS 2018, 954, 956) "Bei der quantitativen
reformatio in peiuswird die im Ausgangsbescheid auferlegte Belastung erhöht, ohne jedoch etwas qualitativ Neues darzustellen, während bei der qualitativen
reformatio in peiusdie Widerspruchs
behörde- gleichsam bei Gelegenheit - dem Ausgangsbescheid eine selbständige Belastung hinzufügt." (Piontek, JuS 2000, 1244)
fuchs_
27.10.2024, 12:02:09
Danke für die Quellen @[Mathis](208543), ich hätte es tatsächlich auch umgekehrt gedacht, also wie @[Wendelin Neubert](409) geschrieben hat. Das kommt mir viel logischer vor.
Mathis
27.10.2024, 20:55:17
Die in der Literatur verwendeten Begriffe entsprechen m.E. besser dem allgemeinen Sprachgebrauch: Bei dem typischen Beispiel einer r.i.p., dass ein ursprünglich etwa auf 100,- EUR festgesetzter Gebührenbescheid im Widerspruchsverfahren auf 200,- EUR erhöht wird, handelt es sich doch um eine im Wortsinn "quantitative" Mehrbelastung. Die Gebühr wird der Höhe nach verschärft, es handelt sich aber noch um denselben Streitgegenstand. Wird dagegen z.B. eine bauordnungsrechtliche
Nutzungsuntersagungim Widerspruchsverfahren in eine Abrissverfügung geändert, handelt es sich dabei um etwas "qualitativ" anderes, weil der Streitgegenstand des ursprünglichen VA verlassen wird.
fuchs_
27.10.2024, 21:03:06
Hmm okay, das ergibt auch Sinn. Ich finde, man kann es sich auf beide Weisen so drehen, dass die Begriffe passen. Nur muss ich mir dann deine Erklärung (bzw die der wohl herrschenden Meinung) merken!
Maik
31.10.2024, 18:07:38
Rückfrage: Wenn ein Fall der qualitativen Verböserung vorliegt (also die W-
Behördeerlässt einen Widerspruchsbescheid, welcher einen anderen Gegenstand betrifft, als der Ausgangsbescheid), wird dies teilweise wohl als unechte
Reformatio in Peiusbezeichnet. Normalerweise besteht dann ja ein Kompetenzproblem der Widerspruchs
behörde(Selbsteintritt), aber in Berlin spielt das keine Rolle, weil Ausgangs- und Widerspruchs
behördeidentisch sind. Wenn man nun sowohl gegen den Ausgangs- als auch gegen den Widerspruchsbescheid vorgehen will: - braucht man dann für die qualitativ neue Verböserung im Widerspruchsbescheid ein Vorverfahren oder kann man auch dann sagen, dass es wegen § 69 Abs. 1 Nr. 2 entbehrlich ist ? - klagt man dann einheitlich (79 I Nr. 1) weil die qualitative Verböserung auch in der Formulierung „Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids“ enthalten ist oder klagt man zweimal: 1. gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des WB für die ursprüngliche Beschwer (79 I Nr.1) und 2. gegen die zusätzliche Beschwer im Widerspruchsbescheid § 79 I Nr.2? Danke für die Antwort :)