Öffentliches Recht
VwGO
Widerspruchsverfahren
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
29. März 2025
13 Kommentare
4,7 ★ (3.857 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Behörde B untersagt Prinzessin P die Nutzung ihres illegal errichteten Gartenhauses. Ps Widerspruch gegen die Nutzungsuntersagung weist die Widerspruchsbehörde W zurück. Gleichzeitig erlässt sie eine Abrissverfügung bezüglich des Gartenhauses.
Diesen Fall lösen 82,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. W hat im Widerspruchsverfahren eine neue Belastung gegenüber der P erlassen. Nach der h.M. ist das grundsätzlich möglich.
Ja!
2. Die Abrissverfügung bewegt sich bei wertender Betrachtung noch im Rahmen des ursprünglichen Verwaltungsverfahrens.
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Die Abrissverfügung kann nur rechtmäßig sein, wenn W für den Erlass der Verfügung zuständig war.
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Mathis
11.10.2024, 21:15:51
Wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird, müsste es dann nicht "quantitative Mehrbelastung" heißen?

Wendelin Neubert
23.10.2024, 13:17:29
Hallo @[Mathis](208543), danke für Deine Frage. Man spricht bei einer „echten“
Reformatio in peiusvon einer „qualitativen Mehrbelastung“, weil lediglich die Intensität (also die Qualität) der bestehenden Belastung verstärkt wird. Deshalb hat sich der Begriff „qualitative Mehrbelastung“ für die Beschreibung der
Reformatio in peiusin der Rechtswissenschaft eingebürgert. Eine „quantitative Mehrbelastung“ – um Deine Formulierung aufzugreifen – würde bedeuten, dass die Widerspruchs
behördeneben der bestehenden Belastung weitere eigenständige Belastungen erlässt (also die Quantität der Belastung verstärkt). Dadurch würde eine eigenständige Neubelastung geschaffen, die keine „echte“
Reformatio in peiusmehr darstellt. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Mathis
23.10.2024, 15:38:19
Hallo @[Wendelin Neubert](409), vielen Dank für die Antwort! Mir scheint allerdings, als würden die Begriffe "quantitativ" und "qualitativ" in der Literatur genau andersherum verwendet, als von Dir dargestellt: "Hinsichtlich der vorzunehmenden Abgrenzung wird begrifflich vielfach zwischen quantitativer und qualitativer Verböserung unterschieden. Quantitative Vertiefungen einer angegriffenen Belastung werden als
reformatio in peiusbehandelt, während die qualitative Erweiterung des Ausgangsbescheids als eine solche
Beschwerangesehen wird, die auf eine unabhängig vom Widerspruch bestehende Kompetenz der Widerspruchs
behördegestützt werden muss." (Kluckert, JuS 2017, 610, 616) "Eine qualitative (im Gegensatz zu einer bloß quantitativen) Änderung soll aber nicht mehr als eine „verbösernde Abänderung“ des Ausgangsbescheids im Sinne einer
reformatio in peiusgesehen werden, sondern stellt den Erlass eines neuen VA dar." (Schaks/Friedrich, JuS 2018, 954, 956) "Bei der quantitativen
reformatio in peiuswird die im Ausgangsbescheid auferlegte Belastung erhöht, ohne jedoch etwas qualitativ Neues darzustellen, während bei der qualitativen
reformatio in peiusdie Widerspruchs
behörde- gleichsam bei Gelegenheit - dem Ausgangsbescheid eine selbständige Belastung hinzufügt." (Piontek, JuS 2000, 1244)

fuchs_
27.10.2024, 12:02:09
Danke für die Quellen @[Mathis](208543), ich hätte es tatsächlich auch umgekehrt gedacht, also wie @[Wendelin Neubert](409) geschrieben hat. Das kommt mir viel logischer vor.

Mathis
27.10.2024, 20:55:17
Die in der Literatur verwendeten Begriffe entsprechen m.E. besser dem allgemeinen Sprachgebrauch: Bei dem typischen Beispiel einer r.i.p., dass ein ursprünglich etwa auf 100,- EUR festgesetzter Gebührenbescheid im Widerspruchsverfahren auf 200,- EUR erhöht wird, handelt es sich doch um eine im Wortsinn "quantitative" Mehrbelastung. Die Gebühr wird der Höhe nach verschärft, es handelt sich aber noch um denselben Streitgegenstand. Wird dagegen z.B. eine bauordnungsrechtliche
Nutzungsuntersagungim Widerspruchsverfahren in eine Abrissverfügung geändert, handelt es sich dabei um etwas "qualitativ" anderes, weil der Streitgegenstand des ursprünglichen VA verlassen wird.

fuchs_
27.10.2024, 21:03:06
Hmm okay, das ergibt auch Sinn. Ich finde, man kann es sich auf beide Weisen so drehen, dass die Begriffe passen. Nur muss ich mir dann deine Erklärung (bzw die der wohl herrschenden Meinung) merken!

Sebastian Schmitt
13.5.2025, 11:05:54
Hallo @[Mathis](208543), vielen Dank für Deine Hinweise. Wir haben die Aufgabe jetzt zunächst mal hinsichtlich dieser Hinweise korrigiert, weil mir das nach den von Dir zitierten Fundstellen den üblichen Sprachgebrauch abzubilden scheint. Wie auch @[fuchs_](240965) halte ich diese Differenzierung allerdings sprachlich nicht unbedingt für zwingend und man könnte es wohl auch genau anders herum verstehen. Inhaltlich entscheidend für die Abgrenzung ist ohnehin nicht die Subsumtion unter das Begriffspaar qualitativ/quantitativ, sondern die Antwort auf die Frage, ob wir noch einen hinreichenden Zusammenhang mit dem ursprünglichen "Verfahrensgegenstand" haben. Und das kann eben in manchen Fällen nicht ganz leicht zu beantworten sein. Angenommen, wir haben eine belastende Verfügung ohne sonstige Regelungen, gegen die der Betroffene Widerspruch einlegt. Im Widerspruchsverfahren wird der ursprüngliche VA dem vollen Inhalt nach aufrecht erhalten und zusätzlich eine Frist gesetzt und die Zwangsvollstreckung angedroht - ist das noch derselbe Verfahrensgegenstand (und wäre das eine qualitative oder eine quantitative Verböserung/Mehrbelastung)? Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Maik
31.10.2024, 18:07:38
Rückfrage: Wenn ein Fall der qualitativen Verböserung vorliegt (also die W-
Behördeerlässt einen Widerspruchsbescheid, welcher einen anderen Gegenstand betrifft, als der Ausgangsbescheid), wird dies teilweise wohl als unechte
Reformatio in Peiusbezeichnet. Normalerweise besteht dann ja ein Kompetenzproblem der Widerspruchs
behörde(Selbsteintritt), aber in Berlin spielt das keine Rolle, weil Ausgangs- und Widerspruchs
behördeidentisch sind. Wenn man nun sowohl gegen den Ausgangs- als auch gegen den Widerspruchsbescheid vorgehen will: - braucht man dann für die qualitativ neue Verböserung im Widerspruchsbescheid ein
Vorverfahrenoder kann man auch dann sagen, dass es wegen § 69 Abs. 1 Nr. 2 entbehrlich ist ? - klagt man dann einheitlich (79 I Nr. 1) weil die qualitative Verböserung auch in der Formulierung „Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids“ enthalten ist oder klagt man zweimal: 1. gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des WB für die ursprüngliche
Beschwer(79 I Nr.1) und 2. gegen die zusätzliche
Beschwerim Widerspruchsbescheid § 79 I Nr.2? Danke für die Antwort :)
Jotus
2.2.2025, 11:31:25
Das würde ich auch sehr gerne wissen:) !
fisko
13.3.2025, 17:14:04
push

Nadim Sarfraz
17.5.2025, 17:36:47
Hallo Maik, danke für Deine weiterführenden, anspruchsvollen Gedanken. Für die qualitativ neue Verböserung brauchst Du nicht erneut ein
Vorverfahrendurchführen. Das hat zumindest das OVG Koblenz, BeckRS 1991, 3792 entschieden. In seiner (lesenswerten!) Begründung vergleicht der Senat die Konstellation mit dem Fall einer erstmaligen
Beschwereines Dritten durch den Widerspruchsbescheid, bei dem der Dritte gem. § 68 Abs. 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ebenfalls kein
Vorverfahrendurchführen müsste, sondern direkt Klage erheben kann. In beiden Konstellationen wurde ja bereits ein
Vorverfahren, in dem sich die Widerspruchs
behördeeingehend mit dem Sachverhalt beschäftigt hat, durchgeführt. Auch entspricht es dem
Rechtsschutzinteressedes erstmalig
Beschwerten, ohne nochmalige Durchführung des
Vorverfahrens Klage erheben zu können. Grenzen findet diese Wertung nach dem OVG Koblenz dann, wenn die Verschlechterung auf neuen
Tatsachenbasiert, die dem Ausgangsbescheid noch nicht zu Grunde lagen. Dann hätte der Adressat ein berechtigtes Interesse daran, nochmal gem. § 28 VwVfG zu den neuen, der Verschlechterung zu Grunde liegenden
Tatsachenangehört zu werden. Dieses Interesse darf nicht einfach durch eine Entbehrlichkeit des
Vorverfahrens übergangen werden. Betreffend Deine Frage, wie man den Klagegegenstand in einem solchen Fall bestimmt: Hier gibt es, wie Du zutreffend schreibst, zwei Belastungen, gegen die der Kläger vorgehen möchte. Dogmatisch korrekt wäre es, in einer
Anfechtungsklageschrift sowohl den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids als auch die neu hinzugekommene
Beschwerwörtlich zu benennen. Sofern der Kläger allerdings lediglich "den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids" angreifen sollte, wäre es für das zuständige Gericht angezeigt, nach § 88 VwGO den Antrag dergestalt auszugelegen, dass der Kläger damit auch die neu hinzugekommene
Beschwer(die ja auch im Widerspruchsbescheid enthalten ist) beseitigen möchte; womit zwei Gegenstände gegeben sind. Liebe Grüße, Nadim für das Jurafuchs-Team