Öffentliches Recht

VwGO

Widerspruchsverfahren

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

29. März 2025

13 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

reformatio in peius

Behörde B untersagt Prinzessin P die Nutzung ihres illegal errichteten Gartenhauses. Ps Widerspruch gegen die Nutzungsuntersagung weist die Widerspruchsbehörde W zurück. Gleichzeitig erlässt sie eine Abrissverfügung bezüglich des Gartenhauses.

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Einordnung des Falls

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. W hat im Widerspruchsverfahren eine neue Belastung gegenüber der P erlassen. Nach der h.M. ist das grundsätzlich möglich.

Ja!

Mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, ist es umstritten, ob die Widerspruchsbehörde die Befugnis hat, einen Verwaltungsakt im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zum Nachteil des Widerspruchsführers zu ändern. Die h.M. geht aber – vor allem mit Verweis auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – von der grundsätzlichen Zulässigkeit der Verböserung im Widerspruchsverfahren aus. Nach der h.M. hat W grundsätzlich die Befugnis, mit dem Widerspruchsbescheid (vgl. § 73 Abs. 1 VwGO) eine zusätzliche nachteilige Regelung für den Widerspruchsführer zu treffen.
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2. Die Abrissverfügung bewegt sich bei wertender Betrachtung noch im Rahmen des ursprünglichen Verwaltungsverfahrens.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der h.M. hat die Widerspruchsbehörde grundsätzlich die Kompetenz, eine Verböserung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens vorzunehmen. Inhaltlich darf die Widerspruchsbehörde jedoch nur eine Regelung erlassen, die bei wertender Betrachtung noch im Zusammenhang mit der ursprünglichen Belastung steht. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird (sog. quantitative Verböserung). Die von W erlassene Abrissverfügung ist nicht nur eine „intensivere“ Nutzungsuntersagung, sondern vielmehr ein Aliud zur Nutzungsuntersagung (sog qualitative Verböserung). Es handelt sich um einen völlig neuen Verwaltungsakt. Damit liegt keine „echte“ reformatio in peius, sondern ein sog. Selbsteintritt der W vor.

3. Die Abrissverfügung kann nur rechtmäßig sein, wenn W für den Erlass der Verfügung zuständig war.

Ja, in der Tat!

Erlässt die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren einen völlig neuen Verwaltungsakt, so spricht man von einem „Selbsteintritt“ der Widerspruchsbehörde. Dieser ist grundsätzlich unzulässig: Denn Aufgabe der Widerspruchsbehörde ist es, die Entscheidung der Ausgangsbehörde zu überprüfen und gerade nicht, eigene Entscheidungen in der Sache zu treffen. Dies ist Aufgabe der Ausgangsbehörde. In manchen Fällen hat die Widerspruchsbehörde aber ausnahmsweise ein „Selbsteintrittsrecht“ und ist damit zuständig für den Erlass der Verböserung. Die Abrissverfügung ist nur dann rechtmäßig, wenn W ein Selbsteintrittsrecht zusteht. Zudem müssten auch alle weiteren formellen und materiellen Voraussetzungen für den Erlass der Abrissverfügung gegeben sein. Hierzu später mehr!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Mathis

Mathis

11.10.2024, 21:15:51

Wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird, müsste es dann nicht "quantitative Mehrbelastung" heißen?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

23.10.2024, 13:17:29

Hallo @[Mathis](208543), danke für Deine Frage. Man spricht bei einer „echten“

Reformatio in peius

von einer „qualitativen Mehrbelastung“, weil lediglich die Intensität (also die Qualität) der bestehenden Belastung verstärkt wird. Deshalb hat sich der Begriff „qualitative Mehrbelastung“ für die Beschreibung der

Reformatio in peius

in der Rechtswissenschaft eingebürgert. Eine „quantitative Mehrbelastung“ – um Deine Formulierung aufzugreifen – würde bedeuten, dass die Widerspruchs

behörde

neben der bestehenden Belastung weitere eigenständige Belastungen erlässt (also die Quantität der Belastung verstärkt). Dadurch würde eine eigenständige Neubelastung geschaffen, die keine „echte“

Reformatio in peius

mehr darstellt. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Mathis

Mathis

23.10.2024, 15:38:19

Hallo @[Wendelin Neubert](409), vielen Dank für die Antwort! Mir scheint allerdings, als würden die Begriffe "quantitativ" und "qualitativ" in der Literatur genau andersherum verwendet, als von Dir dargestellt: "Hinsichtlich der vorzunehmenden Abgrenzung wird begrifflich vielfach zwischen quantitativer und qualitativer Verböserung unterschieden. Quantitative Vertiefungen einer angegriffenen Belastung werden als

reformatio in peius

behandelt, während die qualitative Erweiterung des Ausgangsbescheids als eine solche

Beschwer

angesehen wird, die auf eine unabhängig vom Widerspruch bestehende Kompetenz der Widerspruchs

behörde

gestützt werden muss." (Kluckert, JuS 2017, 610, 616) "Eine qualitative (im Gegensatz zu einer bloß quantitativen) Änderung soll aber nicht mehr als eine „verbösernde Abänderung“ des Ausgangsbescheids im Sinne einer

reformatio in peius

gesehen werden, sondern stellt den Erlass eines neuen VA dar." (Schaks/Friedrich, JuS 2018, 954, 956) "Bei der quantitativen

reformatio in peius

wird die im Ausgangsbescheid auferlegte Belastung erhöht, ohne jedoch etwas qualitativ Neues darzustellen, während bei der qualitativen

reformatio in peius

die Widerspruchs

behörde

- gleichsam bei Gelegenheit - dem Ausgangsbescheid eine selbständige Belastung hinzufügt." (Piontek, JuS 2000, 1244)

fuchs_

fuchs_

27.10.2024, 12:02:09

Danke für die Quellen @[Mathis](208543), ich hätte es tatsächlich auch umgekehrt gedacht, also wie @[Wendelin Neubert](409) geschrieben hat. Das kommt mir viel logischer vor.

Mathis

Mathis

27.10.2024, 20:55:17

Die in der Literatur verwendeten Begriffe entsprechen m.E. besser dem allgemeinen Sprachgebrauch: Bei dem typischen Beispiel einer r.i.p., dass ein ursprünglich etwa auf 100,- EUR festgesetzter Gebührenbescheid im Widerspruchsverfahren auf 200,- EUR erhöht wird, handelt es sich doch um eine im Wortsinn "quantitative" Mehrbelastung. Die Gebühr wird der Höhe nach verschärft, es handelt sich aber noch um denselben Streitgegenstand. Wird dagegen z.B. eine bauordnungsrechtliche

Nutzungsuntersagung

im Widerspruchsverfahren in eine Abrissverfügung geändert, handelt es sich dabei um etwas "qualitativ" anderes, weil der Streitgegenstand des ursprünglichen VA verlassen wird.

fuchs_

fuchs_

27.10.2024, 21:03:06

Hmm okay, das ergibt auch Sinn. Ich finde, man kann es sich auf beide Weisen so drehen, dass die Begriffe passen. Nur muss ich mir dann deine Erklärung (bzw die der wohl herrschenden Meinung) merken!

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

13.5.2025, 11:05:54

Hallo @[Mathis](208543), vielen Dank für Deine Hinweise. Wir haben die Aufgabe jetzt zunächst mal hinsichtlich dieser Hinweise korrigiert, weil mir das nach den von Dir zitierten Fundstellen den üblichen Sprachgebrauch abzubilden scheint. Wie auch @[fuchs_](240965) halte ich diese Differenzierung allerdings sprachlich nicht unbedingt für zwingend und man könnte es wohl auch genau anders herum verstehen. Inhaltlich entscheidend für die Abgrenzung ist ohnehin nicht die Subsumtion unter das Begriffspaar qualitativ/quantitativ, sondern die Antwort auf die Frage, ob wir noch einen hinreichenden Zusammenhang mit dem ursprünglichen "Verfahrensgegenstand" haben. Und das kann eben in manchen Fällen nicht ganz leicht zu beantworten sein. Angenommen, wir haben eine belastende Verfügung ohne sonstige Regelungen, gegen die der Betroffene Widerspruch einlegt. Im Widerspruchsverfahren wird der ursprüngliche VA dem vollen Inhalt nach aufrecht erhalten und zusätzlich eine Frist gesetzt und die Zwangsvollstreckung angedroht - ist das noch derselbe Verfahrensgegenstand (und wäre das eine qualitative oder eine quantitative Verböserung/Mehrbelastung)? Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

MAI

Maik

31.10.2024, 18:07:38

Rückfrage: Wenn ein Fall der qualitativen Verböserung vorliegt (also die W-

Behörde

erlässt einen Widerspruchsbescheid, welcher einen anderen Gegenstand betrifft, als der Ausgangsbescheid), wird dies teilweise wohl als unechte

Reformatio in Peius

bezeichnet. Normalerweise besteht dann ja ein Kompetenzproblem der Widerspruchs

behörde

(Selbsteintritt), aber in Berlin spielt das keine Rolle, weil Ausgangs- und Widerspruchs

behörde

identisch sind. Wenn man nun sowohl gegen den Ausgangs- als auch gegen den Widerspruchsbescheid vorgehen will: - braucht man dann für die qualitativ neue Verböserung im Widerspruchsbescheid ein

Vorverfahren

oder kann man auch dann sagen, dass es wegen § 69 Abs. 1 Nr. 2 entbehrlich ist ? - klagt man dann einheitlich (79 I Nr. 1) weil die qualitative Verböserung auch in der Formulierung „Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids“ enthalten ist oder klagt man zweimal: 1. gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des WB für die ursprüngliche

Beschwer

(79 I Nr.1) und 2. gegen die zusätzliche

Beschwer

im Widerspruchsbescheid § 79 I Nr.2? Danke für die Antwort :)

JO

Jotus

2.2.2025, 11:31:25

Das würde ich auch sehr gerne wissen:) !

FI

fisko

13.3.2025, 17:14:04

push

Nadim Sarfraz

Nadim Sarfraz

17.5.2025, 17:36:47

Hallo Maik, danke für Deine weiterführenden, anspruchsvollen Gedanken. Für die qualitativ neue Verböserung brauchst Du nicht erneut ein

Vorverfahren

durchführen. Das hat zumindest das OVG Koblenz, BeckRS 1991, 3792 entschieden. In seiner (lesenswerten!) Begründung vergleicht der Senat die Konstellation mit dem Fall einer erstmaligen

Beschwer

eines Dritten durch den Widerspruchsbescheid, bei dem der Dritte gem. § 68 Abs. 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ebenfalls kein

Vorverfahren

durchführen müsste, sondern direkt Klage erheben kann. In beiden Konstellationen wurde ja bereits ein

Vorverfahren

, in dem sich die Widerspruchs

behörde

eingehend mit dem Sachverhalt beschäftigt hat, durchgeführt. Auch entspricht es dem

Rechtsschutzinteresse

des erstmalig

Beschwer

ten, ohne nochmalige Durchführung des

Vorverfahren

s Klage erheben zu können. Grenzen findet diese Wertung nach dem OVG Koblenz dann, wenn die Verschlechterung auf neuen

Tatsachen

basiert, die dem Ausgangsbescheid noch nicht zu Grunde lagen. Dann hätte der Adressat ein berechtigtes Interesse daran, nochmal gem. § 28 VwVfG zu den neuen, der Verschlechterung zu Grunde liegenden

Tatsachen

angehört zu werden. Dieses Interesse darf nicht einfach durch eine Entbehrlichkeit des

Vorverfahren

s übergangen werden. Betreffend Deine Frage, wie man den Klagegegenstand in einem solchen Fall bestimmt: Hier gibt es, wie Du zutreffend schreibst, zwei Belastungen, gegen die der Kläger vorgehen möchte. Dogmatisch korrekt wäre es, in einer

Anfechtungsklage

schrift sowohl den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids als auch die neu hinzugekommene

Beschwer

wörtlich zu benennen. Sofern der Kläger allerdings lediglich "den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids" angreifen sollte, wäre es für das zuständige Gericht angezeigt, nach § 88 VwGO den Antrag dergestalt auszugelegen, dass der Kläger damit auch die neu hinzugekommene

Beschwer

(die ja auch im Widerspruchsbescheid enthalten ist) beseitigen möchte; womit zwei Gegenstände gegeben sind. Liebe Grüße, Nadim für das Jurafuchs-Team


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