Öffentliches Recht

VwGO

Widerspruchsverfahren

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

23. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Behörde B untersagt Prinzessin P die Nutzung ihres illegal errichteten Gartenhauses. Ps Widerspruch gegen die Nutzungsuntersagung weist die Widerspruchsbehörde W zurück. Gleichzeitig erlässt sie eine Abrissverfügung bezüglich des Gartenhauses.

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Einordnung des Falls

Reformatio in peius oder neue Regelung? (Selbsteintritt der Widerspruchsbehörde)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. W hat im Widerspruchsverfahren eine neue Belastung gegenüber der P erlassen. Nach der h.M. ist das grundsätzlich möglich.

Ja!

Mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, ist es umstritten, ob die Widerspruchsbehörde die Befugnis hat, einen Verwaltungsakt im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zum Nachteil des Widerspruchsführers zu ändern. Die h.M. geht aber – vor allem mit Verweis auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – von der grundsätzlichen Zulässigkeit der Verböserung im Widerspruchsverfahren aus. Nach der h.M. hat W grundsätzlich die Befugnis, mit dem Widerspruchsbescheid (vgl. § 73 Abs. 1 VwGO) eine zusätzliche nachteilige Regelung für den Widerspruchsführer zu treffen.
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2. Die Abrissverfügung bewegt sich bei wertender Betrachtung noch im Rahmen des ursprünglichen Verwaltungsverfahrens.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der h.M. hat die Widerspruchsbehörde grundsätzlich die Kompetenz, eine Verböserung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens vorzunehmen. Inhaltlich darf die Widerspruchsbehörde jedoch nur eine Regelung erlassen, die bei wertender Betrachtung noch im Zusammenhang mit der ursprünglichen Belastung steht. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird (sog. qualitative Mehrbelastung). Die von W erlassene Abrissverfügung ist nicht nur eine „intensivere“ Nutzungsuntersagung, sondern vielmehr ein Aliud zur Nutzungsuntersagung. Es handelt sich um einen völlig neuen Verwaltungsakt. Damit liegt keine „echte“ reformatio in peius, sondern ein sog. Selbsteintritt der W vor.

3. Die Abrissverfügung kann nur rechtmäßig sein, wenn W für den Erlass der Verfügung zuständig war.

Ja, in der Tat!

Erlässt die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren einen völlig neuen Verwaltungsakt, so spricht man von einem „Selbsteintritt“ der Widerspruchsbehörde. Dieser ist grundsätzlich unzulässig: Denn Aufgabe der Widerspruchsbehörde ist es, die Entscheidung der Ausgangsbehörde zu überprüfen und gerade nicht, eigene Entscheidungen in der Sache zu treffen. Dies ist Aufgabe der Ausgangsbehörde. In manchen Fällen hat die Widerspruchsbehörde aber ausnahmsweise ein „Selbsteintrittsrecht“ und ist damit zuständig für den Erlass der Verböserung. Die Abrissverfügung ist nur dann rechtmäßig, wenn W ein Selbsteintrittsrecht zusteht. Zudem müssten auch alle weiteren formellen und materiellen Voraussetzungen für den Erlass der Abrissverfügung gegeben sein. Hierzu später mehr!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Mathis

Mathis

11.10.2024, 21:15:51

Wenn lediglich die Intensität einer bestehenden Belastung verstärkt wird, müsste es dann nicht "quantitative Mehrbelastung" heißen?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

23.10.2024, 13:17:29

Hallo @[Mathis](208543), danke für Deine Frage. Man spricht bei einer „echten“

Reformatio in peius

von einer „qualitativen Mehrbelastung“, weil lediglich die Intensität (also die Qualität) der bestehenden Belastung verstärkt wird. Deshalb hat sich der Begriff „qualitative Mehrbelastung“ für die Beschreibung der

Reformatio in peius

in der Rechtswissenschaft eingebürgert. Eine „quantitative Mehrbelastung“ – um Deine Formulierung aufzugreifen – würde bedeuten, dass die Widerspruchs

behörde

neben der bestehenden Belastung weitere eigenständige Belastungen erlässt (also die Quantität der Belastung verstärkt). Dadurch würde eine eigenständige Neubelastung geschaffen, die keine „echte“

Reformatio in peius

mehr darstellt. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Mathis

Mathis

23.10.2024, 15:38:19

Hallo @[Wendelin Neubert](409), vielen Dank für die Antwort! Mir scheint allerdings, als würden die Begriffe "quantitativ" und "qualitativ" in der Literatur genau andersherum verwendet, als von Dir dargestellt: "Hinsichtlich der vorzunehmenden Abgrenzung wird begrifflich vielfach zwischen quantitativer und qualitativer Verböserung unterschieden. Quantitative Vertiefungen einer angegriffenen Belastung werden als

reformatio in peius

behandelt, während die qualitative Erweiterung des Ausgangsbescheids als eine solche Beschwer angesehen wird, die auf eine unabhängig vom Widerspruch bestehende Kompetenz der Widerspruchs

behörde

gestützt werden muss." (Kluckert, JuS 2017, 610, 616) "Eine qualitative (im Gegensatz zu einer bloß quantitativen) Änderung soll aber nicht mehr als eine „verbösernde Abänderung“ des Ausgangsbescheids im Sinne einer

reformatio in peius

gesehen werden, sondern stellt den Erlass eines neuen VA dar." (Schaks/Friedrich, JuS 2018, 954, 956) "Bei der quantitativen

reformatio in peius

wird die im Ausgangsbescheid auferlegte Belastung erhöht, ohne jedoch etwas qualitativ Neues darzustellen, während bei der qualitativen

reformatio in peius

die Widerspruchs

behörde

- gleichsam bei Gelegenheit - dem Ausgangsbescheid eine selbständige Belastung hinzufügt." (Piontek, JuS 2000, 1244)

fuchs_

fuchs_

27.10.2024, 12:02:09

Danke für die Quellen @[Mathis](208543), ich hätte es tatsächlich auch umgekehrt gedacht, also wie @[Wendelin Neubert](409) geschrieben hat. Das kommt mir viel logischer vor.

Mathis

Mathis

27.10.2024, 20:55:17

Die in der Literatur verwendeten Begriffe entsprechen m.E. besser dem allgemeinen Sprachgebrauch: Bei dem typischen Beispiel einer r.i.p., dass ein ursprünglich etwa auf 100,- EUR festgesetzter Gebührenbescheid im Widerspruchsverfahren auf 200,- EUR erhöht wird, handelt es sich doch um eine im Wortsinn "quantitative" Mehrbelastung. Die Gebühr wird der Höhe nach verschärft, es handelt sich aber noch um denselben Streitgegenstand. Wird dagegen z.B. eine bauordnungsrechtliche

Nutzungsuntersagung

im Widerspruchsverfahren in eine Abrissverfügung geändert, handelt es sich dabei um etwas "qualitativ" anderes, weil der Streitgegenstand des ursprünglichen VA verlassen wird.

fuchs_

fuchs_

27.10.2024, 21:03:06

Hmm okay, das ergibt auch Sinn. Ich finde, man kann es sich auf beide Weisen so drehen, dass die Begriffe passen. Nur muss ich mir dann deine Erklärung (bzw die der wohl herrschenden Meinung) merken!

MAI

Maik

31.10.2024, 18:07:38

Rückfrage: Wenn ein Fall der qualitativen Verböserung vorliegt (also die W-

Behörde

erlässt einen Widerspruchsbescheid, welcher einen anderen Gegenstand betrifft, als der Ausgangsbescheid), wird dies teilweise wohl als unechte

Reformatio in Peius

bezeichnet. Normalerweise besteht dann ja ein Kompetenzproblem der Widerspruchs

behörde

(Selbsteintritt), aber in Berlin spielt das keine Rolle, weil Ausgangs- und Widerspruchs

behörde

identisch sind. Wenn man nun sowohl gegen den Ausgangs- als auch gegen den Widerspruchsbescheid vorgehen will: - braucht man dann für die qualitativ neue Verböserung im Widerspruchsbescheid ein Vorverfahren oder kann man auch dann sagen, dass es wegen § 69 Abs. 1 Nr. 2 entbehrlich ist ? - klagt man dann einheitlich (79 I Nr. 1) weil die qualitative Verböserung auch in der Formulierung „Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids“ enthalten ist oder klagt man zweimal: 1. gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des WB für die ursprüngliche Beschwer (79 I Nr.1) und 2. gegen die zusätzliche Beschwer im Widerspruchsbescheid § 79 I Nr.2? Danke für die Antwort :)


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