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Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)
Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)
20. Mai 2025
10 Kommentare
4,7 ★ (25.591 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Ein Müllfahrzeug von Müllunternehmen U steht mit laufendem Motor und rüttelnder Schüttung am Straßenrand. Als B mit seinem PKW in Gegenrichtung mit etwa 13 km/h und 50 cm Abstand vorbeifährt, schiebt Müllwerkerin M gerade einen Müllcontainer über die Straße. Es kommt zu einer Kollision, Bs PKW wird beschädigt.
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Einordnung des Falls
Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. B möchte den Schaden an seinem PKW ersetzt bekommen. Könnte B gegen U einen Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG haben?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. U müsste zunächst Fahrer des Müllfahrzeugs gewesen sein (§ 7 Abs. 1 StVG).
Nein, das trifft nicht zu!
3. B hat einen Sachschaden erlitten.
Ja!
4. § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus, dass die Rechtsgutsverletzung „bei dem Betrieb“ eines KfZ eintritt.
Genau, so ist das!
5. Das Müllfahrzeug hat (jedenfalls auch) eine Arbeitsfunktion. Könnte dies dafür sprechen, die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG zu begrenzen?
Ja, in der Tat!
6. Das Müllfahrzeug ist grundsätzlich ein Kfz mit Arbeitsfunktion. Ist eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG deswegen ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht auf dem Einsatz des Müllautos als Fortbewegungs- oder Transportmittels beruht?
Ja!
7. Der Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG besteht dem Grunde nach. Ist ein mögliches Mitverschulden der B ist über § 254 BGB zu berücksichtigen (vgl. § 17 Abs. 2 StVG)?
Nein, das ist nicht der Fall!
8. M hat gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Kann man dies im Rahmen der Abwägung zugunsten des B berücksichtigen?
Ja, in der Tat!
9. Die StVO enthält keine ausdrücklichen Regeln für die Vorbeifahrt an einem Müllfahrzeug. Könnten sich aber spezielle Anforderungen für die Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen aus den (ungeschriebnen) Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes ergeben?
Ja!
10. Bs Fahrweise müsste den Anforderungen für die Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen entsprochen haben. Könnte dagegen sprechen, dass B nur 50cm Abstand zum Müllfahrzeug einhielt?
Genau, so ist das!
11. B hat gegen U einen Anspruch auf vollen Ersatz der Reparaturkosten.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
jurafuchsles
23.11.2024, 14:46:26
nach welcher Norm sind U hier die Handlungen ihres Mitarbeiters zuzurechnen? finde auch im Urteil keine Norm und frage mich, wie man das bei einem Anspruch wie hier macht. Vielen Dank
Lorenz
23.11.2024, 16:26:19
Ich würde sagen, dass das gar nicht
erforderlichist. Der Anspruch ist ja von Anfang an Halter gegen Halter (U). Der Mitarbeiter spielt da gar keine Rolle. Anspruch Fahrer gg. U wird aber wg. Mitver
schulden gekürzt.
YanWing
23.11.2024, 19:15:39
"Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen" erster Satz im Urteil :) Das Handeln der Mitarbeiter fällt demnach unter "Betrieb des Fahrzeugs", wofür der Halter ohne weiter Zurechnung haftet.
Antonia0411
11.12.2024, 00:16:21
hallo, ist es möglich in eigenen Worten zu erklären, warum der Fall so ausfällt ?
Paul Hendewerk
17.12.2024, 11:18:55
Was meinst Du?

Linne_Karlotta_
14.4.2025, 17:31:24
Hallo @[Antonia0411](235391), hier eine kurze Zusammenfassung des Inhalts der Entscheidung. Es geht um die Halterhaftung des U aus § 7 Abs. 1 StVG. (1) Haltereigenschaft des U sowie (2) den
Schadenan Bs PKW könnt ihr hier unproblematisch bejahen. Auch wird das Merkmal „bei Betrieb des KfZ“ grundsätzlich weit verstanden, sodass es unschädlich ist, dass das Müllfahrzeug gerade stand. Knackpunkt des Falles ist ein Sonderproblem, welches sich immer stellt, wenn ein KfZ nicht (nur) zu Fortbewegungszwecken, sondern auch als Arbeitsmaschine genutzt wird. Die (weite) Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG greift nur dann, wenn die Transportfunktion des KfZ noch eine Rolle spielt. Denn § 7 Abs. 1 StVG soll nur für Gefahren greifen, die sich gerade aus dem allgemeinen Betriebsrisiko eines KfZ als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr ergibt (vgl. § 1 Abs. 2 StVG). Wenn sich also lediglich eine Betriebsgefahr des KfZ als Arbeitsmaschine realisiert, dann ist dies nicht von § 7 Abs. 1 StVG umfasst. Hier steht der Unfall aber in einem ausreichenden Zusammenhang mit der Funktion des Müllautos zur Fortbewegung und zum Transport von Müll. Damit besteht die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG dem Grunde nach. Der zweite Komplex der Falllösung betrifft die Frage, ob Bs Anspruch nach § 17 Abs. 2 StVG zu kürzen ist. Wenn beide
BeteiligteHalter eines Fahrzeugs sind, wird die Haftung nach § 17 Abs. 2 StVG verteilt. Hier hat auch B einen Fehler gemacht: Mit nur 50 cm Abstand zum Müllfahrzeug
waren 13 km/h zu schnell, da man mit plötzlichem Hervortreten rechnen muss. Im Rahmen von § 17 Abs. 2 StVG findet dann eine Abwägung statt. Mehr zu § 17 Abs. 1 StVG findest Du hier: https://applink.jurafuchs.de/VwmsRA3YySb Hier ist außerdem ein weiterer Fall, der sich mit der Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG im Kontext von Arbeitsmaschinen beschäftigt: https://applink.jurafuchs.de/GAjKfS8YySb Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team