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Entscheidungen von 2023

Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)

Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)

26. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ein Müllfahrzeug von Müllunternehmen U steht mit laufendem Motor und rüttelnder Schüttung am Straßenrand. Als B mit seinem PKW in Gegenrichtung mit etwa 13 km/h und 50 cm Abstand vorbeifährt, schiebt Müllwerkerin M gerade einen Müllcontainer über die Straße. Es kommt zu einer Kollision, Bs PKW wird beschädigt.

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Einordnung des Falls

Straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsanforderungen beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug (BGH, Urt. v. 12.12.2023 - VI ZR 77/23)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B möchte den Schaden an seinem PKW ersetzt bekommen. Könnte B gegen U einen Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG haben?

Genau, so ist das!

Nach § 7 Abs. 1 StVG haftet der (1) Halter eines Kfz für (2) Personen- oder Sachschäden, die (3) bei dem Betrieb des Kfz verursacht werden, (4) wenn die Haftung nicht ausgeschlossen ist (§ 7 Abs. 2 StVG). Bei der Halterhaftung handelt es sich um eine Gefährdungshaftung (wie z.B. auch die Tierhalterhaftung nach § 833 Abs. 1 BGB). Auf ein Verschulden des Halters für den Unfall kommt es deshalb nicht an. Alles zur Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG findes Du hier.
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2. U müsste zunächst Fahrer des Müllfahrzeugs gewesen sein (§ 7 Abs. 1 StVG).

Nein, das trifft nicht zu!

§ 7 Abs. 1 StVG regelt den Anspruch gegen den Halter des Pkw. Halter ist, wer das Fahrzeug für eigene Rechnung (nicht nur ganz vorübergehend) gebraucht und die Verfügungsgewalt darüber besitzt. U trägt das Risiko des Fahrzeugeinsatzes und hat die Entscheidungsgewalt über Nutzung, Wartung und Fahrereinsatz. U hat die Verfügungsgewalt über den Wagen inne und ist damit Halter.

3. B hat einen Sachschaden erlitten.

Ja!

Bei der eingetretenen Rechtsgutsverletzung muss es sich um eine Beeinträchtigung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder des Eigentums handeln (§ 7 Abs. 1 StVG). Ebenso ist das Besitzrecht umfasst. Bs PKW wurde beschädigt (Sachschaden). Mithin wurde Bs Eigentum beeinträchtigt.

4. § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus, dass die Rechtsgutsverletzung „bei dem Betrieb“ eines KfZ eintritt.

Genau, so ist das!

Das Merkmal „bei Betrieb“ wird entsprechend des Schutzzweckes der Halterhaftung weit ausgelegt. Denn die Haftung ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs als Fortbewegungs- und Transportmittel erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Nach ständiger BGH-Rechtsprechung ist ein Schaden bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kfz ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, also bei wertender Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kfz (mit)geprägt worden ist.

5. Das Müllfahrzeug hat (jedenfalls auch) eine Arbeitsfunktion. Könnte dies dafür sprechen, die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG zu begrenzen?

Ja, in der Tat!

Nach ständiger BGH-Rechtsprechung ist ein Schaden bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kfz ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben. Damit sind vor allem Gefahren gemeint, die sich aus der Teilnahme des Kfz am allgemeinen Straßenverkehr (der der Fortbewegung dient) ergeben. Bei Kraftfahrzeugen mit Arbeitsfunktionen ist es erforderlich, dass ein Zusammenhang mit der Bestimmung des Kfz als eine der Fortbewegung und dem Transport dienenden Maschine (vgl. § 1 Abs. 2 StVG) besteht. Eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG entfällt jedenfalls, wenn die Fortbewegungsmittel- und Transportfunktion des Kfz keine Rolle mehr spielt und es nur noch als Arbeitsmaschine eingesetzt wird oder bei Schäden, in denen sich eine Gefahr aus einem gegenüber der Betriebsgefahr eigenständigen Gefahrenkreis verwirklicht hat (RdNr. 18).

6. Das Müllfahrzeug ist grundsätzlich ein Kfz mit Arbeitsfunktion. Ist eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG deswegen ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht auf dem Einsatz des Müllautos als Fortbewegungs- oder Transportmittels beruht?

Ja!

Ein Kfz erfüllt eine Arbeitsfunktion, wenn es primär zur Durchführung einer spezifischen Arbeitsaufgabe eingesetzt wird und nicht zur Beförderung von Personen oder Gütern im Straßenverkehr. Bei Kraftfahrzeugen mit Arbeitsfunktionen ist es erforderlich, dass ein Zusammenhang mit der Bestimmung des Kfz als eine der Fortbewegung und dem Transport dienenden Maschine (vgl. § 1 Abs. 2 StVG) besteht. Es darf sich also nicht eine Gefahr verwirklichen, die nichts mehr mit der allgemeinen Betriebsgefahr eines Kfz im Straßenverkehr zu tun hat. Bei dem Müllfahrzeug handelt es sich um ein Kfz mit Arbeitsfunktion. Der vorliegende Unfall steht aber in einem haftungsrechtlich relevanten Zusammenhang mit der Bestimmung des Müllabfuhrfahrzeugs als eine dem Transport von Müll dienende Maschine. Zur Erfüllung dieser Funktion sind Mülltonnen zum Fahrzeug zu bringen, dort zu entleeren und wieder zurückzustellen. Die Gefahr, die in diesem Zusammenhang von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist damit dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen (RdNr. 20).

7. Der Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG besteht dem Grunde nach. Ist ein mögliches Mitverschulden der B ist über § 254 BGB zu berücksichtigen (vgl. § 17 Abs. 2 StVG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Trifft den Geschädigten ein Mitverschulden an der Schadensentstehung, so ist dies bei der Anspruchsbemessung zu berücksichtigen. § 17 Abs. 2 StVG verdrängt §§ 9 StVG, 254 BGB als (lex specialis) für den Fall, dass Schädiger und Geschädigter beide Halter eines unfallbeteiligten Kfzs sind. Zur Ermittlung des Mitverschuldens und der Haftungsanteile sind die wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge der Unfallbeteiligten abzuwägen. B war auch an dem Unfall beteiligt. Die Haftungsquote des U muss man daher über § 17 Abs. 2 StVG ermitteln.

8. M hat gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Kann man dies im Rahmen der Abwägung zugunsten des B berücksichtigen?

Ja, in der Tat!

Wer am Verkehr teilnimmt, muss sich so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (§ 1 Abs. 2 StVO). BGH: M schob den Müllcontainer quer über die Straße, ohne auf den Verkehr und den herannahende PKW zu achten, welcher für ihn erkennbar gewesen wäre, hätte er den Container gezogen. Er und der Container seien hinter dem großen Müllfahrzeug für vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer zunächst nicht sichtbar gewesen. Dass er den Container geschoben und nicht gezogen hat, sei vorliegend besonders gefahrenträchtig gewesen. M hat damit gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO befreit Müllarbeiter nicht von der Einhaltung anderer StVO-Vorschriften (RdNr. 23). Die erhöhte Betriebsgefahr des Kfz ist auch durch seine Größe und die damit verbundene Sichtbeschränkung begründet (RdNr. 24).

9. Die StVO enthält keine ausdrücklichen Regeln für die Vorbeifahrt an einem Müllfahrzeug. Könnten sich aber spezielle Anforderungen für die Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen aus den (ungeschriebnen) Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes ergeben?

Ja!

An die Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes im Rahmen des StVG musst Du immer denken, wenn es sich um Situationen mit erhöhter Gefährdung oder erkennbarer Schutzbedürftigkeit handelt. Die Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen ist in der StVO nicht speziell geregelt. Diesbezügliche Anforderungen ergeben sich aber aus § 1, § 3 Abs. 1 S. 2 StVO und den Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes. Demnach darf derjenige, der an einem Müllfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist, nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Müllwerker vertrauen. Man muss damit rechnen, dass sie plötzlich vor oder hinter dem Kfz hervortreten und unachtsam einige Schritte weiter in den Verkehrsraum seitlich des Müllfahrzeugs tun, bevor sie sich über den Verkehr vergewissern. Nach dem BGH ist die Geschwindigkeit also so weit zu drosseln, dass das Kfz notfalls zum Stehen gebracht werden kann (RdNr. 27f.).

10. Bs Fahrweise müsste den Anforderungen für die Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen entsprochen haben. Könnte dagegen sprechen, dass B nur 50cm Abstand zum Müllfahrzeug einhielt?

Genau, so ist das!

Das OLG Celle befand, dass die konkrete Situation erforderte, dass B ihre gefahrene Geschwindigkeit deutlich reduzierte. Es hielt dabei die 13 km/h für ausreichend. Als B das Müllfahrzeug, was erkennbar im Einsatz war, passierte, betrug der seitliche Abstand zwischen ihrem PKW und dem Müllfahrzeug nur rund 50cm. Der BGH befand, dass in dieser Situation die festgestellte Ausgangsgeschwindigkeit von 13 km/h zu hoch war. Denn die B hätte ihr Fahrzeug so notfalls - insbesondere wenn ein Müllwerker plötzlich hervortritt - nicht sofort zum Stehen bringen können (RdNr. 29). BGH: Am Vorliegen eines Verkehrsverstoßes seitens B ändert der Umstand nichts, dass auch der M ein Verkehrsverstoß vorzuwerfen ist. Denn Bs Verkehrsverstoß wird gerade dadurch begründet, dass B mit einem verkehrswidrigen Verhalten von Müllwerkern zu rechnen und ihre Geschwindigkeit darauf einzustellen hatte (RdNr. 30).

11. B hat gegen U einen Anspruch auf vollen Ersatz der Reparaturkosten.

Nein, das trifft nicht zu!

Bs PKW ist bei dem Betrieb eines Fahrzeugs (= Müllabfuhrfahrzeug) beschädigt worden. U als Halter des Müllfahrzeugs ist daher grundsätzlich zum Ersatz des Schadens verpflichtet (§ 7 Abs. 1 StVG). Allerdings ist bei der Haftungsverteilung nicht nur ein Verkehrsverstoß des M, sondern auch ein eigener Verstoß der B zu berücksichtigen (§ 17 Abs. 2 StVG). B hat daher gegen U nur einen Anspruch auf die anteilige Erstattung der Reparaturkosten für den Pkw. Gemäß § 16 StVG bleibt ein deliktischer Anspruch neben § 7 StVG unberührt: Je nach Fallfrage müsste also nach der Prüfung des § 7 StVG noch eine Prüfung des deliktischen Schadensersatzanspruchs gemäß § 823 Abs. 1 BGB folgen. Bedenke, dass eine Kfz-Haftpflichtversicherung für Halter, Eigentümer und Fahrer nach § 1 PflVG obligatorisch ist. Nach § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG kann der Geschädigte seine Ansprüche deshalb auch gegen die Versicherung geltend machen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JURAFU

jurafuchsles

23.11.2024, 14:46:26

nach welcher Norm sind U hier die Handlungen ihres Mitarbeiters zuzurechnen? finde auch im Urteil keine Norm und frage mich, wie man das bei einem Anspruch wie hier macht. Vielen Dank

LO

Lorenz

23.11.2024, 16:26:19

Ich würde sagen, dass das gar nicht erforderlich ist. Der Anspruch ist ja von Anfang an Halter gegen Halter (U). Der Mitarbeiter spielt da gar keine Rolle. Anspruch Fahrer gg. U wird aber wg. Mitverschulden gekürzt.

YANW

YanWing

23.11.2024, 19:15:39

"Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen" erster Satz im Urteil :) Das Handeln der Mitarbeiter fällt demnach unter "Betrieb des Fahrzeugs", wofür der Halter ohne weiter Zurechnung haftet.

Mathis

Mathis

28.11.2024, 08:29:51

Die Verlinkung auf das Kapitel zu § 7 StVG in der ersten Vertiefung funktioniert nicht.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

28.11.2024, 15:48:21

Danke für Deinen aufmerksamen Hinweis @[Mathis](208543)! Wir haben den Fehler behoben. Die Verlinkung klappt jetzt. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

AN

Antonia0411

11.12.2024, 00:16:21

hallo, ist es möglich in eigenen Worten zu erklären, warum der Fall so ausfällt ?

PAUHE

Paul Hendewerk

17.12.2024, 11:18:55

Was meinst Du?


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