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Halterhaftung bei Kollision von Fahrrad & Pferd

Halterhaftung bei Kollision von Fahrrad & Pferd

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

O macht einen Fahrradausflug. Ihr kommt Hobbyreiterin R auf ihrem Pferd entgegen. Als O an der R und ihrem Pferd vorbeifährt, bewegt das Pferd überraschend sein Hinterteil in Os Richtung und stößt O vom Rad. Beim Sturz bricht O sich die Schulter.

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Einordnung des Falls

Halterhaftung bei Kollision von Fahrrad & Pferd

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Mangels vertraglicher Beziehung zwischen O und R, kommt als Anspruchsgrundlage allein eine deliktische Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB scheitert tatsächlich bereits an dem Bestehen einer schuldrechtlichen Sonderverbindung zwischen R und O, sodass vor allem deliktische Ansprüche in Betracht kommen. Dabei kommt allerdings nicht nur ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB in Betracht, sondern auch ein Anspruch aus der Tierhalterhaftung nach § 833 S. 1 BGB. Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB setzt voraus: (1) Personen- oder Sachschaden (2) Durch ein Tier verursacht (3) Anspruchsgegner ist Tierhalter (4) Tier ist ein Luxustier (5) Kein Ausschluss (zB § 254 BGB). Die Gefährdungshaftung solltest Du vorrangig prüfen, da sie - anders als die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB - kein Verschulden erfordert!
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2. Os Schulterverletzung stellt einen Personenschaden dar.

Ja, in der Tat!

Personen- oder Sachschaden meint die Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum. Insoweit gilt das gleiche Verständnis wie bei § 823 Abs. 1 BGB.O hat sich an ihrer Schulter verletzt und somit eine Verletzung ihres Körpers und ihrer Gesundheit erlitten.

3. Damit die Rechtsgutverletzung „durch ein Tier“ i.S.d. § 833 BGB eingetreten ist, genügt es, dass das Verhalten des Tieres äquivalent kausal für die Verletzung geworden ist.

Nein!

Die Rechtsgutverletzung „durch ein Tier“ ist entscheidendes Zurechnungskriterium der Haftung aus § 833 BGB. Allein eine äquivalent kausale Verknüpfung genügt hierfür nicht aus. Vielmehr muss sich insbesondere eine typische Tiergefahr realisiert haben. Hierfür muss das Verhalten des Tieres ein aus der Unberechenbarkeit von Tieren resultierender Ausbruch tierischer Natur sein.Entspringt die Rechtsgutsverletzung der typischen Tiergefahr, so ist sie adäquat kausal.

4. Hat sich in dem Stoß des Pferdes eine typische Tiergefahr realisiert?

Genau, so ist das!

Eine typische Tiergefahr hat sich realisiert, wenn es sich um einen typischen, aus der Unberechenbarkeit von Tieren resultierenden, Ausbruch tierischer Natur handelt. Bei abrupten Bewegungen eines Tieres handelt es sich um einen typischen Ausbruch tierischer Natur. Der hierdurch ausgelöste Zusammenprall und Sturz der O sowie die daraus folgende Verletzung beruhen deshalb auf einer typischen Tiergefahr. Im Orignalfall war es streitig, ob das Pferd die Radfahrerin tatsächlich berührt hat. Nach Ansicht des Gerichts hätte eine ausreichende kausale Verbindung aber auch dann bestanden, wenn keine Berührung erfolgt und der Sturz infolge einer notwendigen Bremsung durch O erfolgt wäre. Eine typische Fallgruppe, in der die Realisierung einer typischen Tiergefahr streitig wird, ist, der gezielte Einsatz eines Tieres gegen einen Menschen (zB Hetzen eines Hundes).

5. Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB richtet sich gegen die Eigentümerin des Pferdes.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB richtet sich gegen die Halterin. Regelmäßig ist die Eigentümerin auch Halterin. Dies ist aber keineswegs zwingend. Halterin ist, wer das Tier im eigenen Interesse hält und die tatsächliche Sachherrschaft ausübt. Entscheidend ist insoweit die Verkehrsauffassung und eine Abwägung im Einzelfall. Da der Sachverhalt keine weiteren Angaben zu R macht, ist hier zu unterstellen, dass sie Halterin ist. Wer Halter ist, kannst Du Dir gut im Zusammenhang mit dem Schutzzweck des § 833 S. 1 BGB merken! Zum einen soll ein Anreiz für eine möglichst weitgehende Kontrolle über das Tier geschaffen werden, zum anderen soll derjenige die Kosten tragen, der auch den Nutzen aus dem Tier zieht.

6. Eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung besteht nur bei Luxustieren.

Ja!

§ 833 BGB differenziert zwischen Luxustieren und Nutztieren. Bei Nutztieren wird das Verschulden des Halters nur vermutet (§ 833 S. 2 BGB), eine Exkulpation ist aber möglich. Bei Luxustieren handelt es sich dagegen um eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung (§ 833 S. 1 BGB). Eine Exkulpation ist nicht möglich. Man kann § 833 S. 1 und S. 2 BGB sowohl getrennt als auch zusammen prüfen. Prüft man zusammen, muss man bei dem Prüfungspunkt „Luxustier“ differenzieren.

7. Haustiere sind immer Nutztiere und keine Luxustiere.

Nein, das ist nicht der Fall!

Gemeinsame Voraussetzung von Luxus- und Nutztieren ist, dass es sich um Haustiere handelt. Nutztiere sind Haustiere, welche einer Tätigkeit, die auf eine Gewinnerzielung ausgerichtet ist, dienen. Luxustiere sind alle Haustiere, die keine Nutztiere sind. Es handelt sich damit um eine negative Begriffsbestimmung. Was ein Haustier ist, bestimmt sich nach der inländischen Verkehrsauffassung. Wildtiere sind keine Haustiere und fallen deshalb weder unter § 833 S. 1, noch unter § 833 S. 2 BGB. Hier gibt es deshalb gesonderte Haftungstatbestände (zB § 29 BJagdG).

8. Handelt es sich beim Pferd von O um ein Luxustier?

Ja, in der Tat!

Luxustiere sind alle Haustiere, die keine Nutztiere sind. Nutztiere sind Haustiere, welche einer Tätigkeit, die auf eine Gewinnerzielung ausgerichtet ist, dienen. Was ein Haustier ist, bestimmt sich nach der inländischen Verkehrsauffassung. Pferde werden in Deutschland als Haustiere gehalten. O reitet hobbymäßig und setzt es nicht zur Gewinnerzielung ein. Es ist damit kein Nutz-, sondern ein Luxustier. Der Grund für die Unterscheidung zwischen Nutzier & Luxustier ist eine beabsichtigte Erleichterung für alle, die auf Tiere für ihre Erwerbstätigkeit angewiesen sind.

9. Somit besteht dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 833 S. 1 BGB.

Ja!

Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB setzt voraus: (1) Personen- oder Sachschaden (2) Durch ein Tier verursacht (3) Anspruchsgegner ist Tierhalter (4) Tier ist ein Luxustier (5) Kein Ausschluss (zB § 254 BGB)Wie dargelegt, liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen vor. Anhaltspunkte für ein Mitverschulden (§ 254 BGB) der O sind nicht ersichtlich, sodass der Anspruch weder gekürzt noch ausgeschlossen ist.

10. O hat lediglich einen Anspruch auf Ersatz der Heilbehandlungskosten (§§ 249 ff. BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach § 249 Abs. 1 BGB ist der Geschädigte so zu stellen, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde. Umfasst sind dabei zunächst einmal die materiellen Schäden. Ist allerdings ein in § 253 Abs. 2 BGB genanntes Rechtsgut betroffen, so besteht zudem ein Anspruch auf Schmerzensgeld (=immaterieller Schaden), dessen Höhe im Streitfall im Ermessen des Richters liegt(§ 287 ZPO). Zusätzlich zu den infolge der Verletzung notwendigen Behandlungskosten, kann O aufgrund der Verletzung ihres Körpers und ihrer Gesundheit somit auch Schmerzensgeld geltend machen.Sofern R sich weigert zu zahlen, sind auch etwaige (vorgerichtliche) Anwaltskosten zur Geltendmachung des Schadens als materieller Vermögensschaden umfasst.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

AY

aylin.

5.2.2024, 23:50:42

Könnte man eurer Meinung nach, den § 7 I StVG analog auf Pferde anwenden, wenn sie wie Fahrzeuge zur Beförderung von a-b eingesetzt werden?

NI

Nikudo

6.2.2024, 09:37:40

Für eine analoge Anwendung müsste eine planwidrige Regelungslücke vorliegen. Diese besteht nicht, weil § 833 BGB die

Tierhalterhaftung

ausdrücklich normiert. Wenn Pferde als Transportmittel eingesetzt werden, könnte man allenfalls darüber nachdenken, ob diese Pferde Nutztiere im Sinne des § 833 S. 2 BGB darstellen und sich der Tierhalter exkulpieren kann. Für eine analoge Anwendung der StVO besteht m.E. kein Raum.

MAR

Marvin

14.2.2024, 07:44:52

Ich dachte bei Gefährdungshaftung gibt es gerade keine Adäquanz?! Die Haftungsbegrenzung erfolgt durch die Realisierung der typischen Tier- bzw. Betriebsgefahr.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

14.2.2024, 11:52:25

Hallo Marvin, vielen Dank für den guten Hinweis! In der Tat wird die Adäquanzprüfung bei der typischen Tiergefahr verortet. So nimmt der BGH diese an, Letzteres ist dann der Fall, wenn ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbstständiges Verhalten des betreffenden Tieres für den Eintritt der Rechtsgutsverletzung adäquat ursächlich geworden ist, wobei Mitursächlichkeit – wie sonst auch – ausreicht (BGH Urteil vom 26.4.2022 – VI ZR 1321/20 = NJW-RR 2022, 1432). Wir haben in der Antwort entsprechend klargestellt, dass eine gesonderte Prüfung insofern nicht mehr erfolgt (vgl. zur Adäquanz im Bereich der Gefährdungshaftung auch BGH, Urteil vom 27.01.1981 - VI ZR 204/79 = NJW 1981, 983). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JO

Jojo23

14.2.2024, 10:46:58

Müsste man den Anspruch der Radfahrerin nicht um ihr eignes Mitverschulden kürzen? Bin selbst Reiterin und manche Radfahrer und Autofahrer sind wirklich rücksichtslos und rasen total nahe an einem vorbei. Zumindest auf der Zeichnung ist die Radfahrerin sehr nah am Pferd. Und die Beschreibung, dass das Pferd nur „ausschwenkt“ und nicht über die ganze Strasse in die Radfahrerin springt, lässt mich auch denken, dass sie mehr Abstand hätte halten müssen.

TI

Timurso

14.2.2024, 11:33:22

Man kann sich zunächst fragen, ob § 254 BGB auf Gefährdungshaftungstatbestände, die kein Verschulden voraussetzen, überhaupt anwendbar ist. Allerdings wäre es unbillig, das zu verneinen und es findet auch keinen Anhaltspunkt im Wortlaut. Sodann muss man die genauen Umstände des Sachverhalts abwägen, um zu prüfen, ob und in welcher Höhe ein Mitverschulden vorliegt (Geschwindigkeit, Abstand, Ausweichmöglichkeiten etc.). Grundsätzlich käme auf jeden Fall ein Mitverschulden in Betracht, aufgrund der spärlichen Informationen in Zeichnung und Sachverhalt kann das hier aber kaum bewertet werden.

MAN

many

6.4.2024, 15:51:40

Im Gesamten wäre ich, bei so wenig Sachverhaltsangaben, grds. vorsichtig aus persönlichen Erfahrungen etwas in den Sachverhalt hineinzuinterpretieren. Damit schadet man sich oft selbst mehr als dass es den Korrektor beeindruckt. Auch wenn ich dir natürlich grundsätzlich bzgl des rücksichtslosen Verhaltens vieler zustimmen würde. LG

DAV

David

3.6.2024, 19:20:38

Die pauschale Aussage Wildtiere sind keine Haustiere und fallen deshalb weder unter § 833 S. 1, noch unter § 833 S. 2 BGB. Hier gibt es deshalb gesonderte Haftungstatbestände (zB § 29 BJagdG) trifft so m.E. nicht zu. Dies würde dazu führen, dass bspw. der Halter eines Löwen nicht gem. § 833 Satz 1 BGB haften würde. "Von der Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 werden alle Tiere erfasst, einerlei, ob sie gezähmt oder wild sind" (BeckOK BGB/Spindler/Förster, 70. Ed. 1.5.2024, BGB § 833 Rn. 5) Die Frage, ob ein Haustier vorliegt ist vielmehr Vss. für die Verschiebung der Gefährdungs- hin zu einer Haftung für vermutetes Verschulden, wenn das Haustier ein Nutztier ist. Das Privileg des Tierhalters, sich durch Nachweis pflichtgemäßen Verhaltens von der Haftung zu befreien, hängt davon ab, dass es sich bei dem schadensträchtigen Tier zugleich um ein Haustier und um ein Nutztier handelt. Schäden durch Nutztiere, die keine Haustiere sind, wie insbesondere in Stöcken gehaltene Bienen, lösen daher die Gefährdungshaftung nach S. 1 aus, und Gleiches gilt für Haustiere, denen die Nutztiereigenschaft fehlt, wie die in Privatwohnungen gehaltenen Katzen oder aus Liebhaberei gehaltene Reitpferde. […] Nach einer Formulierung des RG sind Haustiere „diejenigen Gattungen von zahmen Tieren, die in der Hauswirtschaft zu dauernder Nutzung oder Dienstleistung gezüchtet und gehalten zu werden pflegen und dabei aufgrund von Erziehung und Gewöhnung der Beaufsichtigung und dem beherrschenden Einfluss des Halters unterstehen“. Der Gegensatz zum Haustier ist das wilde Tier (§ 960 Abs. 1), und zwar unabhängig davon, ob es diesen Charakter noch aufweist, wie im Zoo gehaltene Raubtiere, oder ob es gezähmt wurde (§ 960 Abs. 3). Für S. 2 muss das Tier also von Natur aus zahm sein, wie dies bei Pferd, Maultier, Esel, Rind, Ziege, Schaf, Schwein, Hund, Katze, Geflügel (einschließlich seltener Arten), Tauben sowie Kaninchen der Fall ist. (MüKoBGB/Wagner, 9. Aufl. 2024, BGB § 833 Rn. 49 f.)

BAY

bayilm

25.7.2024, 12:03:46

Ich meine, auch im Kapitel zum 833 wird das in den Aufgaben auch so differenziert, wie du es machst. Deswegen war ich auch etwas verwundert, als hier die erfassten Tiere anders geregelt wurden.

JURAFU

jurafuchsles

31.8.2024, 10:53:08

Hier wäre eine Aufklärung von Jurafuchs hilfreich :)

DAV

David

3.6.2024, 19:23:39

Bei mir führt der Link, der zu dem Urteil führen soll bei Juris zu der Aussage, dass das Dokument nicht angezeigt werden könne.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.6.2024, 13:22:56

Hi David, das Urteil ist leider nicht frei verfügbar. Um das Urteil im Original lesen zu können, benötigst Du leider einen Juris Zugang. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DAV

David

6.6.2024, 14:52:02

Hallo Lukas, ich habe einen Juris-Zugang und war eingeloggt, die Verlinkung führte bei mir dennoch ins Nichts.. Viele Grüße David


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