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Verstärkter Kündigungsschutz von Behinderten (EuGH, 10.02.2022, C-485/20 - HR Rail)

Verstärkter Kündigungsschutz von Behinderten (EuGH, 10.02.2022, C-485/20 - HR Rail)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Aufgrund einer Herzerkrankung wurde bei K eine Behinderung festgestellt. K war bei Arbeitgeber B in der Probezeit. Wegen der Krankheit kann K nicht die Tätigkeit ausführen, für die er bei B eingestellt war. E kündigt K. K hält das für rechtswidrig und zieht vor das Arbeitsgericht (AG).

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Einordnung des Falls

Verstärkter Kündigungsschutz von Behinderten (EuGH, 10.02.2022, C-485/20 - HR Rail)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das AG zieht für die Beurteilung von Ks Kündigung die nationale Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG zur Gleichbehandlung im Beruf heran. Ist der EuGH für aufkommende Auslegungsfragen zuständig?

Genau, so ist das!

Der EuGH ist zuständig für Vorabentscheidungen zur Auslegung der Verträge oder zur Gültigkeit von Handlungen der EU-Organe (Art. 267 AEUV). Die letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedsstaaten müssen, alle anderen Gerichte können eine solche Frage vorlegen (Art. 267 UAbs. 2, 3). Ausnahmen von der Vorlagepflicht bestehen nur (1) bei gesicherter Rechtsprechung (2) bei eindeutiger Rechtslage (acte clair), (3) bei geltender Rechtsprechung, die auf den konkreten Fall übertragbar ist (acte éclairé) und (4) bei Eilverfahren. Im Kündigungsschutzverfahren sind dem AG Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG gekommen, auf deren Grundlage das relevante nationale Gesetz entworfen wurde. Dabei handelt es sich um eine Frage zur Auslegung der Verträge, die vorlagefähig ist. Eine Ausnahme greift nicht ein. Der EuGH ist zuständig.
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2. Das AG möchte wissen, wie Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG auszulegen ist und leitet ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ein. Ist das Verfahren zulässig?

Ja, in der Tat!

In der Zulässigkeit sind zu prüfen: (1) die Zuständigkeit von Gericht oder Gerichtshof, (2) die Vorlageberechtigung des vorlegenden Gerichts, (3) ein vorlagefähiger Verfahrensgegenstand, (4) die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage. (1) Für Vorabentscheidungsverfahren ist der Gerichtshof (als Teil des Organs EuGH) und nicht das Gericht (als Teil des Organs EuGH) zuständig (Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV in Verbindung mit der Satzung des EuGH). (2) Das nationale AG ist als Spruchkörper eines Mitgliedsstaats vorlageberechtigt. (3) Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ist ein zulässiger Vorlagegegenstand: Der EuGH beantwortet nur Fragen zu Unionsrecht, nicht zu nationalem Recht. (4) Die Entscheidung, ob Ks Kündigung rechtmäßig oder rechtswidrig war, hängt davon ab, wie Art. 5 der Richtlinie auszulegen ist. Wenn B keine angemessenen Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung getroffen hat, war die Kündigung rechtswidrig. Es kommt also entscheidungserheblich darauf an, wie der unbestimmte Begriff „angemessene Vorkehrungen“ auszulegen ist. Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist zulässig.

3. Nach der Zulässigkeit prüft der Gerichtshof die Begründetheit des Vorabentscheidungsverfahrens.

Nein!

Das Vorabentscheidungsverfahren ist – anders als die meisten deutschen Verfahren und die Vertragsverletzungs- und Nichtigkeitsklagen des EU-Rechts– nicht in Zulässigkeit und Begründetheit unterteilt, sondern in Zulässigkeit und Beantwortung der Vorlagefrage. Das ergibt sich daraus, dass das Verfahren keine Klage ist, die „begründet“ oder „unbegründet“ sein kann. Stattdessen stellt das nationale Gericht eine Auslegungsfrage, die das Gericht beantworten muss. Folglich wird keine Begründetheit geprüft, sondern die Vorlagefrage beantwortet. Im Original lautete die Vorlagefrage, ob der unbestimmte Rechtsbegriff „angemessene Vorkehrungen“ in Art. 5 der Richtlinie so auszulegen sei, dass Arbeitnehmer, die aufgrund einer Behinderung für eine bestimmte Tätigkeit ungeeignet sind, auf eine andere Stelle versetzt werden müssen, für die sie die notwendige Kompetenz haben (RdNr. 25).

4. Die Richtlinie ist schon nicht auf K anwendbar, da er sich im Zeitpunkt der Feststellung der Behinderung und seiner Kündigung in der Probezeit befand.

Nein, das ist nicht der Fall!

Laut EuGH-Definition ist ein Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) jeder, der eine tatsächliche Tätigkeit ausübt, die sich nicht als völlig untergeordnet oder unwesentlich darstellen. Dieser Begriff aus dem AEUV entspreche dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2000/78/EG (RdNr. 31). Die Richtlinie gilt für öffentliche und private Stellen hinsichtlich des Zugangs und der Bedingungen von Ausbildung, Weiterbildung und Erwerbstätigkeit (Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG). Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG ist besonders weit gefasst, schließt also auch Arbeitnehmer ein, die zu Ausbildungszwecken in einer Probezeit sind (RdNr. 30). Die EuGH-Definition für den Arbeitnehmer erfasst ebenfalls ein breites Anwendungsfeld, insbesondere auch Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten, solange die Tätigkeit unter den Bedingungen einer echten Lohntätigkeit nach Weisungen des Arbeitgebers erfolgt (RdNr. 31). Ks Kündigung fällt also, obwohl er in der Probezeit war, unter den Anwendungsbereich der Richtlinie.

5. K leidet an einem Herzfehler, weshalb ihm ein Herzschrittmacher eingesetzt und durch den öffentlichen Dienst eine Behinderung festgestellt wurde. Liegt bei K auch im Sinne der Richtlinie eine Behinderung vor?

Ja, in der Tat!

Eine Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet die langfristige psychische, geistige oder physische Beeinträchtigung der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben unter Gleichstellung mit den übrigen Arbeitnehmern aufgrund einer Einschränkung der eigenen Fähirgkeiten (RdNr. 34). Ein Herzschrittmacher reagiert sensibel auf elektromagnetische Felder und ist daher anfällig für Störungen von außen. Stärkere Strahlung von Elektronik, Akkus oder Batterien kann den Herzschrittmacher in einen Starrmodus versetzen oder ihm einen falschen Rhythmus aufzwingen. K kann aufgrund dieser Sensibilität, die auf eine physische Beeinträchtigung zurückgeht, nicht wie die übrigen Arbeitnehmer wirksam und voll am Berufsleben teilhaben. Im Sinne der Richtlinie liegt bei K eine Behinderung vor. Im Originalfall war K bei B, einem Bahnbetreiber, auf Gleisanlagen eingesetzt worden, was ihm aufgrund des Herzschrittmachers endgültig unmöglich war (RdNr. 21). Der öffentliche Dienst bescheinigte K jedoch, er könne Arbeit wahrnehmen, bei der er mit durchschnittlicher Aktivität keinen elektromagnetischen Feldern, Höhe oder Vibration ausgesetzt sei (RdNr. 15).

6. Zur Auslegung des Art. 5 der Richtline 2000/78/EG kann der Gerichtshof auch externe Rechtsquellen heranziehen sowie nicht-rechtsverbindliche Erwägungen zur Richtlinie.

Ja!

Zur Beantwortung der Vorlagefrage wird der Wortlaut der fraglichen Norm ausgelegt. Dabei kann der Gerichtshof unter anderem heranziehen: (1) die Erwägungsgründe, die einer Richtlinie als Auslegungshilfe vorangehen, (2) Übereinkommen und Verträge der Vereinten Nationen (VN), (3) eigenes Unionsprimärrecht wie die Grundrechtecharta. Die Erwägungsgründe 20 und 21 der Richtlinie 2000/78/EG ergeben, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung individuell Beschäftigung zu ermöglichen, ohne dass sie unverhältnismäßigen Belastungen ausgesetzt sind (RdNr. 37). Aus Art. 2 Abs. 3 des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergibt sich, dass Diskriminierung auch die Versagung angemessener Vorkehrungen zur Gleichbehandlung erfasst (RdNr. 38). Art. 21, 26 der GRCh sehen Diskriminierungsverbote vor, die die Gewährleistung der Eigenständigkeit und beruflichen und sozialen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vorschreiben (RdNr. 42).

7. Die Formulierung „angemessene Vorkehrungen“ (Art. 5 Richtlinie 2000/78/EG) erfasst die die Versetzung des wegen einer Behinderung für eine Stelle ungeeigneten Arbeitnehmers an einen anderen Arbeitsplatz.

Genau, so ist das!

Der 20. Erwägungsgrund der Richtlinie konkretisiert, die behindertengerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes erfasse unter anderem entsprechende Einrichtung und die Anpassung von Arbeitsgeräten und Arbeitszeiten (RdNr. 40). Der Erwägungsgrund ist so zu verstehen, dass der Arbeitsplatz selbst so ausgestaltet werden soll, dass eine Person mit Behinderung voll und wirksam am Berufsleben teilhaben kann (RdNr. 41). Der Person müsse in jedem Fall die Möglichkeit gegeben werden, die Beschäftigung – auch in einer anderen Funktion – zu behalten. Art. 5 der Richtlinie verpflichtet den Arbeitgeber, Barrieren für die volle Teilhabe behinderter Menschen am Berufsleben zu beseitigen (RdNr. 44) und ist daher so auszulegen, dass „angemessene Vorkehrungen“ impliziert, dass ein Arbeitnehmer auch in der Probezeit in einer anderen Stelle einzusetzen ist, wenn er seine bisherige Funktion aufgrund einer Behinderung nicht erfüllen kann (RdNr. 49).

8. Diese Verpflichtung gilt unabhängig davon, wie sehr eine Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz den Arbeitgeber finanziell und organisatorisch belastet.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG kann den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten, unverhältnismäßig belastende Maßnahmen zu ergreifen (vergleiche Erwägungsgrund 21). Unverhältnismäßige Belastungen können sich unter anderem aus dem finanziellen Aufwand ergeben - unter Berücksichtigung öffentlicher Mittel und anderer Unterstützungsmöglichkeiten (RdNr. 45). Außerdem ist Voraussetzung für einen anderweitigen Einsatz, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann (RdNr. 48). Der Gerichtshof kann keine tatsächlichen Feststellungen treffen, ob für B die Versetzung des K auf eine andere Stelle zumutbar gewesen wäre. Der Gerichtshof muss nur die rechtliche Auslegungsfrage beantworten, das AG muss dann unter Beachtung dieser Einschätzung den Sachverhalt auslegen (RdNr. 46).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JUDI

judith

25.7.2024, 19:16:25

Der geschilderte Sachverhalt ist nicht ganz eindeutig formuliert. K hat bei B gearbeitet, wird aber von E gekündigt? Handelt es sich hierbei um einen Tippfehler, oder fehlen mglw. irgendwelche Sachverhaltsangaben?


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