nemo tenetur und VE

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Mafia-Pate P hat seine drei größten Konkurrenten im Berliner Heroinmarkt töten lassen. Bei einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft macht er von seinem Schweigerecht Gebrauch. Da alle anderen Aufklärungsmaßnahmen erfolglos bleiben, wird Polizist V als Verdeckter Ermittler auf P angesetzt. Nachdem er sein Vertrauen erworben hatte, spricht V den P gezielt auf den Tatvorwurf an. Dabei drängte er ihn mehrfach und eingehend dazu, sich ihm zu offenbaren. Schließlich gesteht P ihm die Taten.

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Einordnung des Falls

nemo tenetur und VE

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. V verstößt gegen die Belehrungspflicht aus § 136 Abs. 1 StPO.

Nein, das ist nicht der Fall!

Es handelt sich um eine Vernehmung, wenn der Vernehmende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihr eine Auskunft verlangt (formeller Vernehmungsbegriff, hM). Da V dem P schon nicht in amtlicher Funktion, sondern als Privatperson gegenübertritt, handelt es sich nicht um eine Vernehmung. V musste P nicht belehren.
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2. V verstößt aber analog § 136 Abs. 1 StPO gegen die Belehrungspflicht.

Nein, das trifft nicht zu!

Auch eine analoge Anwendung scheidet aus. Zweck der Belehrungspflicht ist nur, den Beschuldigten vor der Fehlvorstellung zu schützen, gegenüber einer amtlich auftretenden Vernehmungsperson zur Aussage verpflichtet zu sein. Bei einer nach außen privat auftretenden Person ist dem Beschuldigten aber klar, dass er nicht verpflichtet ist, Belastendes zu offenbaren. V hat daher keine Belehrungspflicht analog § 136 Abs. 1 StPO.

3. Das Vorgehen des V verstößt gegen § 136a StPO.

Nein!

§ 136a StPO ist unmittelbar nur auf Vernehmungen anwendbar, gilt für den Verdeckten Ermittler jedoch analog. § 136a Abs. 1 S. 1 StPO verbietet die Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten unter anderem durch Täuschung. Der Begriff der Täuschung wird jedoch mit Blick auf die Intensität der anderen verbotenen Vernehmungsmethoden und der Rechtsfolge (absolutes Verwertungsverbot) sehr restriktiv interpretiert. d>Das Verschweigen des amtlichen Auftrags reicht dabei nicht aus, weil die Entschließungsfreiheit des Betroffenen hinsichtlich der Frage, ob er sich äußern will oder nicht, unberührt bleibt. V verschweigt nur seinen amtlichen Auftrag.

4. P hat das selbständige Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.

Genau, so ist das!

Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 GG), Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem fair trial-Prinzip (Art. 6 EMRK) wird der Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare als Recht auf Selbstbelastungsfreiheit hergeleitet: Niemand ist verpflichtet, ein Verfahren gegen sich selbst in Gang zu bringen oder bei seiner Überführung aktiv mitzuwirken.

5. Beweiserhebungen des verdeckten Ermittlers verstoßen immer gegen das nemo tenetur-Prinzip.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Gewinnung von Informationen, die der Beschuldigte einem Verdeckten Ermittler aufgrund des diesem entgegengebrachten Vertrauens von sich aus preisgibt, verletzen grundsätzlich nicht den nemo tenetur-Grundsatz. d>Denn das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit garantiert primär die Freiheit von Zwang, nicht aber die Freiheit von Irrtum. Er dient grundsätzlich nicht dem Schutz vor unbewussten Selbstbelastungen.

6. Das Vorgehen des V verstößt hier gegen den nemo tenetur-Grundsatz.

Ja!

Ausnahmsweise verstoßen auch täuschungsbedingte Selbstbelastungen gegen den nemo tenetur-Grundsatz mit der Folge eines Beweisverwertungsverbots. Das ist der Fall bei massiven Einflussnahmen (1) nach einer ausdrücklichen Entscheidung für das Schweigen oder (2) bei Inhaftierten. Es verstößt daher gegen den nemo tenetur-Grundsatz, wenn ein Verdeckter Ermittler einen Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat, beharrlich zu einer Aussage drängt und ihm in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlockt. Denn nach der Berufung auf das Schweigerecht verdichtet sich das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit. Dann müssen die Strafverfolgungsbehörde die Entscheidung, nicht aussagen zu wollen, respektieren. Anders ist es, wenn sich der Beschuldigte noch nicht auf sein Schweigerecht berufen hat. P wurde hier nach Berufung auf das Schweigerecht beharrlich zur Aussage gedrängt.
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