Verbot des Schächtens europarechtlich zulässig (EuGH, 17.12.2020 – C-336/19)


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Das belgische Parlament erlässt ein Tierschutzgesetz, das die betäubungslose Schlachtung von Tieren verbietet. Jüdische und muslimische Glaubensgemeinschaften sehen ihre Religionsfreiheit verletzt. Das belgische Verfassungsgericht zweifelt an der Vereinbarkeit mit EU-Recht.

Einordnung des Falls

Verbot des Schächtens europarechtlich zulässig (EuGH, 17.12.2020 – C-336/19)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Zweifelt ein Gericht eines Mitgliedstaats an der Vereinbarkeit eines nationalen Rechtsakts mit EU-Recht, so kann bzw. muss das Gericht die Frage der Vereinbarkeit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen.

Ja, in der Tat!

Über die Auslegung des europäischen Primär- und Sekundärrechts entscheidet allein der EuGH (vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV). Hängt eine Entscheidung eines mitgliedstaatlichen Gerichts von der Auslegung europäischen Rechts ab, können Instanzgerichte die Auslegungsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Letztinstanzliche Gerichte sind zur Vorlage verpflichtet (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Der EuGH stellt so eine einheitliche und effektive Anwendung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sicher.

2. Das belgische Gesetz könnte in Konflikt mit der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 stehen, die Vorschriften über die Tötung von Tieren in der Fleischproduktion enthält.

Ja!

In der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 wird ein generelles Verbot betäubungsloser Tötungen von Tieren in der Fleischproduktion geregelt (Art. 4 Abs. 1 VO). Dieses Verbot sieht jedoch Ausnahmen für religiöse Riten vor (Art. 4 Abs. 4 VO). Die Verordnung sieht dabei auch vor, dass die Mitgliedstaaten strengere Tierschutzbestimmungen treffen können (Art. 26 Abs. 2 c) VO). Für den Ausgangsrechtsstreit ist folglich die Auslegung einer Regelung des Unionsrechts relevant. Als letztinstanzliches Gericht muss das belgische Verfassungsgericht dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 3 AEUV).

3. Das belgische Verbot der Schlachtung von unbetäubten Tieren ist mit den Vorgaben der Verordnung vereinbar.

Genau, so ist das!

Richtig. Denn die Verordnung stellt den Mitgliedstaaten frei, in Bezug auf die Tötung von Tieren in der Fleischproduktion strengere Tierschutzbestimmungen zu treffen als in der Verordnung vorgesehen (Art. 26 Abs. 2 c) VO). Deshalb kann das belgische Gesetz über die Vorgabe der Verordnung, Ausnahmen für religiöse Riten vorzusehen (Art. 4 Abs. 4 VO), hinausgehen und solche Ausnahmen ausschließen. Fraglich ist jedoch, ob ein solches Vorgehen mit der Religionsfreiheit der betroffenen jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften vereinbar ist.

4. Das belgische Verbot der Schlachtung unbetäubter Tiere müsste auch mit der unionsrechtlich garantierten Religionsfreiheit (Art. 10 GRCh) vereinbar sein, wenn der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist.

Ja, in der Tat!

Richtig! Die EU-Grundrechtecharta (GRCh) enthält unionsrechtlich garantierte Grundrechte, darunter auch die Religionsfreiheit (Art. 10 GRCh). Die GRCh ist jedoch nicht allgemein in den Mitgliedstaaten oder auf mitgliedstaatliche Rechtsakte anwendbar. Die Anwendbarkeit der GRCh setzt vielmehr voraus, dass ihr Anwendungsbereich eröffnet ist. Dies richtet sich nach Art. 51 Abs. 1 GRCh.

5. Die Geltendmachung einer Verletzung von Rechten der GRCh gegenüber mitgliedstaatlichen Regelungen ist ausgeschlossen. Die GRCh bindet die Organe und Einrichtungen der EU, nicht aber die Mitgliedstaaten.

Nein!

Normadressat der GRCh ist grundsätzlich die EU (Art. 51 Abs. 1 Alt. 1 GRCh). Die EU ist jedoch mangels eigenen Verwaltungsaufbaus für Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts weitgehend auf die Mitgliedsstaaten angewiesen (Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten). Daher erstreckt sich die Bindung der GRCh auch auf die Mitgliedstaaten, aber ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 Alt. 2 GRCh). Damit der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, müsste also vorliegend das belgische Gesetz eine Durchführung des Unionsrechts i.S.d. Art. 51 Abs. 1 GRCh darstellen.

6. Da das belgische Tierschutzgesetz sich im Regelungsbereich der genannten EU-Verordnung bewegt, stellt es sich als Durchführung des Unionsrechts dar. Der Anwendungsbereich der GRCh ist eröffnet.

Genau, so ist das!

Der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRCh ("ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts") spricht für eine enge Auslegung des Anwendungsbereichs der GRCh bei Rechtsakten der Mitgliedstaaten. Der EuGH legt den Anwendungsbereich weit aus: Ist ein Regelungsbereich grundsätzlich unionsrechtlich vorgegeben und wird den Mitgliedsstaaten dabei bewusst ein legislativer oder administrativer Gestaltungsspielraum eingeräumt, führen die Mitgliedstaaten auch bei Ausübung dieser Spielräume das Unionsrecht durch und sind an die GRCh gebunden. Dies gilt bei Richtlinien, aber auch – wie vorliegend – im Regelungsbereich von Verordnungen (RdNr. 48f.).

7. Da die Verordnung es den Mitgliedsstaaten freistellt, auf Ausnahmen für religiöse Riten bei der Tierschlachtung zur Fleischproduktion zu verzichten, ist ein Verstoß gegen die GRCh ausgeschlossen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die grundrechtlichen Vorgaben der GRCh binden nicht nur die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts, sondern allgemein auch die EU. Die GRCh steht als Primärrecht gleichrangig neben EU-Vertrag und AEUV (Art. 6 Abs. 1 EUV). Das Sekundärrecht - also Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 AEUV) - wird von den Organen der Union auf der Basis des Primärrechts erlassen. Das Sekundärrecht - also auch die streitgegenständliche Verordnung - muss in vollem Umfang mit dem Primärrecht - also auch der GRCh - vereinbar sein.

8. Die Auslegung der GRCh vollzieht sich in Übereinstimmung mit der EMRK, das Schutzniveau der GRCh kann jedoch über das der EMRK hinausgehen.

Ja!

Soweit die GRCh Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite wie nach der EMRK (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh). Das Schutzniveau der EMRK gilt für die GRCh als Mindestschutzniveau. Das Schutzniveau der GRCh kann jedoch darüber hinausgehen (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh).

9. Die Prüfung einer Verletzung von Grundrechten der GRCh vollzieht sich strukturell im Wesentlichen entsprechend der Grundrechtsprüfung nach dem GG.

Genau, so ist das!

Die dreistufige Grundrechtsprüfung - Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung - wird auch für die GRCh zugrunde gelegt. Sie ergibt sich teilweise aus Art. 52 Abs. 1 GRCh. Terminologisch wird der Eingriff dort als Einschränkung bezeichnet. Der EuGH nimmt diese dreistufige Prüfung zumindest bei einer detaillierten Grundrechtsprüfung vor. Im Rahmen der Rechtfertigung wird geprüft, (1) ob eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage existiert, (2) ob ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund (legitimer Zweck) vorliegt, (3) ob der Wesensgehalt des Grundrechts unangetastet bleibt und (4) ob die Einschränkung verhältnismäßig ist (Art. 52 Abs. 1 GRCh).

10. Der Konsum und die Produktion von Fleisch aus rituellen Schlachtungen ist vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GRCh erfasst.

Ja, in der Tat!

Der Begriff der Religion gemäß Art. 10 Abs. 1 GRCh ist weit zu verstehen. Er umfasst sowohl das forum internum, also den Umstand, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, also die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit . Auch religiöse Vorgaben für den Fleischverzehr und damit verbundene Vorgaben für die Art der Schlachtung gehören als Teil der Bekundung des Glaubens in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 GRCh (RdNr. 18; vgl. EuGH C‑426/16 RdNr. 43 ff).

11. Solange der Import von rituell geschlachtetem Fleisch aus anderen EU-Staaten möglich bleibt, ist ein Eingriff in die Religionsfreiheit ausgeschlossen.

Nein!

So offenbar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er verlangte für einen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK, dass es "unmöglich wäre, Fleisch von Tieren zu verzehren, die in Übereinstimmung mit den einschlägigen religiösen Vorschriften geschlachtet wurden" (EGMR, Rs. 27417/95, RdNr. 80). Demgegenüber hat der EuGH keine Zweifel daran, dass durch das Verbot der Schlachtung unbetäubter Tiere den Gläubigen eine Ausübung ihrer Religion erschwert werde und deshalb ein Eingriff vorliegt (RdNr. 55). Die weiterhin mögliche Beschaffung rituell geschlachteten Fleisches aus dem Ausland berücksichtigt der EuGH bei der Eingriffstiefe.

12. Die Religionsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 GRCh ist von so hohem Rang, dass sie schrankenlos gewährt wird. Eine Rechtfertigung des Eingriffs scheidet daher aus.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) ist eine der Grundfesten einer demokratischen Gesellschaft und insofern von hohem Rang (Rdnr. 56f.). Doch auch die Religionsfreiheit unterliegt Schranken. Ein Eingriff ist dann gerechtfertigt, wenn (1) er gesetzlich vorgesehen ist, (2) ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund (legitimer Zweck) in Frage kommt, (3) er den Wesensgehalt des Grundrechts wahrt und (4) verhältnismäßig ist (Art. 52 Abs. 1 GRCh).

13. Die Unionszielbestimmung des Tierschutzes (Art. 13 AEUV) stellt einen tragfähigen Rechtfertigungsgrund (legitimer Zweck) zur Einschränkung der Religionsfreiheit dar.

Ja, in der Tat!

Stimmt. Art. 13 AEUV regelt, dass die EU und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union u.a. in den Bereichen Landwirtschaft und Binnenmarkt den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung tragen. EuGH: Aus Art. 13 AEUV ergebe sich, dass der Schutz des Wohlergehens der Tiere ein von der Union anerkannter, dem Gemeinwohl dienender Zweck sei (RdNr. 63).

14. Durch das Verbot betäubungslosen Schlachtens wird der Wesensgehalt von Art. 10 GRCh angetastet. Das belgische Gesetz ist schon aus diesem Grund mit Art. 10 GRCh unvereinbar.

Nein!

Der Wesensgehalt (Art. 52 Abs. 1 GRCh) schützt den Grundrechtskern. Nach dem EuGH ist er gewahrt, wenn die Gewährleistung des Grundrechts durch den Eingriff nicht in Frage gestellt wird. Der Generalanwalt sah vorliegend noch den "Kern" der religiösen Praxis betroffen. Der EuGH hingegen erkennt nur einen Eingriff in einen Teilbereich der Religionsausübung, nämlich in "einen Aspekt der spezifischen rituellen Handlung", der das Ritual oder die Religion als solche nicht verbiete. Der Wesensgehalt werde daher nicht tangiert (RdNr. 61).

15. Der Eingriff muss auch verhältnismäßig, d.h. geeignet und erforderlich sein, und die dadurch bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.

Genau, so ist das!

Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit vollzieht sich strukturell entsprechend der Grundrechtsprüfung nach dem GG. Dabei legt der EuGH regelmäßig geringeres Gewicht auf den Aspekt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. der Angemessenheit als das BVerfG. EuGH: Das Verbot betäubungslosen Schlachtens ist geeignet, den Zweck des Tierschutzes zu erreichen (RdNr. 66). Es ist auch erforderlich, d.h. es gibt kein gleich geeignetes, milderes Mittel. Denn es sei "wissenschaftlicher Konsens darüber entstanden, dass die vorherige Betäubung das beste Mittel ist, um das Leiden des Tieres zum Zeitpunkt seiner Tötung zu verringern" (RdNr. 72).

16. Das Verbot muss auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Der Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) wiegt dabei allenfalls mittelschwer.

Ja, in der Tat!

EuGH: Die Produktion von Fleisch stelle nur einen Aspekt der Religionsfreiheit dar, und rituell geschlachtetes Fleisch sei weiterhin aus anderen Regionen beziehbar (RdNr. 78). Deshalb ist der Eingriff nur mittelschwer. Zudem verhindern bestimmte Betäubungsarten nicht, dass das Tier an der Entblutung stirbt. Deshalb könne das religiöse Gebot - das Ausbluten der Tiere - auch mit Betäubung eingehalten werden, die Betäubung stehe einer korrekten rituellen Schlachtung nicht vollständig entgegen (RdNr. 75). Letzteres erscheint kritikwürdig: Denn der EuGH begibt sich damit in die Nähe einer Interpretation der Glaubensgebote der betroffenen Religionsgemeinschaften.

17. Das Tierwohl (Art. 13 AEUV) ist ein Rechtsgut von hohem Rang und vorliegend schwerwiegend betroffen. Es kann den mittelschweren Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) rechtfertigen.

Ja!

Bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion billigt der EuGH - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR - den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum zu. Welcher Rang dem Tierschutz im Verhältnis zur Religion zukommt, hänge von den Vorstellungen des jeweiligen Mitgliedsstaates ab. Darauf habe der Verordnungsgeber auch bewusst Rücksicht genommen (RdNr. 71, 77). Belgien habe dem Tierschutz den höchsten Rang einräumen wollen und mit dem Verbot betäubungsloser Schlachtungen seinen Spielraum nicht überschritten (RdNr. 79). Durch das Verbot betäubungslosen Schlachtens werde die Religionsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 GRCh nicht verletzt.

18. Die jagdliche Tötung von Tieren ist vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen. Dass Jäger keiner Betäubungspflicht unterliegen, verstößt gegen die Diskriminierungsverbote der Art. 20ff. GRCh.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Diskriminierungsverbote aus Art. 20, 21 und 22 GRCh sind Ausflüsse des allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (RdNr. 85). Dieser verbietet es, Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich zu behandeln. Der EuGH verneint einen Verstoß. Zwar gehe es in beiden Fällen um die Tötung von Tieren, es liege jedoch keine Vergleichbarkeit vor. Zum einen sei die Fleischproduktion im Rahmen von Jagdveranstaltungen nachrangig und wirtschaftlich unbedeutend (RdNr. 88). Zum anderen Könne man ein betäubtes Tier schlechterdings nicht jagen. Die Gleichbehandlung von Jagd und Schlachtung sei daher schon begrifflich ausgeschlossen.

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SN

Sniter

11.7.2023, 16:25:29

Vielen Dank für Eure Aufbereitung des Falls!

Whale

Whale

10.6.2024, 12:55:40

Hier wird Primärrecht als Rechtfertigungsgrund herangezogen. Kann grds. auch anderes Sekundärrecht als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommen?


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