Ablehnung eines Richters wegen Voräußerungen in einem anderen Verfahren


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A ist afghanischer Staatsangehöriger. Sein Asylantrag in Deutschland wird abgelehnt. Dagegen erhebt A Klage. Im Klageverfahren lehnt A den zuständigen Einzelrichter R wegen Besorgnis der Befangenheit ab: R hatte 2019 in einem Urteil gegen Migration gewettert. Das VG weist As Ablehnungsantrag zurück.

Einordnung des Falls

Ablehnung eines Richters wegen Voräußerungen in einem anderen Verfahren

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A kann gegen die zurückweisende Entscheidung des VG über As Ablehnungsantrag die Verfassungsbeschwerde erheben (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG).

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Genau, so ist das!

Verfassungsbeschwerde kann jedermann erheben mit der Behauptung der Verletzung in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht. Tauglicher Beschwerdegegenstand ist jeder Akt der öffentlichen Gewalt (§ 90 Abs. 1 BVerfGG), also staatliches Handeln oder Unterlassen. Die Ablehnung von As Befangenheitsantrags durch das VG ist als judikatives Handeln ein Akt öffentlicher Gewalt i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG und damit ein tauglicher Beschwerdegegenstand. Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit richtet sich nach § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 2 ZPO. Der Befangenheitsantrag muss bei dem Gericht, dem der abgelehnte Richter angehört, eingebracht werden (§ 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 44 Abs. 1 HS 1 ZPO). Dieses entscheidet dann über das Ablehnungsgesuch durch Beschluss, aber ohne Beteiligung des Abgelehnten (§ 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 45 Abs. 1, 46 Abs. 1 ZPO).

2. Damit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, müsste A beschwerdebefugt sein.

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Ja, in der Tat!

Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass der Beschwerdeführer beschwerdebefugt ist. Das heißt, er muss behaupten können, möglicherweise selbst, unmittelbar und gegenwärtig in eigenen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten betroffen zu sein. Die Beschwerdebefugnis gewährleistet die Funktion der Verfassungsbeschwerde als ein Verfahren zur Wahrung subjektiver Rechtspositionen. Es handelt sich gerade nicht um ein objektiviertes Verfahren. Durch die Beschwerdebefugnis wird sichergestellt, dass Popularverfassungsbeschwerden ausgeschlossen sind (Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 95. EL Juli 2021, Art. 93 RdNr. 350).

3. A kann unter Verweis auf die mögliche Befangenheit von R eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) rügen. Er ist beschwerdebefugt.

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Ja!

Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ist ein Justizgrundrecht und Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Es beinhaltet, dass (1) immer nur der Richter tätig wird, der durch Gesetze und Geschäftsverteilungspläne vorgesehen ist und (2) der so zugeteilte Richter neutral und unabhängig urteilt (RdNr. 14). Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass R gegenüber A befangen war: R hatte 2019 in einer Urteilsbegründung gegen Migration gewettert. A kann also behaupten, dass R ihm gegenüber nicht neutral und unparteilich ist. Das VG hatte den Befangenheitsantrag des A aber abgelehnt und ihm damit den gesetzlichen Richter entzogen. Im Examen ist das Recht auf den gesetzlichen Richter eher selten Thema. Daher wird von Dir keine vertiefte Kenntnis verlangt. Wichtig ist, dass Du die Sachverhaltshinweise verwertest (z.B. das Urteil des R aus 2019) und siehst, dass ein befangener Richter nicht über das Verfahren des A entscheiden können darf. In der Beschwerdebefugnis geht es außerdem zunächst nur um die Möglichkeit einer Verletzung.

4. Eine Verfassungsbeschwerde ist zulässig, auch wenn der Beschwerdeführer andere prozessuale Möglichkeiten hatte, die Grundrechtsverletzung zu korrigieren.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: Der Beschwerdeführer muss i.d.R. vor der Verfassungsbeschwerde (1) alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die Verfassungsverletzung zu korrigieren, und (2) bereits fachgerichtlich substantiiert die Grundrechtsverletzung rügen, ansonsten ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig Gegen die Zurückweisung des Befangenheitsantrags durch das VG ist nur die Anhörungsrüge (§ 152a VwGO) denkbar (§ 146 Abs. 1 VwGO). Gegen das spätere Urteil des befangenen Richters ist die Berufung möglich, wenn es auf grundlegender Verkennung der Bedeutung und Tragweite der Garantie des gesetzlichen Richters beruht (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) (SchochKoVwGO/Meissner/Schenk RdNr. 60). Dieses Wissen wird von Dir nicht verlangt. Im Originalfall waren für A übrigens beide genannten Möglichkeiten unzumutbar, sodass die Subsidiarität nicht eingriff und die Verfassungsbeschwerde zulässig ist.

5. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die Entscheidung des VG in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt ist.

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Ja, in der Tat!

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht verletzt ist (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Das BVerfG ist aber keine Superrevisionsinstanz. Es überprüft nur auf Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts. Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts obliegt den Fachgerichten. Geprüft wird (1) die Verfassungsmäßigkeit der entscheidenden Normen, (2) ob das Fachgericht die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte grundlegend verkannt (3) oder einschlägige Grundrechte gar nicht erkannt hat, und (4) ob die fachgerichtliche Entscheidung gegen Justizgrundrechte verstoßen hat. Das BVerfG überprüft den VG-Beschluss auf die Verletzung von As Grundrechten. Entscheidend ist, ob der Beschluss die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf den gesetzlichen Richter verkennt, indem es den Befangenheitsantrag abgelehnt hat. Justizgrundrechte prüfst Du genauso wie andere Grundrechte nach dem Schema Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung.

6. A hatte hinsichtlich des Urteils aus 2019 erkennbar eine andere Rechtsauffassung vertreten als R. Schon deshalb war der VG-Beschluss, den Befangenheitsantrag des A abzulehnen, willkürlich und verfassungswidrig.

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Nein!

Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ist dann verletzt, wenn der VG-Beschluss, der den Befangenheitsantrag ablehnte, willkürlich war. Das bedeutet, nicht jede irrtümlich fehlerhafte Rechtsanwendung oder Fehlanwendung von Verfahrensvorschriften reicht für eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aus (RdNr. 15). Verfassungswidrig war der VG-Beschluss erst, wenn er „in einer bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt, oder wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt“ (RdNr. 15). Der VG-Beschluss war willkürlich, wenn das VG sachfremde, unhaltbare und nicht mehr nachvollziehbare Erwägungen anstellte, als es R erlaubte, über das Klageverfahren des A zu entscheiden. Das VG musste sich damit auseinandersetzen, ob die Urteilsbegründung des R von 2019, in der er sich migrationsfeindlich äußerte, offensichtlich Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des R gegenüber Asylsuchenden und Zuwanderern in Deutschland begründen konnte.

7. Im Urteil aus 2019 hatte R das NPD-Wahlplakat „Stoppt die Invasion: Migration tötet“ genehmigt und gegen Zuwanderung gehetzt. Deshalb war der VG-Beschluss, den Befangenheitsantrag des A abzulehnen, willkürlich und verfassungswidrig.

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Genau, so ist das!

Willkürlich war der VG-Beschluss, wenn er auf einer grundlegenden Verkennung des Rechts auf den gesetzlichen Richter beruhte. BVerfG: Das VG hat nicht beachtet, dass das Ablehnungsgesuch des A nicht auf Kritik an der Rechtsauffassung des R von 2019 gestützt war, sondern darauf, dass aufgrund von Rs Urteil aus 2019 deutliche Anhaltspunkte vorlagen, um an der Unvoreingenommenheit des R gegenüber dem Asylbewerber A zu zweifeln (RdNr. 17, 18). Rs Urteilsbegründung von 2019 sei offensichtlich geeignet, Misstrauen des A gegen die Unparteilichkeit des R zu begründen, da A - 2016 nach Deutschland eingereist - selbst Teil der von R in Bezug genommenen Gruppe ist (RdNr. 19). BVerfG: „Damit steht es dem genannten Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält“ (RdNr. 18). Der VG-Beschluss, den Befangenheitsantrag abzulehnen, war also willkürlich und die Verfassungsbeschwerde begründet.

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PPAA

Philipp Paasch

19.7.2022, 23:50:52

Finde es natürlich schon stramm, dass der Richter geschrieben hat „Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut des inkriminierten Wahlplakats der Klägerin ‚Migration tötet‘ nicht als volksverhetzend zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten. In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. […] Allein dem erkennenden Gericht sind Fälle bekannt, in denen Asylbewerber zu Mördern wurden." Da bei einer Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit der Schein genügt, scheint die VB begründet zu sein. 🙈

NJGHD

NJGHD

28.7.2022, 12:57:55

Guter Kommentar, das verdeutlich nochmal das Urteil

Simon

Simon

23.11.2023, 22:23:41

Warum war gegen den Beschluss des VG nicht die sofortige Beschwerde gem. § 54 I VwGO iVm § 46 II Alt. 2 ZPO und § 146 I VwGO statthaft?


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