Öffentliches Recht

Grundrechte

Körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG)

Impfzwang – Eingriff in körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG)?

Impfzwang – Eingriff in körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG)?

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

§ 20 Abs. 6 S. 1 Infektionsschutzgesetz ermächtigt das Bundesministerium für Gesundheit, Impfpflichten aufzustellen. So erlässt es eine Verordnung, dass fortan alle Kinder gegen Masern geimpft werden müssen. Impfgegnerin I sieht darin eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ihres Kindes.

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Einordnung des Falls

Impfzwang – Eingriff in körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG)?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist eröffnet.

Ja!

Der sachliche Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) schützt die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinn. Durch das Impfen würde diese beeinträchtigt werden. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist eröffnet. Der persönliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) ist bei natürlichen Personen (hier: das Kind der I) stets eröffnet, sodass du diesen Punkt kurzhalten kannst.
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2. Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt.

Genau, so ist das!

Der Wille, sich nicht behandeln zu lassen, ist regelmäßig zu beachten. Deshalb ist unbedingt eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage notwendig. Das Bundesministerium für Gesundheit ist ermächtigt, Impfpflichten aufzustellen (§ 20 Abs. 6 S. 1 Infektionsschutzgesetz). Der Impfzwang stellt eine Zwangsbehandlung dar, welche jedoch dadurch gerechtfertigt werden kann, dass die dadurch verhinderten Krankheiten ansonsten die Gesundheit anderer Menschen schwer gefährden würden. Masern sind keinesfalls harmlos und führen in einer beachtlichen Vielzahl von Fällen zu lebensbedrohlichen Zuständen und Behinderungen. Zudem kann ein effektiver Schutz nur erreicht werden, wenn jeder geimpft ist. Der Eingriff ist hier also zum Wohle der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt.

3. Es liegt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder vor, die geimpft werden.

Ja, in der Tat!

Ein Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (moderner Eingriffsbegriff). Beim Impfen gegen Masern bekommen die geimpften Kinder durch eine Nadel den Impfstoff injiziert. Die körperliche Integrität wird dadurch beeinträchtigt. Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der geimpften Kinder liegt vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

5.4.2020, 12:58:27

Ich bin gerade ein bisschen schockiert darüber, dass das Thema Masern-Impfpflicht offenbar ein so alter Hut ist. Manohman.

JANA

janaro

19.4.2022, 17:06:45

Nach 60 Jahren führen wir leider immer noch die gleichen Diskussionen wie damals… Die Argumente der Impfgegner sind auch nicht gerade besser geworden! :D

CANDM

CanDMRCV

5.5.2020, 17:29:27

Die erste Frage ist irreführend. Hinsichtlich I, der kein Kind zu sein scheint, ist der persönliche Schutzbereich ja nicht eröffnet..

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

13.10.2020, 22:42:39

Hallo CanDMRCV, danke für die Anmerkung, wir haben den Sachverhalt leicht angepasst. Jetzt sorgt sich I um sein Kind.

frausummer

frausummer

11.11.2021, 07:26:14

Ich finde die Fragen etwas irreführend. Gefragt ist nach einem Eingriff für bereits geimpfte Kinder. Diese sind ja doch schon geimpft, bevor die Verordnung erlassen worden ist, wonach für mich kein Eingriff vorliegt. Es geht doch um einen Eingriff bei noch zu impfenden Kindern.

VIC

Victor

12.11.2021, 09:46:40

Ich denke das ist so zu verstehen, dass die Verordnung erlassen ist. Und dann die Kinder daraufhin geimpft wurden. Dann liegt ein Eingriff vor.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.11.2021, 17:01:02

Genau so ist es, Victor. Wir haben zur Klarstellung aber den Satz etwas umformuliert. Danke euch beiden :) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

TAME

Tamer

23.12.2021, 00:24:35

Könnte sich also das Bundesgesundheitsministerium derzeit auf 20 Abs. 6 S. 1 IfSG stützen, um (mit Zustimmung des Bundesrates) eine allgemein verpflichtende Corona-Schutzimpfungs-Verodnung zu erlassen? Oder scheitert dies am Wortlaut: "bedrohte Teile der Bevölkerung", weil Corona die gesamte Bevölkerung in Deutschland bedroht und es daher der Entscheidung des Bundestages und Bundesrates über die allgemeine Impfpflicht durch Gesetz bedarf? (Stichwort:

Wesentlichkeitstheorie

) Danke vorab 🙂 LG Tamer

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

23.12.2021, 18:25:35

Hallo Tamer, danke für deine Frage, die ohne Zweifel aktueller nicht sein könnte (Zugegebenermaßen haben wir uns bei Erarbeitung dieser Aufgabe vor zwei Jahren keine Gedanken über eine Corona-Impfpflicht gemacht…). Zu deiner Frage (über die man wohl m

ehre

re Dissertationen schreiben könnte): § 20 Abs. 6 IfSG enthält lediglich eine Verordnungsermächtigung. Die Verordnung selbst - und die darin enthaltene Impfpflicht - muss ihrerseits verfassungskonform, insbesondere verhältnismäßig sein. Darüber lässt sich trefflich streiten. Am legitimen Zweck und an der Geeignetheit hätte ich keine Zweifel. Eine Herausforderung könnte die Erforderlichkeit darstellen: Es darf kein gleich geeignetes, milderes Mittel als die Impfpflicht zur Erreichung des Zwecks geben. Das ist mit Blick auf die enorme Eingriffsintensität der Impfpflicht nicht unproblematisch. Hierbei ist aber auch zu berücksichtigen, was das BVerfG in seinem Beschluss vom 19.11.2021 (1 BvR 781/21 u.a.) zu Corona-Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen (Bundesnotbremse I) festgehalten hat: „Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur

Zweckerreichung

muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen.“ (RdNr. 203). Bei der Angemessenheit schließlich spielt wie immer die Musik. Hier sind die

Rechtsgüter

der Ungeimpften, durch die Impfpflicht verpflichteten Grundrechtsträger:innen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) abzuwägen gegen die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, die staatliche Schutzpflicht für die Gesundheit und das Leben ( Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG) der vom Corona-Virus besonders gefährdeten Personengruppen sowie ggf. die Grundrechte derer, die infolge von Corona-bedingten Beschränkungen Freiheitseinbußen (u.a. Art. 12 Abs. 1 GG) dulden müssen. Nach meinem Dafürhalten ließe sich eine Corona-Impfpflicht verfassungsrechtlich rechtfertigten. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

TAME

Tamer

23.12.2021, 19:14:33

Vielen Dank für diese ausführliche und sehr aufschlussreiche Antwort 🙂. Wenn ich das Ganze richtig verstehe, muss also nicht zwingend der Bundestag über diese allgemeine Impfpflicht entscheiden bzw. hierfür beteiligt werden. Es würde also ausreichen, wenn die entsprechende Verordnung des Gesundheitsministeriums verfassungskonform ist, oder?

JANA

janaro

19.4.2022, 17:05:19

Eine Verordnung würde hier wahrscheinlich wegen des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitsl

ehre

scheitern, weil es ein so erheblicher Grundrechtseingriff ist, nehme ich an.

CLA

chuck lawris

17.1.2022, 08:35:27

Und wenn das Kind dann vollbehindert wird? -> BayLSG vom 15. Dez 2015 (AZ: L 15 VJ 4/12)? Wäre der Eingriff dann rückblickend auch gerechtfertigt gewesen? Ich verstehe nicht, wieso man bei BVerfGE z Luftsicherheitsgesetz sagt, dass ein paar wenige nicht für ein paar viele geopfert werden dürfen und das bei dieser Sache in abstracto anders ist. Solange und soweit es möglich bleibt, dass jemand schwere Nebenwirkungen hat, würde man doch den Achtungsanspruch des dann jeweils Betroffenen in Frage stellen und zeitgleich ausdrücken, dass sein Leben weniger wert sei...?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.1.2022, 19:12:29

Vielen Dank für Deinen Beitrag, chuck lawris. Die Fälle sind allerdigs nur bedingt vergleichbar, da sie sich in zwei maßgeblichen Punkten unterscheiden. Zum einen sind hier unterschiedliche

Rechtsgüter

betroffen. Während bei einem Abschuss eines gekaperten Flugzeuges direkt das Rechtsgut Leben beeinträchtigt wird, so stellt die Impfpflicht in erster Linie einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Zum anderen operiert man hier mit gänzlich anderen Wahrscheinlichkeiten. Während bei dem Abschuss der Tod aller Unbeteiligten als sicher in Kauf genommen wird, so besteht bei der Impfung lediglich das (sehr geringe) Risiko von möglichen Impfschäden. Hinzu kommt, dass die Aufopferung des Einzelnen hier nicht nur der Gesellschaft, sondern letztlich auch dem eigenen Schutz dient.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.1.2022, 19:16:45

Selbstverständlich muss die Einführung einer Impfpflicht, wie sie gerade diskutiert wird, von hinreichend gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen begleitet werden. Liegt eine solche allerdings vor, so dürften die verfassungsrechtlichen Vorgaben gewahrt sein. Selbst im Falle schwerer Nebenwirkungen bleibt der Eingriff damit gerechtfertigt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CLA

chuck lawris

17.1.2022, 21:04:40

Danke für Deine Antwort! 👍 Dass es für den Einzelnen eine geringe Wahrscheinlichkeit gibt, einen schwereren Schaden oder im warst case gar den Tod zu erleiden, würde doch aber nicht dazu führen, dass es insg. nur eine geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen Nebenwirkung gibt. Anderenfalls wäre es doch nur ein zahlenmäßiges Verhältnis. Damit meine ich, dass es keine Rolle spielen dürfte, ob ich jetzt weiß, dass bei einem von 10.000 mit Sicherheit ein schwerer Schaden auftreten wird oder eben weiß, dass ich mit Sicherheit 50 Menschen töte, wenn ich sie vom Himmel schieße, damit aber 300 rette. Dass es auch Eigenschutz ist, finde ich als Argument ein weng fraglich, da dieser ja grundsätzlich dem freien Willen unterliegt. Suizid ist auch in freier Selbtbestimmung erlaubt 🤷‍♂️

Snow

Snow

16.10.2023, 18:35:32

Sehe ich genauso, die Argumentation pro Impfpflicht wägt Leben gegen Leben ab. Einzige Ausnahme wäre, wenn 100% ausgeschlossen werden kann dass eine einzige Person stirbt, was derzeit unmöglich ist. Insofern werden hier eine unbestimmte Anzahl an Menschen getötet und verletzt um eine ebenfalls unbestimmte aber wohl höhere Anzahl zu retten. Da besteht nicht wirklich ein Unterschied zum Flugzeug Abschuss.

GNU

Gnu

30.1.2023, 13:48:43

Könnte es hier zu einem Problem mit der

Wesentlichkeitstheorie

kommen, nach der der Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen selbst regeln muss (und eben unter Umständen nicht per Verordnungsermächtigung an die Regierung delegieren darf)?

Rechthaber

Rechthaber

3.11.2023, 20:12:53

kann man auch an das

apr

denken in der Ausprägung selbstbestimmt über medizinische Behandlungen zu entscheiden, zumal die Impfdiskussion in der Bevölkerung schon fast identitätsstifte Charakterzüge angenommen hat

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

12.11.2024, 09:24:36

Hallo @[Rechthaber](162337), darüber kann man definitiv nachdenken. Das

APR

kann schon bzgl des Impfvorgangs selbst relevant werden (dazu zB Hofmann/Neuhöfer, NVwZ 2022, 19, 22 f), auch wenn insoweit schon das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art 2 II 1 GG greift und ein höheres Schutzniveau als das

APR

bieten dürfte. Konsequenterweise findet man Stellungnahmen zu einer Impfpflicht auch üblicherweise in den Kommentierungen zu Art 2 II 1 GG (s zB Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl 2024, Art 2 Rn 120; Dreier/Krüper, GG, 4. Aufl 2023, Art 2 II 1 Rn 73 ff). Relevant wird das

APR

in seiner Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung aber jedenfalls dann, wenn es darum geht, seinen Impfstatus zu offenbaren und anderen Personen oder Institutionen mitzuteilen - was ja in aller Regel mit einer Impfpflicht einhergehen wird. Soweit Du hier nicht zu Unrecht auf "identitätsstiftende Charakterzüge" verweist, wird man auch Art 4 I GG ins Spiel bringen können. Die unserem Fall zugrunde liegende Entscheidung des BVerwG stammt natürlich noch aus einer anderen Zeit: Ende der 1950er ging es damals um die Pockenschutzimpfung für Kinder, lange vor Corona und lange bevor das

APR

auch nur ansatzweise seine heutige Bedeutung erlangte. Das Wort "Persönlichkeitsrecht" taucht dementsprechend in den Urteilsgründen überhaupt nicht auf. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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