Brogsitter: Unerlässlichkeit

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

U ist Uhrenmacherin aus Deutschland. U und die Französin F schließen einen Vertrag, in welchem sich F verpflichtet, ausschließlich für U Uhrenwerke in Deutschland herzustellen. Parallel entwickelt und verkauft F Uhrwerke anderer Konstruktion in Frankreich weiter an andere Abnehmer.

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Einordnung des Falls

Brogsitter: Unerlässlichkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist der Anwendungsbereich der EuGVVO eröffnet?

Ja!

Die EuGVVO ist auf Zivil- und Handelssachen anzuwenden, die am 10.01.2015 oder danach eingeleitet wurden. Der räumlich-persönliche Anwendungsbereich setzt grundsätzlich voraus, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat hat (arg e Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 EuGVVO). In Frage kommen hier vertragliche und deliktische Ansprüche gegen F. Diese resultieren aus einem zivilrechtlichen Verhältnis zwischen U und F. Mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass der Sachverhalt in der Gegenwart und damit nach dem 10.01.2015 spielt. F lebt in Frankreich, hat also ihren Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist somit eröffnet.
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2. U könnte F bei ihrem allgemeinen Gerichtsstand in Frankreich verklagen (Art. 4 Abs. 1 EuGVVO).

Genau, so ist das!

Art. 4 EuGVVO regelt den sog. allgemeinen Gerichtsstand. Demnach kann ein Beklagter immer in seinem Wohnsitzstaat verklagt werden. Dies gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Beklagten. Am allgemeinen Gerichtsstand können jegliche Arten von Ansprüchen geltend gemacht werden. U kann F also in Frankreich verklagen. Die Norm regelt die internationale Zuständigkeit. Sie sagt noch nichts über die örtliche Zuständigkeit, also die Zuständigkeit des Gerichts innerhalb des Mitgliedsstaats aus.

3. Wenn der besondere Gerichtsstand des Vertrags gegeben ist, schließt dieser eine Klage am allgemeinen Gerichtsstand aus (Art. 7 EuGVVO).

Nein, das trifft nicht zu!

Die besonderen Gerichtsstände bestehen alternativ neben dem allgemeinen Gerichtsstand. Sie gehen also nicht als speziellere Gerichtsstände vor, sondern begründen zusätzliche, konkurrierende Gerichtsstände. Nachteil der besonderen Gerichtsstände ist, dass nur bestimmte Gruppen von Ansprüchen eingeklagt werden können. Am vertraglichen Gerichtsstand können also nur vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden. Es besteht keine Annexkompetenz bezüglich Ansprüchen anderer Natur. Es ist natürlich denkbar, dass unterschiedliche besondere Gerichtsstände dasselbe Gericht für zuständig erklären, dann können dort auch unterschiedliche Anspruchsarten geltend gemacht werden.

4. Für den Begriff der „unerlaubten Handlung“ kann man auf das nationale materielle Recht (§§ 823 ff. BGB) abstellen.

Nein!

Der Begriff der unerlaubten Handlung ist verordnungsautonom auszulegen. Danach umfasst eine unerlaubte Handlung i.S.d. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO jede Schadenshaftung des Beklagten, die nicht an einen Vertrag i.S.d. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO anknüpft. Darunter fallen auch Ansprüche aus vorvertraglichen Schuldverhältnissen (c.i.c.). Nach dem EuGH kann aber eine (verordnungsautonome) Auslegung ergeben, dass Ansprüche, die eigentlich unter diese Definition fallen, ausnahmsweise als vertragliche Ansprüche einzustufen sind. ‌

5. Unter bestimmten Umständen können deliktische Ansprüche unter die vertraglichen Ansprüche i.S.d. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO fallen.

Genau, so ist das!

In der wichtigen Brogsitter-Entscheidung des EuGH hat dieser den Anwendungsbereich des Vertragsgerichtsstands deutlich zulasten des Deliktsgerichtsstands ausgedehnt. Danach sind die nach nationalem Recht als deliktisch zu qualifizierende Ansprüche ausnahmsweise als vertraglich im Sinne der EuGVVO zu qualifizieren, wenn der Grund des Schadensersatzanspruchs „bei vernünftiger Betrachtungsweise in einem Verstoß gegen“ den Vertrag „gesehen werden kann, so dass dessen Berücksichtigung für die Entscheidung über die Klage zwingend erforderlich ist“. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn eine Vertragsauslegung unerlässlich ist, um festzustellen, ob das vorgeworfene Verhalten rechtswidrig ist.

6. Ist es unerlässlich, den Vertrag zwischen U und F auszulegen, um zu beurteilen, ob die Entwicklung und der Verkauf von Uhrwerken anderer Konstruktion an andere Abnehmer rechtswidrig war?

Ja, in der Tat!

Nach der Brogsitter-Rechtsprechung sind deliktische Ansprüche vertraglich i.S.d. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO, wenn der Grund des Schadensersatzanspruchs „bei vernünftiger Betrachtungsweise in einem Verstoß gegen“ den Vertrag „gesehen werden kann […]“. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn eine Vertragsauslegung unerlässlich ist, um festzustellen, ob das vorgeworfene Verhalten rechtswidrig ist. Hätten U und F nicht vertraglich ausgeschlossen, dass F ausschließlich für U Uhrwerke herstellen soll, wäre nicht ersichtlich, warum die Entwicklung und der Verkauf von Uhrwerken anderer Konstruktion an andere Abnehmer rechtswidrig war. Die Vertragsauslegung war dafür unerlässlich.

7. U kann Ansprüche einheitlich am Vertragsgerichtsstand (Art. 7 Nr. 1 EuGVVO) geltend machen.

Ja!

Sind die Voraussetzungen der Brogsitter-Rechtsprechung erfüllt, wird der nach nationalem Recht als deliktisch zu qualifizierende Anspruch als vertraglicher Anspruch im Sinne der EuGVVO angesehen. Dann richtet sich die Zuständigkeit nur nach dem Vertragsgerichtsstand. Der Deliktsgerichtsstand ist nicht einschlägig. U kann einen Verstoß gegen Wettbewerbsrecht (gegebenenfalls i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB) und Ansprüche aus Vertragsverletzung am Vertragsgerichtsstand in Deutschland (Erfüllungsort) geltend machen. Daneben besteht immer noch die Möglichkeit der Klage am allgemeinen Gerichtsstand in Frankreich.
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