BVerfG, Masernimpfpflicht verfassungsgemäß

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das Masernschutzgesetz (MSG) sieht vor, dass Kinder, die in Kindertageseinrichtungen betreut sind, oder die dort tätigen Personen gegen Masern geimpft oder immun sein müssen. Ansonsten kann ihnen der Zugang zu diesen Einrichtungen untersagt werden. Masern sind hochansteckend und können zu schwersten Krankheitsverläufen führen.

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Einordnung des Falls

BVerfG, Masernimpfpflicht verfassungsgemäß

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Einige Eltern sehen sich bzw. ihre Kinder durch diese „Impfpflicht“ in ihren Grundrechten verletzt. Sind die Kinder im Verfahren der Verfassungsbeschwerde beschwerdefähig?

Genau, so ist das!

Nach § 90 Abs. 1 BVerfGG kann „jedermann“ Verfassungsbeschwerde erheben. „Jedermann“ ist dabei derjenige, der Träger von Grundrechten bzw. den in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten grundrechtsgleichen Rechten sein kann. BVerfG: „Kinder sind Träger von allen Grundrechten, auch wenn sie diese aus tatsächlichen Gründen nicht von Anfang an vollumfänglich wahrnehmen können (RdNr. 47)“. Sie sind somit beschwerdefähig i.S.d. § 90 Abs. 1 BVerfGG. Die Kinder sahen sich hier verletzt in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und in ihrem grundrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG). Die Eltern rügten eine Verletzung ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG).
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2. Beschwerdebefugt ist, wer behaupten kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein (§ 90 Abs. 1 BVerfGG).

Ja, in der Tat!

Zur Annahme der Beschwerdebefugnis muss die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung substantiiert dargelegt werden, d.h. eine solche darf nach dem Vorbringen nicht offensichtlich ausgeschlossen sein. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung erfordert, dass der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist. Die Beschwerdeführer haben hier die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung hinreichend substantiiert dargelegt (RdNr. 51ff.). Insbesondere betreffen die angegriffenen Bestimmungen sie unmittelbar, weil sie keines weiteren Vollzugsakts bedürfen, sondern direkt in die Rechtsstellung der Beschwerdeführer eingreifen (selbstvollziehendes Gesetz). Die Verfassungsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig.

3. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die angegriffenen Regelungen die Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführer verletzen. Dafür muss zunächst der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechte eröffnet sein.

Ja!

Der Prüfungsmaßstab der Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde – und der Obersatz der Prüfung – folgt direkt aus dem Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG. Achtung: Prüfungsmaßstab der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde sind seit der „Recht auf Vergessen II“-Entscheidung des BVerfG auch die Grundrechte der GRCh. Ihre Einhaltung überprüft das BVerfG als funktionales Unionsgericht. Die Mitgliedstaaten sind bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) nur an die Unionsgrundrechte gebunden. Der Regelungsgegenstand muss vollständig unionsrechtlich determiniert sein.

4. Die Eltern berufen sich auf das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Garantiert Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder, mit der Folge, dass der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegend eröffnet ist?

Genau, so ist das!

Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten. Ihnen steht ein verfassungsrechtlich geschützter Einfluss auf sämtliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes zu. Dazu gehört grundsätzlich auch die Sorge für das körperliche Wohl, darunter auch die Gesundheitssorge, und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen (RdNr. 68). Die Entscheidung über die Vornahme einer Impfung fällt somit in den Schutzbereich des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) (RdNr. 69). Daneben ist auch der Schutzbereich des Rechts der Kinder auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) eröffnet. Das BVerfG betont, dass das Kindeswohl die maßgebliche Richtschnur des Elternrechts bildet. Wenn dem Kind entwicklungsbedingt noch die für die Selbstbestimmung über seine körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit fehle, werde das Elternrecht daher durch das Kindeswohl geleitet und durch die Kindeswohlgefährdung begrenzt (RdNr. 67).

5. Die angegriffenen Regelungen müssten in die einschlägigen Grundrechte auch eingreifen. Ist der Grundrechtsschutz auf unmittelbar zielgerichtete Eingriffe beschränkt?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Grundrechtsschutz beschränkt sich nicht auf die Abwehr „klassischer“ Eingriffe, sondern erfasst unter bestimmten Voraussetzungen auch faktische oder mittelbare Eingriffe („moderner Eingriffsbegriff“). Die eingriffsgleiche Wirkung ist aber erst zu bejahen, wenn die mittelbar durch die Regelung eintretenden Folgen mehr als ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten Regelung sind. BVerfG: Die Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung und der Verlust der Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlicher Betreuungsangebote bei fehlendem Nachweis komme einer Impfpflicht gleich. Angesichts der an den fehlenden Nachweis geknüpften, gewichtigen nachteiligen Konsequenzen für das Elternrecht, entsprächen die angegriffenen Regelungen nach Zielsetzung und Wirkung einem unmittelbaren staatlichen Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG (RdNr. 73ff.).

6. Zudem greifen die angegriffenen Regelungen zur Nachweispflicht und Betreuungsverbot zielgerichtet mittelbar in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) der Kinder ein.

Ja!

BVerfG: Die angegriffenen Regelungen, die ein Betreuungsverbot bei fehlendem Impfnachweis enthalten, knüpften erhebliche nachteilige Folgen an die Entscheidung der Eltern, ihr Kind nicht impfen zu lassen. Damit übe der Gesetzgeber einen starken Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs zu beeinträchtigen. Insgesamt kämen die Regelungen in ihrer Wirkung auch einem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gleich (RdNr. 77ff.). Sind – wie hier – mehrere Beschwerdeführer vorhanden oder mehrere Grundrechte einschlägig, ist es wichtig, dass Du in Deiner Klausur die Eröffnung des Schutzbereichs einzelner Grundrechte, die einzelnen Eingriffe und auch die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Eingriffe sauber separat prüfst. Bei inhaltlichen Wiederholungen kannst Du dann nach oben verweisen.

7. Grundrechtseingriffe bedürfen zu ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Reicht es aus, dass die zugrundeliegende gesetzliche Regelung materiell verfassungsgemäß ist?

Nein, das ist nicht der Fall!

Jedes Gesetz, durch das in Grundrechte eingegriffen wird, muss formell und materiell verfassungsgemäß sein. Die Prüfungspunkte der formellen Verfassungsmäßigkeit sind: (1) Gesetzgebungskompetenz, (2) Gesetzgebungsverfahren und (3) Form. Dabei muss das Gesetz auch das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) beachten. Um materiell verfassungsgemäß zu sein, muss ein Gesetz den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes und der Wesentlichkeitstheorie entsprechen. Kern der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich hier aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, da es sich bei den angegriffenen Vorschriften nach ihrem unmittelbaren Regelungsgegenstand, dem Normzweck und der Wirkung um Maßnahmen gegen eine übertragbare Krankheit handelt.

8. Das Demokratie- (Art 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber wesentliche Fragen selbst regelt.

Ja, in der Tat!

„Wesentlich“ meint dabei zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“ und zum anderen Fragen, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Nach Ansicht des BVerfG genügte die einschlägige Regelung des § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG diesen Anforderungen nicht, wenn sie so zu verstehen wäre, dass die Nachweispflicht auch gilt, wenn nur Masern-Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthalten. Denn so verstanden, wirkte die Vorschrift ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Nachweispflicht einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten gelte (RdNr. 95f.).

9. Lässt sich § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform dahingehend auslegen, dass die Nachweispflicht bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn diese keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken?

Ja!

Sind bei der Auslegung eines Gesetzes mehrere Deutungen möglich, ist diejenige zu wählen, die im Ergebnis zu einer Vereinbarkeit mit der Verfassung kommt (verfassungskonforme Auslegung). Dieser Grundsatz findet seine Grenze dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. BVerfG: § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Nachweispflicht bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Daher würden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung gewahrt (RdNr. 98ff.).

10. Jeder Grundrechtseingriff muss verhältnismäßig sein.

Genau, so ist das!

Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie (1) einen legitimen Zweck verfolgt und zu dessen Erreichung (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen ist. Den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit musst Du im Rahmen materiellen Verfassungsmäßigkeit immer prüfen. Die Pflicht, für den Fall einer Betreuung in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, sowie das bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Betreuungsverbot dienen dem Schutz vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung und damit einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck (RdNr. 103ff.).

11. Ist die auf Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen bezogene Nachweispflicht und das Betreuungsverbot im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die mit dem MSG verfolgten Zwecke zu erreichen?

Ja, in der Tat!

Verfassungsrechtlich ist für die Eignung die Möglichkeit ausreichend, durch die gesetzliche Regelung den angestrebten Zweck zu erreichen. Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördert oder sich sogar gegenläufig auswirken kann. BVerfG: Nach diesem Maßstab sind die angegriffenen Regelungen ein geeignetes Mittel, um vulnerable Personen vor einer Masernerkrankung und damit gegebenenfalls einhergehenden schweren Krankheitsverläufen zu schützen und damit den angestrebten Zweck zu erreichen (RdNr. 114ff.).

12. Es besteht Unsicherheit darüber, ob andere weniger beeinträchtigende als die vom Gesetzgeber gewählten Maßnahmen geeigneter sind. Ist die Nachweispflicht trotzdem erforderlich?

Ja!

Grundrechtseingriffe dürfen nicht weitergehen, als es die Erreichung des legitimen Ziels erfordert (Erforderlichkeit). Daran fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das den Grundrechtsträger weniger und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet (RdNr. 122). Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich auch für die Beurteilung der Erforderlichkeit ein Einschätzungsspielraum zu. BVerfG: Die Überprüfung der Erforderlichkeit der vom Gesetzgeber gewählten Maßnahme ist auf eine Vertretbarkeitskontrolle seiner Eignungseinschätzung beschränkt, da es hier um den Schutz besonders gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter, dem Leben und der Gesundheit vulnerabler Personen, geht. Der Gesetzgeber sei insgesamt vertretbar zu dem Ergebnis gekommen, dass andere weniger beeinträchtigende Maßnahmen wie eine verbesserte Aufklärung und vermehrte Ansprachen nicht gleich geeignet seien (RdNr. 116ff.).

13. Die Angemessenheit einer Maßnahme (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) erfordert, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.

Genau, so ist das!

Der Gesetzgeber muss in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Grundrechtseingriffs auf der einen Seite der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele gegenüberstellen. Hierbei müssen die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Die Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.) ist das Kernstück Deiner Begründetheitsprüfung. Mache nicht den Fehler, hier „zu labern“. Nur eine strukturierte Prüfung überzeugt. Stell dafür – ausgehend vom vorangestellten Maßstab – die betroffenen Rechte gegenüber, äußere Dich abstrakt zu ihrem verfassungsrechtlichen Schutz und bewerte dann einzeln die Tiefe der Eingriffe bzw. die Wichtigkeit der Schutzmaßnahmen (Abwägung). Der Gesetzgeber hat auch bei der Prüfung der Angemessenheit grundsätzlich einen Einschätzungsspielraum. Die verfassungsrechtliche Prüfung bezieht sich dann darauf, ob der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat (RdNr. 130).

14. Wird die Intensität des Eingriffs in das Gesundheitssorgerecht der Eltern dadurch gemindert, dass die Masernimpfung gerade auch dem Gesundheitsschutz der nachweisverpflichteten Kinder selbst dient?

Ja, in der Tat!

Das Grundgesetz aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG überträgt den Eltern die Gesundheitssorge im Interesse des Kindes. Dabei ist ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge weniger schwerwiegend als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Der objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot (RdNr. 134ff.). Gleichzeitig betont das BVerfG, dass die Eingriffsintensität dadurch verstärkt wird, dass die Nachweispflicht vor allem auch dem Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen dient. Denn die Eltern werden dadurch im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt (RdNr. 134).

15. Das bei fehlendem Nachweis einer Masernimpfung geltende Betreuungsverbot ist besonders eingriffsintensiv.

Ja!

Das Betreuungsverbot beeinträchtigt die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit erheblich. Zudem wird das Gewicht des Eingriffs in das Elternrecht dadurch verstärkt, dass ein Betreuungsverbot die Rechtsposition der Kinder erheblich beeinträchtigt. Denn der frühkindlichen Bildung kommt erhebliche Bedeutung für die kindliche Entwicklung zu, da mit ihr grundlegende Dispositionen für das spätere Lernverhalten gelegt werden (RdNr. 139f.).

16. Wird das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit der Kinder dadurch gemindert, dass die die Risiko-Nutzen-Bewertung für eine Masernimpfung spricht?

Genau, so ist das!

Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten. Doch sind kleine Kinder zur Wahrnehmung dieser Autonomie entwicklungsbedingt nicht in der Lage. Die Eltern, die dieses Recht für die Kinder ausüben, sind aber weniger gegen staatliche Vorgaben geschützt als sie es kraft ihres Selbstbestimmungsrechts über ihre eigene körperliche Integrität wären (RdNr. 144).

17. Verfolgt der Gesetzgeber mit den angegriffenen Vorschriften zum Schutz vor einer Masernerkrankung ein überragend gewichtiges Rechtsgut?

Ja, in der Tat!

Es geht hier um den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Personen, insbesondere von vulnerablen Gruppen, die sich nicht selbst durch eine Impfung wirksam schützen können. Dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung kommt ein hohes Gewicht zu. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann folglich eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst (RdNr. 146). Wenn Du – wie voranstehend ausgeführt und vom BVerfG vorgemacht – die miteinander kollidierenden Verfassungsgüter und ihr Gewicht bzw. die Eingriffsintensität der Maßnahmen genau herausarbeitest, machst Du Dir die Prüfung der Angemessenheit in der Klausur leichter und sammelst zugleich Punkte.

18. Der Eingriff in die Grundrechte von Eltern und Kinder ist unverhältnismäßig.

Nein!

BVerfG: Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und Eltern eingeräumt hat. Hierbei berücksichtigte das BVerfG insbesondere, die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das Risiko von schweren Verläufen einer Masernerkrankung einerseits und die vergleichsweise harmlosen Nebenwirkungen einer Impfung andererseits. Zudem bleibe eine Betreuung ungeimpfter Kinder im selbstorganisierten privaten Bereich weiterhin möglich (RdNr. 146ff.). Auch eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes hat das BVerfG im Ergebnis abgelehnt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

VALA

Vanilla Latte

23.10.2023, 12:20:45

Ich verstehe nicht, wie das mit der Nachweispflicht bei den Kombipräparaten gemeint ist. Was macht es für einen Unterschied, ob da noch andere Wirkstoffe sind?

Nordisch

Nordisch

26.11.2023, 20:52:16

Die Fragen dazu habe ich auch nicht nachvollziehen können. Sind sie vielleicht unverständlich formuliert?

LEO

Leonie

5.7.2024, 09:25:29

Hatte die gleiche Frage und habe es mir so erklärt: Durch die Nachweispflicht soll gewährleistet werden, dass sich die Kinder impfen. 1. Dieses Impfen ist vorrangig durch ein „Einzelpräparat“ möglich. Die Eltern gehen also zum Arzt und impfen ihr Kind „nur“ gegen Masern. 2. § 8 II S.3 IfsG sieht aber vor, dass diese mittelbare Impfplicht auch dann besteht, wenn kein „Einzelpräparat“ verfügbar ist. Die Eltern haben also nicht die „Ausrede“, dass sie ihr Kind nicht impfen konnten, weil anstelle der Einzelpräparate nur noch Kombipräparate impfbar sind, bei denen aber neben Masern auch noch ein anderer Impfstoff enthalten ist. Im Endeffekt heisst das, die Eltern müssen gegen mehr impfen, als sie evtl. von vornherein nicht wollten bzw. über die mittelbare Masernimpflicht hinaus. Das BVerfG hat hierbei gesagt, dass man den S. 3 in zwei Weisen verstehen kann: Es gibt kein Einzelpräparat und nur noch Kombipräparate, Folge: (1) Eltern müssen ihre Kinder mit jedem Kombipräparat impfen, um die Nachweispflicht zu verwirklichen. Egal welcher Impfstoff noch zugemischt ist, es gibt keine „Ausreden“ (2) Eltern müssen ihre Kinder mit dem Kombipräparat impfen, um die Nachweispflicht zu verwirklichen. Hierbei sind aber nur solche Kombipräparate gemeint, die die typischen ansteckenden Kinderkrankheiten meinen (Röteln, Windpocken etc.). Gibt es solche Präparate nicht (zB nur Verfügbarkeit von Masern + Malaria oÄ), haben die Eltern die „Ausrede“, dass sie damit ihr Kind nicht impfen müssen. mE soll damit gewährleistet werden, dass den Eltern nicht ausufernd „noch eine Pflicht“ aufgedrückt wird und sie ihre Kinder in einem solchen Fall nicht auch gegen unvorhergesehene Krankheiten impfen müssen.

Johannes Nebe

Johannes Nebe

16.10.2024, 11:37:41

Der Punkt mit den Mehrfachimpfstoffen ist in der Tat kaum zu verstehen, wenn man sich nicht tiefer in die Materie einliest. Man könnte § 20 VIII 3 IfSG so verstehen, dass eine Impfung auch zuzumuten ist, wenn beliebige andere Impfstoffe im Mehrfachimpfstoff enthalten sind. Dann würde das Gesetz einer mittelbaren Impfpflicht mit zuvor noch nicht bezeichneten Impfstoffen Tür und Tor öffnen (Rn. 96). Die Norm würde dann das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verletzen (Rn. 95). Auf der Basis der Gesetzesbegründung argumentiert das BVerfG dafür, dass die Norm bei verfassungskonformer Auslegung nur auf die bereits seit Jahren ausschließlich verfügbaren Mehrfachimpfstoffe mit den Komponenten gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken ziele. Mit dieser Auslegung würde der Regelungsumfang der Norm eben nicht ausufern, und das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip bliebe unverletzt.

Nordisch

Nordisch

26.11.2023, 20:55:28

Ich kann mich ganz gut vorm labern bewahren, indem ich mir als Verhältnismäßigkeitsmaßstab § 4 III HmbSOG zur Hand nehme: Maßstab darf nicht zu einem Nachteil führen, der zum erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Dann geht die strukturierte Prüfung fast von selbst.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

17.2.2024, 15:56:06

Hallo, leider finde ich keine Norm, nach der das BVerfG die VBs von unterschiedlichen Beschwerdeführern (Eltern Kind) zusammen in einem Urteil prüfen kann. Gibt es eine solche? Das ist ja quasi eine subj Antragshäufung. Kann ich den Begriff nennen? Vielen Dank für eine Antwort!

Whale

Whale

26.8.2024, 11:14:32

Ich verstehe nicht ganz, inwiefern Kinder in ihrer körperliche Unversehrtheit verletzt sind, wenn sie noch gar nicht geimpft wurden. Das wäre dann ja vielleicht einen hypothetische oder mittelbare Verletzung oder so?


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